An den Rändern des Imperiums
In seiner kaukasischen Prosa tritt uns ein weniger bekannter Lew Tolstoi entgegen
Von Daniel Henseler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Kaukasus ist der wunde Unterleib Russlands. Als die Zaren gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Eroberung und allmählichen Eingliederung der Region ins Imperium begannen, war nicht abzusehen, dass auch noch über 200 Jahre später das Verhältnis zwischen dem Zentrum und der Peripherie ein spannungsbeladenes sein würde. Transkaukasien mit Georgien, Armenien und Aserbaidschan ist aus russischer Perspektive verlorengegangen. Und im Nordkaukasus, der sich nach wie vor im Bestand der Russischen Föderation befindet, herrscht alles andere als Ruhe. Dagestan gilt als einer der gefährlichsten Flecken Russlands. Und in Tschetschenien herrscht ein brutaler Autokrat, der in seiner kleinen Republik machen darf, was er will – solange er die russische Oberherrschaft nicht in Frage stellt. Manche Experten bezweifeln inzwischen offen, dass in Tschetschenien das russische Recht überhaupt noch uneingeschränkt angewendet wird.
Lew Tolstoi (1828–1910) stand als junger Mann ab 1851 für einige Zeit im Dienst der russischen Armee im Kaukasus. Warum er dieses Abenteuer eingegangen ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Wahrscheinlich ist aber er vor sich selbst geflohen, aus einem allgemeinen Ennui und der Unschlüssigkeit über die eigene Zukunft heraus. In jenen Jahren war die gebirgige Region noch nicht vollständig niedergeworfen: Erst 1859 sollte sich der letzte Anführer der Bergvölker, Imam Schamil, den russischen Truppen ergeben. Ab diesem Moment schien der Widerstand gebrochen: 1864 gilt gemeinhin als das Jahr, in dem der Kaukasusfeldzug zum Abschluss gelangte.
Bereits kurz nach seiner Ankunft im Kaukasus hat Lew Tolstoi begonnen, tagebuch- und skizzenartige Aufzeichnungen über seine Erlebnisse und Wahrnehmungen zu verfassen. Mit der Zeit entstanden daraus schließlich eine Reihe literarischer Texte. Es war eine gute Idee vom Suhrkamp Verlag und der Übersetzerin Rosemarie Tietze, Tolstois kaukasische Prosa in neuer deutscher Übertragung herauszugeben. Tolstoi hat freilich selbst nie ein Buch unter dem Titel Krieg im Kaukasus publiziert. Der Band versammelt ganz einfach jene fünf literarischen Texte des russischen Klassikers, deren Handlung hauptsächlich im Kaukasus angesiedelt ist. Sie wurden während eines Zeitraums von etwa 50 Jahren verfasst und sind von unterschiedlichem Charakter und unterschiedlicher Länge.
Eine Lektüre von Tolstois kaukasischer Prosa ermöglicht zweierlei: Die Leser können exemplarisch etwas über die komplexen und teils schwierigen Beziehungen zwischen Russland und dem Kaukasus erfahren. Der Blick zurück ins 19. Jahrhundert vermag dabei auch zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beizutragen. Zum anderen zeigt uns das Vorhaben einen Tolstoi jenseits der berühmten Romane wie Anna Karenina, Krieg und Frieden oder Auferstehung, der aber deswegen nicht weniger interessant ist. Im Gegenteil: Einige der kaukasischen Erzählungen gehören zweifelsohne zu den Höhepunkten von Tolstois literarischem Schaffen.
Nicht alle der fünf Texte sind bereits im Kaukasus entstanden. An der längeren Erzählung Die Kosaken arbeitete der Schriftsteller insgesamt mehr als zehn Jahre. Hadschi Murat erschien überhaupt erst posthum und darf als die letzte große Novelle Tolstois gelten. Der Überfall und Der Holzschlag sind skizzenhafte, kürzere Texte und unterscheiden sich schon dadurch deutlich von den anderen. Der Gefangene im Kaukasus wiederum wurde für eine Schulfibel geschrieben: Die Sätze sind hier kürzer, erzählt wird oft im Präsens, szenenhaft und staccatoartig. Die Handlung wird wie in einem Bühnenstück stetig vorangetrieben.
In stilistischer Hinsicht weisen die Erzählungen auch manche Gemeinsamkeit auf: Sie sind anschaulich, konkret, präzise und nüchtern formuliert. Übermäßige Romantisierung ist Tolstoi fremd. Dies trifft sowohl auf die Figurenzeichnung zu wie auch auf die Schilderung der Umgebung, der Natur. Tolstoi interessiert sich dabei weniger für das Kampfgeschehen an sich, als für den Menschen, den die Umstände manchmal eher zufällig mitten in einen Krieg hineingestellt haben. Anders als einige seiner Vorgänger verklärt Tolstoi nicht mehr den Heroismus der russischen Generäle, sondern konzentriert sich auf die einfachen Soldaten und deren Wahrnehmung des Kriegs. Zugleich lässt er auch den Einheimischen Gerechtigkeit widerfahren, indem er bestrebt ist, das Menschliche in ihnen zu würdigen. Er betrachtet die kaukasischen Völker nicht als Barbaren, sondern erkennt ihre Kultur und Lebensweise an.
Dies lässt sich beispielhaft anhand der Novelle Hadschi Murat aufzeigen. In deren Zentrum steht der Stellvertreter Schamils. Die beiden haben sich überworfen: Hadschi Murat will sich auf die Seite der Russen schlagen, denn seine Familie befindet sich bei Imam Schamil in Geiselhaft. Er erhofft sich von der russischen Armee Unterstützung bei der Befreiung seiner Angehörigen. Die russischen Generäle wiederum freuen sich zwar über diesen Propagandasieg, wissen aber nicht so recht, was sie mit dem unverhofften Geschenk anfangen sollen: Das Misstrauen gegenüber Hadschi Murat überwiegt. Letztlich fällt der Überläufer zwischen Stuhl und Bank. All dies ist im Übrigen historisch verbürgt. Tolstoi ist sichtlich bemüht, der Gestalt Hadschi Murats ihre Würde zu belassen: Er schildert ihn als starken und edelmütigen Charakter, dem es in erster Linie um das Wohl seiner Familie geht. In seiner Novelle vergleicht er ihn mit einer hartnäckigen Distel, die sich nicht zertreten lässt.
Von anderer Art ist die Erzählung Die Kosaken, die ein ethnografisches, fast episch zu nennendes Panorama einer Kosakensiedlung im Kaukasusvorland entwirft. Dmitri Olenin, ein junger Moskauer, hat sich dort niedergelassen, nachdem er von seinen Schuldnern geflohen ist. Tolstoi spielt damit auf einen alten Topos an, den vor ihm Alexander Puschkin und Michail Lermontow in die russische Literatur eingeführt hatten: der Kaukasus als Sehnsuchtsort und als ein Hort der Freiheit. Mit Olenins Augen lernen wir das Leben der Kosaken aus nächster Nähe kennen. Bald spannt sich ein Liebesdreieck zwischen Olenin, der stolzen Kosakin Marjana und deren keckem Bräutigam Lukaschka auf. Mit feiner Beobachtungsgabe registriert Tolstoi auch das Besondere an den Kosaken. In ihrer Kleidung haben sie sich den Bergvölkern angeglichen. Ihre altgläubige Religion, der Freiheitsdrang, ihre Eigenständigkeit und die egalitäre Gesellschaftsordnung unterscheiden sie spürbar von den Russen. Letzteres ist im Hinblick auf die Gegenwart nicht ohne Ironie: Manche Patrioten glauben nämlich heute, in den Kosaken das eigentliche Wesen des „Russentums“ finden zu können. Tolstoi würde sich über so eine Ansicht nur wundern!
Der Band Krieg im Kaukasus enthält einen umfangreichen und instruktiven Anhang, darunter ein kundiges und konzises Nachwort der Übersetzerin zu den historischen und biografischen Hintergründen sowie ein kaukasisches Glossar. Ausdrücklich zu erwähnen ist auch die überaus gediegene Gestaltung mit zahlreichen Illustrationen. Quasi nebenbei zeigen die zeitgenössischen Darstellungen der kaukasischen Welt und ihrer Bewohner, wie auch die Malerei in Russland (und anderswo) von einer Faszination für diese Region erfasst worden ist.
Zu überzeugen vermag aber ganz besonders die deutsche Übertragung durch Rosemarie Tietze. In jeder Zeile spürt man die Abgewogenheit und Präzision ihrer Arbeit. Der Übersetzerin ist es ganz wesentlich zu verdanken, dass man die stilistische Bandbreite der einzelnen Texte auch noch im Deutschen nachvollziehen kann. Die Übersetzung vermag zudem das 19. Jahrhundert heraufzubeschwören, ohne dabei antiquiert zu wirken. Man darf annehmen, dass die militärische Terminologie eine außerordentliche Herausforderung dargestellt haben muss. Rosemarie Tietze hat diese bravurös gemeistert.
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