„Mensch werden“ – oder: wir vererben Kultur

Michael Tomasello entwirft eine Theorie der Ontogenese des menschlichen Gattungswesens

Von Walter SchindlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Schindler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mensch werden ist der Titel einer Studie, die Tomasello als Ergebnis seiner mehrjährigen Forschungen am Max-Planck-Institut für kognitive Anthropologie vorstellt. Was will er zeigen? Mensch werden soll die Entwicklung des Menschen erklären als den Evolutionsprozess, aus dem das Einzigartige dieses Gattungswesens, die menschliche Kultur, hervorgegangen ist. Dieser evolutionsbiologische Blick auf die von Tomasello immer wieder hervorgehobene Einzigartigkeit des Menschwerdens verändert die traditionelle Ansicht, die Kultur als etwas versteht, „das von der Biologie und Evolution getrennt ist“.

Die Ansicht der Einzigartigkeit des Menschen in der Naturgeschichte gehört ja zum ältesten Bestand der Kultur-Geschichte – es ist das Selbstbild, beginnend mit dem Menschen als „Ebenbild des Schöpfergottes“ und mit der Ansicht vom Menschen als „animal rationale“ in der abendländischen Philosophiegeschichte. Der moderne Gedanke einer Natur-Geschichte des Menschen ist schon vor Darwin z.B. von Herder und Kant gefasst worden. Der Mensch ist ein Naturprodukt, ein mit Vernunftfähigkeit ausgestattetes Tier, das aus sich ein vernünftiges Tier, ein animal rationale, machen kann. Das Menschwerden erklärt Kant dann aber als Austritt des Menschen aus der Naturgeschichte: die Kultivierung der technischen, praktischen und moralischen Anlagen des Vernunftwesens geschieht durch Übung und Erziehung. Eine Naturgeschichte, die aus dem aufrechten Gang des Menschen und der Bildung seines Kopfes die Entwicklung des Vernunftvermögens erklären wollte, „würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, dass die Vernunft vor ihnen zurückbebt“, so Kant in seiner Herder-Rezension der Ideen zur Geschichte der Menschheit.

Diese Erinnerung an die „ungeheure Idee“ einer Naturgeschichte des Vernunftwesens Mensch soll die Tragweite des Unternehmens beleuchten. Tomasellos Theorie der Ontogenese will die Kulturfähigkeit des Menschen evolutionstheoretisch erklären und zeigen, dass sich die einzigartigen kognitiven und sozialen Fähigkeiten in der individuellen Entwicklung entfalten – und zwar in der Spanne vom Säuglings- bis zum Kindesalter von etwa 6/7 Jahren, „dem Eintritt ins Alter der Vernunft. Jene naturgeschichtliche Untersuchung des Menschwerdens soll also eine Phasen-Entwicklung der soziokulturellen Fähigkeiten aufzeigen, die den Menschen in besonderer Weise gegenüber allen anderen Lebewesen auszeichnet. Tomasellos These ist: Das Menschwerden ist naturgeschichtlich zu verstehen als Ergebnis eines Prozesses „im Ausgang von den Menschenaffen“; es ist ein neues Plateau der Evolution.

Kann diese neue und einzigartige Entwicklung im Rahmen der Evolutionstheorie, d.h. durch Anpassung und Selektion erklärt werden? Tomasello antwortet: „Evolutionäre Neuigkeiten entspringen nicht der natürlichen Selektion, sondern stammen vielmehr aus der anderen Hauptdimension des Evolutionsprozesses: der erblichen Variation“. Neue Merkmale entstehen durch genetische Mutation und Rekombination. Daraus folgert er, dass die Bildung neuer Merkmale im Austausch mit der Umwelt durch ontogenetische Prozesse konstruktiv kontrolliert wird. Diese Klarstellung präzisiert die Aufgabe, die er mit seiner Theorie der Ontogenese unternimmt: Seine evolutionsbiologische Erklärung der kognitiven und sozialen Fähigkeiten zielt auf die Erbschaft der einzigartigen menschlichen Fähigkeit, Kultur erwerben und tradieren zu können. 

Was heißt Kultur erben? Tomasello gibt ein treffliches tierisches Analogon: Ein Fisch erbt nicht nur Flossen, sondern auch das Wasser. Beispielsweise erbt der Kabeljau die Nordsee, der Dorsch die Ostsee. Und der Mensch erbt nicht nur ein Gehirn und den Zwischenkieferknochen, sondern er erbt kulturelle Umwelten, in denen – und durch sie kontrolliert – die Entwicklung und Reifung der individuellen Fähigkeiten zu technischen, sozialen und moralischen Fertigkeiten abläuft, kurzgefasst: Menschen erben humanökologische Kontexte. Aus Tomasellos ontogenetischer Erklärung dieser Erbschaft folgt, dass die individuelle Entwicklung als Anpassungs- und Selektionsprozess an die je gegebenen Lebensbedingungen der kulturellen Umwelten interpretiert werden kann. Und sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die naturgeschichtliche Dimension der Entwicklung des Kulturwesens Mensch. Die Ontogenese des Menschen soll – das ist Tomasellos Arbeitshypothese – im Ausgang von der Ontogenese der Menschenaffen erklärt werden.

Diese Vorklärungen skizzieren den theoretischen Rahmen der Untersuchungen, die Tomasello in den beiden Hauptteilen des Buches durchführt: „Die Ontogenese der einzigartigen menschlichen Kognition“ und „Die Ontogenese der einzigartigen menschlichen Sozialität“ werden dargestellt als Entwicklungsgeschichten des Kindesalters. Mit explizitem Bezug auf die entwicklungspsychologischen Studien von Vygotzkij unterscheidet Tomasello vier Formen sozialer Kognition und vier Formen soziokultureller Tätigkeiten. Die kognitiven Formen prägen die Fähigkeiten gemeinsamer perspektivischer Aufmerksamkeit; die Fähigkeiten kooperativer und symbolischer Kommunikation; sie formen kulturelles Lernen und kooperatives Denken. Die Formen der Sozialität befähigen zur Zusammenarbeit, zum empathischen, fairen Handeln (Prosozialität), sowie dazu, soziale Normen und moralische Identität zu entwickeln. Die Formen der Kognition und der Sozialität bilden die „menschliche Psychologie“, i.e. den Entwicklungsgang des Kindes zur vernünftigen und verantwortlichen Person. 

Diese menschliche Psychologie ist bekannt aus vielen entwicklungspsychologischen Studien der frühkindlichen Entwicklung. Das Neue ist, diese Entwicklung naturgeschichtlich als einzigartig im Ausgang vom Menschenaffen verstehen zu können. Und das führt Tomasello nun für jedes der acht Entwicklungsmomente vor. Ausgehend von der Kommunikation durch intentionale Zeigegesten, die auf gegenwärtige Situationen z.B. bei der Nahrungssuche der Menschenaffen gerichtet sind, wird die Kommunikation bei Menschen zum symbolischen kooperativen Zeigesystem, das sich gerade auch auf nicht gegenwärtige Situationen richtet. Die symbolische Kommunikation fordert die Beteiligten zur Interpretation auf, setzt also die kognitive Fähigkeit voraus, gemeinsam auf eine Situation ausgerichtet zu sein, diese interpretieren und daraufhin gemeinsam handeln zu können. Tomasellos ontogenetische Interpretation und Beschreibung der Kommunikation kann also den Wandel und Entwicklungsabstand der gestischen Fähigkeiten der Menschenaffen zu den Fähigkeiten der symbolischen Kommunikation und sprachlichen Interaktion der Menschen erklären: Symbolische Kommunikation setzt die Fähigkeit des gestischen Zeigens voraus. Sie kommt im Zeigecharakter der Sprache zum Vorschein. Sprachliche Kommunikation ist die einzigartige menschliche Form „geteilter Intentionalität“, sich in einer Gruppe zu verständigen.

Tomasellos Erklärung der menschlichen Sozialität, gestützt auf eine Fülle von Beobachtungen an Kleinkindern und Experimenten mit Menschenaffen, eröffnet analog im Ausgang von Menschenaffen eine neue Ansicht der Entwicklung der sozialen Fähigkeiten des Menschen. Wie reifen die Fähigkeiten in der kindlichen Entwicklung, soziale Normen zu verstehen und zu praktizieren? Tomasello charakterisiert soziale Normen als „kollektive Erwartungen“ an das individuelle Verhalten, „von den Individuen wird normativ erwartet, sie zu befolgen und deren Befolgung bei anderen durchzusetzen.“ Sie werden im frühen Kindesalter zunächst als individuelle Direktiven erfahren. Erst im Alter von drei Jahren werden sie als soziale Maßgaben verstanden, deren Befolgung dann gegenüber anderen – auch gegenüber Erwachsenen – eingefordert wird: „[D]as tut man nicht!!“. Der entscheidende Schritt ist das Wir-Verständnis, das in dem „man tut das nicht“ zum Ausdruck kommt und die Zugehörigkeit und Orientierung an der eigenen Kulturgruppe verdeutlicht. Mit fünf Jahren erfinden Kinder dann eigene „Spielregeln“ mit Gleichaltrigen, deren Geltung vereinbart wird – wer sie im Spiel nicht einhält, scheidet aus dem Spiel aus. Diese Regelkompetenz ist mit dem siebten Lebensjahr soweit ausgebildet, dass das Kind im Sinne der Kulturgruppe moralisch urteils- und entscheidungsfähig ist.

Bei wildlebenden Menschenaffen können normativ geprägte Formen des Zusammenlebens beobachtet werden, die das Verhalten der Individuen in der Gruppe und zur Gruppe regeln. Eine für das Zusammenleben fundamentale normative Bedeutung hat die Unterscheidung Eigengruppe – Fremdgruppe. Sie ist hinsichtlich der territorialen Sicherung des Lebensraumes ein prägendes Moment des Verhaltens. Der Vertrautheit mit den verwandten Mitgliedern der eigenen Gruppe korrespondiert die Furcht vor fremden Individuen und das aggressive Kampf- und Bestrafungsverhalten gegenüber Fremdgruppenmitgliedern; an ihnen wird Vergeltung geübt. 

Das Sozialleben der eigenen Gruppe ist normativ geprägt von Konkurrenz um Ressourcen, um Nahrung und Sexualpartner. Soziale Selektion wildlebender Menschenaffen findet statt als Dominanzverhalten. Durch Droh- und Einschüchterungsgebärden werden Macht und Status in der Gruppe demonstriert, ihre hierarchische Ordnung erzeugt und aufrechterhalten. Die normative Bewertung, der Status, bestimmt auch die Sozialpartnerwahl. Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass bei der Gruppenjagd auf kleine Affen als Beute keine Selektion von Koalitionspartnern stattfindet. Offenbar ist die Gruppenjagd kein kooperatives Handeln; wenn sie die Beute einkreisen, jagen sie als Konkurrenten. Das Verhalten bei der Gruppenjagd interpretiert Tomasello als „parallel handeln“. Jeder Affe verfolgt sein Beuteinteresse, die anderen werden als soziale Instrumente für das Erreichen des eigenen Ziels gebraucht. Die Beutejagd ist ein Gruppenverhalten im Ich-Modus. 

Andererseits zeigen wildlebende Affen „prosoziales“ Verhalten beim Lausen, bei gegenseitiger Hilfestellung und der Bildung von Koalitionen unter Artgenossen und sogar beim Teilen von Nahrung. Jene reziproken Verhaltensmuster beruhen auf der emotionalen Bindung der Individuen zu denen, die ihnen helfen und sie unterstützen. Ihr Verhalten ist Ausdruck individuellen Mitgefühls und beruht nicht auf „Vereinbarung“. Männlichen Schimpansen dient dies auch dazu, im Konkurrenzkampf ihren Dominanzstatus und ihr Territorium zu verteidigen. Also geschieht auch dieses Sozialverhalten im Ich-Modus.  

Das skizzierte Werden und Reifen, soziale Normen verstehen und praktizieren zu lernen, ist zentral für die ontogenetische Erklärung der Sozialität des Menschen. Die vier Formen der Sozialität – Zusammenarbeit, Prosozialität, soziale Normen und moralische Identität – versteht Tomasello als „Entwicklungspfade des Menschwerdens“: Sie formen die Entwicklung des Kindes zur vernünftigen, moralischen Person. Im Ausgang von den Formen der Sozialität der Menschenaffen gelingt es ihm, die gesuchte Einzigartigkeit des Menschen auf diesen vier Entwicklungspfaden zu entdecken. 

Die zentrale Perspektive der Sozialität der Menschenaffen ist der Ich-Modus, der ihr Verhalten und Handeln bestimmt. Gibt es analog eine Zentralperspektive der sozialen Kognition und des sozialen Handelns? Für jeden der acht Entwicklungspfade des Menschwerdens zeigen Tomasellos Untersuchungen, dass die entscheidende Perspektive der „Wir-Modus“ ist. Die Entwicklung der kognitiven und der praktischen Fähigkeiten der Menschen ist ausgerichtet auf den Erwerb der Kompetenzen, kooperativ, koordiniert und verantwortlich handeln zu können. Die Ausrichtung auf das Wir gibt dem „Sozialen“ überhaupt erst Sinn und Bedeutung: Sozialität bedeutet, auf der Ebene sozio-kultureller Einrichtungen im Wir-Modus denken und handeln, d.h. mit anderen eine Welt teilen zu können. Im Unterschied zu den Menschenaffen, deren Verhalten und Handeln im Ich-Modus befangen bleibt, handeln Menschen auf zwei Ebenen: im Ich-Modus und im Wir-Modus. 

Die Erklärung der menschlichen Sozialität im Ausgang von Menschenaffen kennzeichnet also den Entwicklungspfad, aus dem Ich-Modus heraustreten und im Wir-Modus kommunikativ, kooperativ und moralisch, also vernünftig handeln zu können. Daraus folgt auch: Die Fähigkeiten humaner Sozialität sind ontogenetisch verbunden mit der Ich-Modus-Sozialität der Menschenaffen. Und diese naturgeschichtliche Erbschaft ist ja auch unübersehbar; Dominanzverhalten, Hierarchiebildung, sowie die Verteidigung von Status und Eigentum sind einige Belege dafür.  

Aus Tomasellos ontogenetischer Erklärung dieser Erbschaft folgt dann weiter, dass die individuellen Entwicklungen der sozialen Kognition und der Sozialität, als Anpassungs- und Selektionsprozesse verstanden, das Potential für kulturelle Variation und Transformation erzeugen. Kulturelles Lernen ist selektive Anpassung, d.h. die individuellen Bildungsprozesse geschehen in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere mit den normativen Erwartungen der kulturellen Umwelt. Die ontogenetische Erklärung des Menschwerdens ist ein Weg, die Erfindung des Neuen in der sozio-kulturellen Entwicklung zu verstehen; sie erklärt Kulturwandel, der dann für die nachfolgenden Generationen die spezifischen Umweltbedingungen ihres kulturellen Lernens hervorbringt und die kulturellen Fähigkeiten der sozialen Kognition und der Sozialität formt. Werden also schon kulturell geprägte Formen dieser Fähigkeiten entwickelt und „vererbt“?   

Dieses Neue ist ein Moment, das für ein evolutionstheoretisches Verständnis des Menschwerdens grundlegende Bedeutung haben sollte, wenn die einzigartige Entwicklung des Kulturwesens Mensch in der Geschichte der Natur erklärt werden soll. Genau hier liegt der Anspruch Tomasellos, eine Theorie der Ontogenese zu entwickeln. 

Seine Untersuchungen konzentrieren sich auf die Ontogenese der sozialen Kognition und der Sozialität im Kindesalter, sie beschreiben die Entwicklungsphasen der sozialen Fähigkeiten zum vernünftigen und verantwortlichen Menschenkind. Erklärt diese Entwicklungsgeschichte „kulturelle Erbschaft“? Der von Tomasello hier nicht ausgeführte Gedanke, das Werden der sozialen Kompetenzen im Kontext sich wandelnder kultureller Umwelten zu verstehen, würde die Entstehung des Neuen in der Ontogenese verständlich machen und zeigen, dass die Formen der sozialen Kognition und der Sozialität nicht „gegebene universelle Dispositionen“, sondern entwicklungsgeschichtlich geprägte Formen der menschlichen Ontogenese sind. Die so als Umformungsprozess verstandene Ontogenese erklärt Kulturerwerb. Ist Tomasellos Theorie der Ontogenese somit eine epigenetische Erklärung der kulturellen Entwicklung? 

Als Vorsatz zu seinen Untersuchungen zitiert er E. O. Wilson: „(Es sind) die epigenetischen Regeln, welche Gene mit Kultur verknüpfen: Die Suche nach der menschlichen Natur ist gleichsam die Archäologie der epigenetischen Regeln“. Mit diesem Zitat will Tomasello offensichtlich Weg und Ziel seiner Untersuchungen der menschlichen Ontogenese anzeigen als archäologische Suche nach der Natur des Kulturwesens Mensch. Seine Ontogenese ist eine Archäologie der Entwicklungspfade, die Menschen befähigen, ein kulturelles Erbe antreten zu können. Sind die Entwicklungspfade der sozialen Kognition und der Sozialität die gesuchten epigenetischen Regeln? Wenn sie die Wege sind, die „im Ausgang von Menschenaffen“ zum Kulturwesen führen, dann kann Tomasellos Theorie der Ontogenese uns auch über unser archaisches Erbe aufklären, also auch darüber, „in kontinuierlicher Gefahr zu sein, in die alte Rohigkeit zurückzufallen“, so Kant in seiner Anthropologie. Wer von Fragen dieser Art bewegt werden kann, das Menschwerden zu erkunden, mache sich mit Tomasello auf den Weg!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Tomasello: Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese.
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
542 Seiten, 34,- EUR.
ISBN-13: 9783518587508

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch