Sehen, sammeln, katalogisieren

Hans von Trotha folgt in „Pollaks Arm“ dem Kunsthändler Ludwig Pollak auf seiner Erinnerungsreise

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Freude am schönen Buch bedient traditionell der Wagenbach Verlag mit seiner SALTO-Reihe aus roten, hochformatigen Leinenbändchen. Auch inhaltlich darf man etwas Besonderes, das heißt vor allem etwas zum Nachdenken Anregendes, erwarten, wenn man diese schlanken Bücher zur Hand nimmt. Mit Pollaks Arm veröffentlicht der Schriftsteller, Journalist, Kurator und Spezialist für Gartenkunst Hans von Trotha sein zweites Buch in dieser Reihe. Zuvor hatte er sich in essayistischer Form mit dem englischen Dichter Laurence Sterne, dessen Roman Tristram Shandy und der literarischen Strömung der Empfindsamkeit beschäftigt. Pollaks Arm ist nun ein auf Quellen gestützter Roman über den jüdischen Antiquitätenhändler Ludwig Pollak, geboren 1868 in Prag, ermordet 1943 in Auschwitz, der in Rom dem deutschen Studienrat K. sein Leben erzählt, bevor die SS ihn und mehr als tausend Juden aus dem Ghetto verhaftet. 

K. war beauftragt worden, Pollak abzuholen, um ihn im Vatikan in Sicherheit zu bringen. In der Rahmenhandlung berichtet er am 17. Oktober 1943 einem Monsignore F. vom Scheitern seines Versuchs, den betagten Kunsthändler zur Flucht aus seiner Wohnung zu bewegen. Dem war es wichtiger, Rechenschaft über sein Leben abzulegen, als sich und seine Familie zu retten. Seine Erzählung, die nicht chronologisch, sondern assoziativ verläuft, ist nicht nur ein Bericht über Begegnungen mit illustren Persönlichkeiten, wie Richard Strauss, Gerhart Hauptmann, Emil Ludwig und Wilhelm von Bode, sowie über spektakuläre Funde bedeutender Kunstgegenstände, sondern auch eine Klage über die Irrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ein Abgesang auf den Bildungsbürger. 

Für kunsthistorisch Interessierte ist das Buch eine Fundgrube. Der Titel verweist auf Pollaks wichtigste Entdeckung, den verlorenen Arm Laokoons, der in der Rekonstruktion gerade nach oben wies, tatsächlich aber zum Kopf gerichtet abgeknickt ist. Pollaks Reflexionen darüber, wie sich seine Entdeckung auf die Interpretation der berühmten Skulptur auswirken müsse, seine kritischen Überlegungen zu Winckelmanns Zuschreibung „edle[r] Einfalt und stille[r] Größe“ und die nur angedeutete Ausweitung dieser Reflexionen auf unser Bild von der Antike sind ein Höhepunkt des Romans. Die Frage, weshalb diese umfassende Umdeutung nicht stattgefunden hat, beantwortet Studienrat K. gegenüber dem Monsignore so: „Und wäre das womöglich anders, hätte den Arm nicht ein Händler gefunden, sondern ein Professor und nicht ein Jude.“ Zum Wort „Professor“ dürfen wir uns die damals gebräuchliche Kategorie „arisch“ hinzudenken. 

Pollak spricht über die beiden großen Kränkungen, von denen er in seinem Leben betroffen war: die Geringschätzung der Arbeit des Katalogisierers seitens der Wissenschaft und die immer radikaler werdende Verachtung der Juden und damit ihrer Leistungen. Dem Katalogisieren geht das Sammeln voraus, das Pollaks große Leidenschaft war. Er konnte es mit großem Erfolg betreiben, weil er den Blick für die seltenen und außergewöhnlichen Dinge besaß. Für K. ist er „ein Virtuose des Sehens“. So fand er nicht nur Laokoons Arm, sondern auch ein gestohlenes christliches Begräbnisglas, das er dem Papst zurückgeben konnte. Der Vatikan verlieh ihm dafür eine Goldmedaille für besondere Verdienste. 

Pollak kann also durchaus auf Erfolge zurückblicken, hält sich und seine Zunft aber für zu wenig anerkannt: 

„Die Kathederwissenschaft, fuhr er fort, zieht es vor, ein elftes Buch über Phidias oder Praxiteles zu schreiben unter Benutzung der vorhandenen zehn, da ist dann nur der Titel neu. Ein Katalog ist etwas ganz anderes. Das ist echte Forschung, etwas Neues, Eigenes. Dazu braucht es viel Geduld, tiefes Wissen und eine große Liebe zum Objekt.“

Einem modernen Wissenschaftsverständnis ist zumindest der zweite Teil dieser Aussage nicht fremd. Ob es sich um eine polemische Spitze des Autors gegen bestimmte Praktiken des akademischen Forschens und Publizierens handelt, die er seiner Figur in den Mund legt, oder ob es ein überlieferter Gedanke Pollaks ist, lässt sich nicht feststellen, ist aber auch nicht wichtig. Trotha nennt zwar im Anhang seine Quellen, aus denen er auch wörtlich zitiert, charakterisiert aber seinen Text als „fiktional“ und bestätigt damit noch einmal die Gattungsbezeichnung „Roman“. 

Kulturhistorisch umspannt der Roman eine Zeitspanne von der Antike über die Renaissance und die Klassik bis zur Gegenwart der 1940er Jahre. Sein Bezugspunkt aus der Antike ist Vergils Aeneis, in der Laokoon die Pläne der Götter zu durchkreuzen versucht, indem er mit einem Speerwurf davor warnt, das Pferd der Griechen in die Stadt Troja hineinzulassen. Zwar kann er den Fall Trojas nicht verhindern, aber er wird trotzdem für sein Verhalten bestraft, indem die Schlangen ihn und seine Söhne töten.

Pollak hält diese Version für falsch, ebenso wie die Interpretation Winckelmanns und sogar auch die des von ihm hoch verehrten Goethe, den er „den Weisesten aller“ nennt. Die Skulptur, die er nach dem Fund des Arms neu und anders deutet als seine Vorgänger, wurde in der Renaissance wiedergefunden, ein Vorgang, den der französische Maler Hubert Robert auf einem Gemälde dargestellt hat. Pollak besitzt eine Kopie dieses Gemäldes, die er K. nach seiner Lebensbeichte mitgibt. Im selben Paket befindet sich auch eine Kopie von El Grecos verstörender Darstellung von Laokoons Untergang, die der Monsignore als „Unbild“ bezeichnet. „Das Ende. Chaos, Unsicherheit“, das sei alles, was bleibe. 

Diese Charakterisierung passt auch zu Pollaks Wahrnehmung der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart, in der ihm ein Weiterleben offenbar nicht mehr erstrebenswert erscheint. Er erinnert sich an seine Jugend im alten Prag, wo Deutsche und Tschechen friedlich zusammenlebten. Die überwiegend deutschsprachigen Juden durften das Ghetto verlassen und genossen vorübergehend hohes Ansehen als Geschäftsleute und in anderen Berufen. Doch dann gewann das Tschechische die Oberhand und die nationalen Spannungen nahmen zu. Auf den Spuren Goethes begab sich Pollak nach Rom, etablierte sich als Sammler und Kunstsachverständiger und erhielt Auszeichnungen vom italienischen König, vom Papst, vom russischen Zaren und vom Kaiser in Wien. Eine Wende deutete sich für ihn schon mit der Dreyfus-Affäre an, die er „als Schlag ins Gesicht aller Juden in Europa“ auffasste.

Die von Pollak erzählte Verfallsgeschichte hat viele Facetten. Im Ersten Weltkrieg musste er Rom verlassen und in Wien die Uniform anziehen, die ihm wie eine Verkleidung vorkam. Zurück in der Ewigen Stadt erlebte er deren Umgestaltung durch Mussolini: Erst fiel der Palazzo, in dem er und seine Familie wohnten, den Baumaßnahmen des Diktators zum Opfer. Erhalten blieb nur ein Saal mit alten Fresken, der in einen Neubau integriert wurde. Dann, 1938, wurde das Museo Barracco, das Pollak viele Jahre geleitet hatte, abgerissen. Die Kunstsammlung des russischen Botschafters Nelidow, die er katalogisiert hatte, wurde von der Sowjetregierung aufgelöst, und Einzelstücke wurden versteigert. Für Pollak sind das lauter barbarische Akte. Mit der Radikalisierung des Antisemitismus auch in Italien, mit Intrigen und Verleumdungen gegen ihn, ähnlich wie im Fall Dreyfus, verringerten sich die Arbeitsmöglichkeiten Pollaks, der nur noch selten zu Symposien und Kongressen eingeladen wurde. 

End- und Tiefpunkt dieser wechselvollen Geschichte ist die Übernahme Roms durch deutsche Truppen, SS und Gestapo. Es ist dieselbe „offene Stadt“, von der Roberto Rossellini in seinem berühmten Film von 1945 erzählt – und doch ist es eine ganz andere. Im Roman sagt Pollak: „Rom ist nicht einfach eine Stadt, Rom ist eine Idee, ein Emblem für das Große.“ Rossellini zeigt in einprägsamen Bildern das Rom der einfachen Leute, der Kinder und der Widerstandskämpfer. Für Pollak, dessen Leben sich in Palazzi abspielte, ist Rom vor allem die Stadt der Kunst. Als er deren Niedergang für entschieden hält, weil Hitler, wie andere vor ihm, als Neugründer Roms in die Geschichte eingehen will, ist für Pollak sein Leben, ebenso wie sein Lebenswerk, ans Ende gekommen. Vom Abtransport der Juden berichtet Trotha in dürren Worten auf einer knappen Seite. Die in einem Brief dokumentierte Intervention eines der letzten Freunde der Familie, des Professors Nogara, zugunsten der Familie Pollak bleibt erfolglos. 

Der konzentriert erzählte, sehr gehaltvolle Roman verdient es, zweimal gelesen zu werden. Er ist ein Beitrag zur Antikenrezeption am Beispiel der überaus einflussreichen Laokoon-Plastik sowie zur wechselvollen Geschichte des Judentums seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Katastrophe in den 1940er Jahren. Darüber hinaus schreibt Hans von Trotha, durch die Rede seiner Figur Ludwig Pollak immer wieder anknüpfend an Goethe, den Mythos der Stadt Rom fort, der sich in dem Satz vom 1. November 1786 aus der Italienischen Reise kristallisiert: „Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!“

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Hans von Trotha: Pollaks Arm.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021.
144 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783803113597

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