Trumps Weg zur Lyrik
Im Bestreben, gegen Einwanderer zu mobilisieren, nutzt und verformt Donald Trump auf abstruse Weise den Text eines Bürgerrechtlers
Von Jonas Heß
Dass Lyrik politisch motiviert und interpretiert wird, ist und war keine Seltenheit. Ob Protestlieder – auch Songtexte lassen sich als lyrische Texte verstehen – oder politisch engagierte Lyrik, Beispiele finden sich nicht nur im letzten Jahrhundert in Deutschland, etwa im Kontext der 68er-Bewegung, sondern schon davor und auch in Lateinamerika, den Staaten des Warschauer Pakts und vielen mehr. Zur Rezeption und Verbreitung gehörte dabei auch stets das Rezitieren der kompakten Texte. Dass und wie sich ausgerechnet Donald Trump als amtierender Präsident der USA zu dieser Rezipientenrunde gesellt, erscheint jedoch mit Blick auf seine bisherige Amtszeit und sein Verhältnis zur Literatur so überraschend wie verstörend.
Anlass seiner Rezitation war eine Rede als Gast bei der jährlichen Conservative Political Action Conference (CPAC) am vergangenen Freitag (23.02.18), einer Zusammenkunft konservativer Aktivisten und Politiker, die unter anderem von der Waffenlobby NRA gesponsert wird. Es war nicht das erste Mal, dass Trump den lyrischen Text The Snake (vollständiger Text s.u.) – einen Songtext, der freilich nicht aus seiner Feder stammt – rezitierte. Bereits während des Wahlkampfs 2016 hatte er das „Gedicht“, wie er es gelegentlich stolz ankündigte, bei verschiedenen Auftritten zum Besten gegeben.
Der Text handelt von einer mitfühlenden, „zarten“ Frau, die auf dem Weg zur Arbeit eine halb erfrorene Schlange findet, die sie schnell in ihr Haus zum Kamin mit „Honig und Milch“ bringt, um sie zu retten. Als die Frau abends heimkehrt, geht es der Schlange wieder besser, sie bittet die Frau aber dennoch, wie schon zuvor, sie „hineinzulassen“ („Take me in oh tender woman“), woraufhin die Frau die Schlange küsst und umarmt. Nun beißt die giftige Schlange ihre Retterin und als diese, ihren baldigen Tod erkennend, nach dem Grund fragt, meint die Schlange nur, die Frau habe doch sehr gut gewusst, dass es sich bei ihr um eine Schlange handle.
Nun mag die intendierte Interpretation eines solchen Texts, rezitiert von Donald Trump im Jahre 2018, nicht allzu schwer zu erschließen sein. Doch Trump, subtilen Äußerungen und literarischen Feinheiten und Mehrdeutigkeiten gegenüber eher immun, weist in seiner Rede gar mehrfach darauf hin, in welchem Kontext der Text zu verstehen sei, bevor er überhaupt beginnt ihn vorzulesen. Gleichsam als Titel stellt er diesen vor seine Lesung: Immigration.
Vor diesem Hintergrund scheint eine Deutung so simpel wie widerwärtig. Scheinbar schutzsuchende Migranten, Schlangen gleich, werden von einem zarten und mitfühlenden (bio-amerikanischen) Volk in sein sicheres und warmes Haus der Nation gerettet. Doch statt für die warmherzige Errettung aus der erbarmungslosen Kälte der Natur des Außer-US-amerikanischen, der eigentlichen Heimat der Migranten, auch nur zu danken, wenden sich die egoistischen Migranten, versorgt mit der Milch und dem Honig sozialer Leistungen gegen die Retterin, töten sie und übernehmen ihr Haus. Eine parabelhafte Geschichte, beschwichtigend ruhig präsentiert in gleichmäßig reimendem Duktus, mit wiederkehrendem Refrain.
Brisanz erhält der neu verortete Text dabei nicht nur durch die „Lehre“ – die zwischen den Trump’schen Zeilen geforderte Konsequenz, Migranten nicht einzulassen, also außerhalb der Grenzen erfrieren zu lassen –, sondern auch durch die überkommene Bildlichkeit ohnehin problematischer Konzepte. Die Nation als gegenüber seiner Umwelt abgeschlossenes, homogenes Gebäude; das Volk als „zarte“ Frau, die (von wem eigentlich?) vor ihren eigenen Fehlern beschützt werden muss, welche sie jedoch – ach, wie naiv – allein aufgrund ihres blauäugigen und gar verhängnisvollen Mitgefühls begeht. Dass der Refrain als zentrales, ständig wiederkehrendes Element zudem seine drei von dem Reptil gesprochenen Verse jedes Mal mit „take me in“ beginnen lässt, insbesondere selbst nachdem die Schlange bereits im Haus ist, verleiht dem Text – auch mit Blick auf die diese Zeilen sprechende Figur – eine sexuelle Dimension. Es geht damit nicht mehr nur um eine feindliche Übernahme, sondern zwischen den Zeilen auch um die Penetration eines unschuldigen „Volkskörpers“, eine stark mit Emotionen besetzte Assoziation der Vergewaltigung – und ein gern genutztes Narrativ der Neuen Rechten.
In diesem Deutungskontext spielen somit weit mehr als nur biblische Motive eine Rolle. Der Text erscheint nicht nur radikal zuwanderungsfeindlich, sondern zugleich antifeministisch und nationalkonservativ in beinah mythologischer Größenordnung. Ob die Menge der Zuhörer auf der CPAC dies nun zu hundert Prozent genauso sah, lässt sich freilich schwer sagen, ihre Reaktion auf die Rezitation jedoch waren stehende Ovationen. Bei anderen Gelegenheiten, noch während des Wahlkampfs, war die Reaktion zuweilen begeistertes Skandieren: U – S – A.
Als wäre das alles ohnehin nicht schon genug, stammt der originale Liedtext aus den 1960er Jahren und wurde von dem Jazz-Sänger Oscar Brown, Jr. verfasst, der zudem nicht nur sozial aktiv und ehemaliges Mitglied der US-amerikanischen Kommunistischen Partei, sondern als Begleiter der Bürgerrechtsbewegung auch überzeugter Rassismusgegner war. Dass Donald Trump diesen Bezug nicht nur nie öffentlich gemacht hat, sondern das Gedicht auch in einen völlig anderen Kontext stellt, verärgert nun verständlicherweise die Familie des 2005 verstorbenen Musikers. Dessen Töchter verwiesen mit Blick auf Form und Inhalt des Textes auf afrikanische Traditionen lehrender Texte, biblische Referenzen und Tierallegorien, die Eingang in die Texte ihres Vaters gefunden hätten. Vorurteilsbehaftete oder gar rassistische Konnotationen hingegen seien völlig aus der Luft gegriffen und nie im Sinne des Verfassers gewesen.
Im Wahlkampf hatte Trump selbst Al Wilson als Autor des Texts angegeben. Der allerdings hatte die ursprüngliche Version von Brown nur neu vertont. Im Vergleich zum Original kommt seine Aufnahme mit ihren Bläser- und kurzen Choreinwürfen sowie ohne die bedrohlich-zischelnde Deklamation des Schlangen-Texts bereits wesentlich beschwingter und fröhlicher daher.
Vergleicht man nun den Originaltext von Brown mit der am Freitag von Trump rezitierten Version, fallen einige weitere kleine, aber vielsagende Unterschiede ins Auge. Wohl im Bestreben, jegliche anderweitige Deutung zu verhindern – und dabei scheinbar die Möglichkeit der interpretatorischen Unfähigkeit seines Publikums vorwegnehmend – hat der amerikanische Präsident an einigen Stellen verdeutlichende Hinzufügungen vorgenommen. So handelt es sich von Beginn an um eine „half-hearted, frozen snake“, einer halbherzigen, ängstlichen, nicht glaubwürdigen Schlange. Das originale „half-frozen“ wird dabei überdies zu einem eigentlich widersinnigen „frozen“, also einer schon toten Schlange, verkürzt. Auch fügt er dem letzten Vers eines jeden Refrains als Attribut der Schlange „vicious“, also „bösartig“, „grausam“, hinzu. Die ursprüngliche anfängliche Ungewissheit gegenüber den Ambitionen der Schlange entfällt damit, von Anfang an ist klar, dass sie nichts Gutes im Schilde führt.
Im Gegensatz hierzu wird die heldenhafte Rettungstat der Frau noch vergrößert. Weist sie die Schlange im Original in der dritten Strophe noch darauf hin, dass sie „might have died“ – also hätte sterben können –, so ist in der Trump‘schen Version klar: die Schlange, „would have died“. Dies wird beinah-tautologisch verstärkt durch ein surely. Diese plumpen Mittel in Verknüpfung mit der expliziten Rekontextualisierung verbiegen den ursprünglichen Text in sein Gegenteil.
Eine weitere Lesart, die sich in den sozialen Medien finden lässt, bezieht die Meta-Ebene schon mit ein und liest den Text bereits als Selbstdeutung des Rezitierenden. Die Schlange sei Trump selbst. So illustriert der Fall auf vielen Ebenen nicht nur die Vieldeutigkeit von (literarischen) Texten, sondern auch die Möglichkeit ihrer (politisch-propagandistischen) Vereinnahmung – und damit letzthin die Notwendigkeit kritischer und reflektierter (Text-)Rezeption.
Trumps Textversion
(Änderungen gegenüber dem Original gefettet)
The Snake
On her way to work one morning
Down the path along the lake
A tenderhearted woman saw a poor half-hearted, frozen snake
His pretty colored skin had been all frosted with the dew
“Poor thing,” she cried, “I’ll take you in and I’ll take care of you”
“Take me in oh tender woman
Take me in, for heaven’s sake
Take me in oh tender woman,” sighed the vicious snake
She wrapped him up all cozy in a curvature of silk
And then laid him by the fireside with some honey and some milk
She hurried home from work that night and soon as she arrived
She found that pretty snake she’d taken in had been revived
“Take me in, oh tender woman
Take me in, for heaven’s sake
Take me in oh tender woman,” sighed the vicious snake
She clutched him to her bosom, “You’re so beautiful,” she cried
“But if I hadn’t brought you in by now, surely you would have died”
She stroked his pretty skin and kissed and held him tight
But instead of saying thank you, that snake gave her a vicious bite
“Take me in, oh tender woman
Take me in, for heaven’s sake
Take me in oh tender woman,” sighed that vicious snake
“I saved you,” cried that woman
“And you’ve bit me, heavens, why?
You know your bite is poisonous and now I’m going to die”
“Oh shut up, silly woman,” said the reptile with a grin
“You knew damn well I was a snake before you took me in.”
[…]
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz