Das ganze Verbrechen: Streben nach Freiheit, Liebe und Menschlichkeit
In seinem Roman „Awelum“ erzählt Otar Tschiladse das Leben eines georgischen Schriftstellers während der Perestroika, dessen Existenz gänzlich nach den menschlichen Qualitäten der Liebe und Freiheit ausgerichtet ist
Von Jana Fuchs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Awelum von Otar Tschiladse hat der Verlag Matthes & Seitz anlässlich des diesjährigen Gastlandauftrittes von Georgien auf der Frankfurter Buchmesse einen Roman neu aufgelegt – 1989 erschien der Text bereits auf Deutsch, ebenfalls von Kristiane Lichtenfeld aus dem Georgischen übersetzt –, der sowohl ein allgemein menschliches als auch ein konkretes historisches Ereignis ins Zentrum stellt: Einerseits das Streben nach Souveränität, Freiheit und Vollwertigkeit des Menschen generell, das genetisch in jedem Individuum angelegt ist, wie es Tschiladse in dem dem Romantext folgenden Gespräch mit Lichtenfeld erklärt, andererseits die kritische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und die blutige Niederschlagung der Demonstrationen in Tbilissi am 9. März 1956 und am 9. April 1989.
Tschiladse erzählt in diesem Roman, der zwischen 1989 und 1993 entstanden ist und der den sogenannten Zyklus der Seelengeschichte des georgischen Volkes – bestehend aus den Romanen Daß mich totschlage, wer mich findet und Das Eiserne Theater – abschließt, die Geschichte eines georgischen Schriftstellers namens Awelum, der vor dem Hintergrund der Perestroika die fast ausgelöschte menschliche Fähigkeit symbolisiert, die eigene Existenz vollständig zur Freiheit und zur Liebe hin auszurichten. Während sich die Georgier in jener Zeit meist entweder zur Sowjetunion bekannten oder sich gegen sie auflehnten, also einem von zwei Lagern angehörten, unterwirft sich Awelum keiner ideologischen Doktrin, sondern steht zwischen den Lagern. Seine einzige Doktrin ist, wenn man so will, die Errettung der Menschlichkeit und der vollständigen Freiheit, die – folgt man der Denkart des Romans – der einzige Weg zur Wahrheit als solcher ist; eine „Freiheit im rechten Sinne [jedoch], versteht sich. Nicht ein Alleserlaubtsein, das ist der allererste Feind der Freiheit, das ist Sklaventum. Freiheit beginnt im Menschen, in seinem Denken, in seiner Lebensweise, in seinem Verhältnis zur Welt“, so der Autor.
Ein für die Übrigen nicht Existenter versucht die Übrigen zu retten – gleich ausgebeuteten Bodenschätzen beabsichtigt er, ein für alle Mal erschöpfte Gefühle wiederherzustellen, im Bedarfsfall aber, auch wenn er noch so sehr will, vermag er sich nicht wie die anderen, die Übrigen, zu verhalten. Beispielsweise stellt er sich weder auf die eine Seite der Barrikade noch auf die andere, denn weder hüben noch drüben braucht ihn jemand, hüben wie drüben glaubt man (so meint er selbst), er sei nur dazu da, sie zu beschuldigen und ihnen ins Gewissen zu reden. Darum steht er zwischen ihnen wie Buridans Esel. Nicht hierhin und nicht dorthin. Und jegliche Kugel, ob von hüben abgefeuert oder von drüben, muss, bevor sie ihr Ziel erreicht, sein Herz passieren. Awelum hat seine eigene Wahrheit, und das ist sein Hauptvergehen.
In Awelum koexistieren verschiedene Welten nebeneinander. Da ist zum einen die westliche Welt, symbolisiert durch die französische Fremdenführerin Françoise, die ein uneheliches Kind mit Awelum als Frucht ihrer gemeinsamen Liebe aus der Sowjetunion herausträgt; eine Welt, die Tschiladse zufolge vom rechten Weg abgekommen ist, da der Wert des Geldes bereits nahezu alle menschlichen Werte verdrängt hat: „Das Business pfeift auf die geistigen, moralischen Bemühungen des Menschen, überhaupt pfeift es auf alles, was keinen Profit bringt. Der Mensch hat das Verbrechen an sich selbst zugelassen, das allergrößte Verbrechen. Er ignoriert sein Menschsein.“ Zum anderen ist da das große Imperium Russland, symbolisiert durch Sonja, Awelums andere Liebe, die für die Versklavung des Menschen durch die Sowjetunion steht, während Awelums Ehefrau Melania mit Awelum das Schicksal teilt, mit dem Land Georgien verwurzelt und somit von der Sehnsucht bestimmt zu sein, unter der sowjetischen Fremdherrschaft das menschliche Gut der Freiheit für sich, aber auch für alle anderen Bürger Georgiens zu verteidigen.
Dass die Wirklichkeit nicht in einfache Dichotomien aufgeteilt werden kann, wie hier der freie Westen und dort die Sowjetunion, die die Menschen in unfreie Bürger verwandelt, zeigt Awelum dem Leser, der bereit ist sich auf den mäandernden Stil Tschiladses einzulassen, meisterlich auf. Dies gelingt ihm, indem er die Figur des Georgiers Awelum als eine Figur präsentiert, bei der sich die Fähigkeit, sich zur Freiheit und zu den menschlichen Gefühlen der Liebe und des Mitgefühls auszurichten, am deutlichsten entwickelt hat – im Gegensatz zu Françoise, die aus der vermeintlichen ,freien Weltʻ stammt, sich jedoch nach einem Leben in der Sowjetunion sehnt.
[S]ie reiste von dort ab, wo ihr Platz war, und sie reiste dorthin, wo ihr Platz nicht mehr war, wo alles sie fremd anmutete, wo sie, wie das undressierte Pferd den Zaum, alles als störend empfand. Der Zaum war die sogenannte freie Welt – genauer: die darin erworbenen Gewohnheiten, insbesondere die in Fleisch und Blut übergegangene Verantwortlichkeit gegenüber den eigenen Bedürfnissen und Neigungen. Diese Gewohnheiten hinderten sie jetzt am meisten daran, sich in aller Ruhe und mit der ein vernunftbegabtes Wesen charakterisierenden Geduld über neue, überraschende und daher beängstigende Bedürfnisse und Neigungen klarzuwerden, nämlich eine große internationale Ungerechtigkeit und ein ebenso großes persönliches Unglück darin zu entdecken, dass da eine aus dem Völkergefängnis, wenn man so will, aus dem Reich des Bösen friedlich heimkehrte und sich auch schon danach sehnte, die höchst gesundheitsschädliche dortige Luft zu atmen oder aber stundenlang Schlange zu stehen, um Seife, Zahnpasta oder Toilettenpapier zu ergattern…
Hierin folgt der Roman der Überlegung Sartres, dass äußere Zwänge – wie die Unterwerfung unter das stalinistische System – die Freiheit keineswegs verhindern, sondern sie nur umso mehr erfordern. Sartre zufolge nämlich ist der Mensch dazu verurteilt, die eigene Existenz zu entwerfen und sich in jeder konkreten Situation für die Freiheit zu entscheiden. Und ist dieses Entscheiden für die eigene Freiheit nicht gerade dann besonders gefordert, wenn die Freiheit an ihre Grenzen stößt und gegen Widerstände durchgesetzt werden muss, wie es Nils Markwardt in seinem Beitrag für die diesjährige April-Ausgabe des philosophie-Magazin schreibt? Die Lektüre von Awelum jedenfalls bestätigt diese These, denn der Roman lässt sich als nachdrückliches Plädoyer für die konkrete Entscheidung für die Freiheit gerade in einem System lesen, dessen Strukturen eigentlich darauf angelegt sind, ebendiese Freiheit zu unterbinden.
Die moderne georgische Literatur basiere auf der Tradition vieler Jahrhunderte, habe sich Schritt für Schritt neben der modernen Weltliteratur entwickelt und vermittele ein klares Bild vom Charakter der Nation, die sie hervorgebracht habe, so Medea Metreveli, Leiterin des georgischen Ehrengast-Komitees der Frankfurter Buchmesse. Für diesen Roman trifft diese Aussage Metrevelis jedenfalls zu, denn wer sich auf die Lektüre von Awelum einlässt, spürt in jedem Satz sowohl die Spuren der europäischen Literaturtradition wie beispielsweise den Bewusstseinsstrom à la Virginia Woolf, als auch ein fremdes Moment, das man nicht genau benennen kann, in dem man jedoch die spezifisch georgische Prägung und Sichtweise auf die Welt und somit auch auf die Literatur und das literarische Schreiben vermutet.
Lassen Sie sich ein auf die Sätze von Tschiladse, die mal wild ausufern, mal sanft dahinfließen. Sie werden belohnt mit einer ganz besonderen Geschichte zwischen Liebenden, die von den verschiedenen Systemen, in denen sie leben, zwar durchaus in ihrem Dasein geprägt und bestimmt werden, jedoch zu keiner Zeit vergessen, dass sie vornehmlich eines sind: zur Freiheit strebende Menschen, die sich trotz aller Hindernisse mit Haut und Haaren der Liebe verschrieben haben.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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