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Verlegen als Menschen-, Bücher- und Netzwerk-Kunst in Siegfried Unselds „Reiseberichten“

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Bücher ihre eigene Geschichte haben und zuweilen eine, die sie von ihrem Inhalt emanzipiert, ist niemandem so vertraut wie Verlegern. Insofern ist offen, ob Siegfried Unseld (1924-2002) die Publikation seiner Reiseberichte, die von den Besuchen des Verlegers bei Autoren, Übersetzern und Lektoren erzählen, ursprünglich für wenige Eingeweihte innerhalb des Suhrkamp-Verlages gedacht waren und jetzt als Nummer 1451 der Suhrkamp-Bibliothek vorliegen, gefallen hätte. Das Buch versammelt eine kleine Auswahl der laut Unselds Schätzung mehr als 1500 Berichte, die seit 2009 als Teil des Siegfried Unseld Archivs im Marbacher Literaturarchiv liegen und von Raimund Fellinger († 20.4.2020), seit 1979 Lektor, seit 2006 Cheflektor bei Suhrkamp, ediert und herausgegeben wurden. Als der Band in diesem Frühjahr, neun Jahre nach dem ursprünglich angekündigten Termin (Sommer 2011), erscheint, ist auch Fellinger nicht mehr am Leben – wie der Verleger und viele derer, die er zwischen 1959 und 2002 besuchte. Auswahl und Herausgabe der Reiseberichte sind so auch einer der letzten Dienste, die Fellinger seinem Verlag und dessen prägender Verleger-Gestalt Siegfried Unseld leistet: Selbstlos, uneitel und fast schon zu diskret, nämlich ohne jede Erläuterung, Kommentierung (und leider auch ohne Register) legt er die Berichte vor, beginnend mit dem Berlin-Besuch Unselds bei der Brecht-Witwe im April 1959, endend mit dem Bericht über die Beisetzung von Hermann Lenz im Mai 1998. Die Zahl derjenigen unter den LeserInnen, die die volle Bedeutung der meist nüchtern gereihten Namen, Daten, Buchtitel und Zahlen in den Reiseberichten wird einschätzen und interpretieren können, dürfte gering sein – so dicht sind die Interna des Verlagsbetriebs und dessen Akteure (ja, nahezu ausschließlich Männer) hier versammelt, so voraussetzungsreich wäre eine Lektüre auf Augenhöhe. Sie zu ermöglichen bleibt die Aufgabe einer künftigen kommentierten Ausgabe der Reiseberichte.

Fellinger verfolgt, so erläutert er im knappen Nachwort, mit seiner Auswahl zwei Ziele: die Entwicklung des jungen Verlegers zum internationalen Player zu dokumentieren und die Textsorte Reisebericht in ihrer Prägung und, das wird zumindest angedeutet, zunehmenden Literarisierung durch den Verleger vorzuführen. Beides gelingt: Schon beim Lesen wird einem schwindelig vom Tempo, der Energie und der Reichweite, mit denen Unseld den von ihm 1959 übernommenen Verlag bald schon international positioniert, seinem Blick auf den französischen und amerikanischen Markt, dem Gespür für interessante AutorInnen, fähige Übersetzer, engagierte Buchhändler, begnadete Lektoren. Letztere freilich stehen, wie der 1968 im Streit über das Mitbestimmungsstatut geschiedene Chef-Lektor Walter Boehlich, auch immer wieder auf dem Prüfstand: „Meyer-Clason hat mir wieder bestätigt, daß auch er schon vor Jahren Boehlich auf Gabriel García Márquez hingewiesen habe“ – wiederholt tut es dann Hans Magnus Enzensberger, vor und während seiner Lektüre von Hundert Jahre Einsamkeit – doch da ist es schon zu spät und Márquez bei Kiepenheuer & Witsch unter Vertrag. Das hindert Unseld nicht, weiterhin größte Hoffnungen auf die lateinamerikanische Literatur zu setzen, wie schon die erste, von Jan Bürger betreute Ausstellung aus dem Siegfried Unseld Archiv im Jahr 2010 vorgeführt hat: Seit den frühen siebziger Jahren werden rund um den (durch Erwerb des Insel-Verlags 1973) zum Hausautor gewordenen kubanischen Dichter Alejo Carpentier mit Hilfe von Michi Strausfeld, die seit 1974 für den Verlag ‚scoutet‘ und übersetzt, systematisch südamerikanische AutorInnen gesucht und an Suhrkamp gebunden; mit dem Verkaufserfolg von Isabel Allendes Geisterhaus (1984) und dem Literaturnobelpreis für Octavio Paz (1990) ist dann das Versäumnis Márquez zumindest aufgewogen. Nicht nur das Gespür für literarische Moden wie den Magischen Realismus oder Lateinamerika als Literatur-Kontinent (der dann auch Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 1976 wird) bringt Suhrkamp voran, auch Unselds Fähigkeit, den Strukturwandel im Verlagsgeschäft wo nicht zu antizipieren, so doch frühzeitig zu erkennen: etwa wenn (mit Bedauern) die Bedeutung der Agenturen als (internationale) Mittler zwischen Autoren und Verlagen und als neue Gatekeeper eingeräumt werden muss oder das Segment didaktisierter Leseausgaben für den Universitätsbetrieb am Beispiel amerikanischer Hochschulen entdeckt wird. Die bei einem Besuch im April/Mai 1980 mit amerikanischen Professoren erörterte mögliche Reihe ‚deutscher Textbücher‘ für den dortigen Hochschulunterricht enthält im Wesentlichen das Konzept und nicht wenige Titel der sog. Suhrkamp Basisbibliothek, die dann seit Ende der 1990er Jahre erschien, von Grimms Märchen über Brechts Der gute Mensch von Sezuan bis zu Walsers Fliehendes Pferd.

Nicht nur Tempo, Fülle und Vielfalt der Reisebegegnungen sind staunenswert, auch die gesprächsweise erörterten oder auch nur erwähnten Titel von Büchern, die es zu prüfen, anzufordern oder zu verschicken, probezuübersetzen oder zu begutachten gilt, sind so zahlreich, dass deren Lektüre durch den Verleger schlicht nicht möglich erscheint – zumal wenn Unseld Texte ‚seiner‘ Suhrkamp-Autoren so zur Kenntnis nimmt, dass er mit den Autoren detailliert über sie sprechen oder korrespondieren kann, wenn er nicht gar, wie etwa mit Marianne Fritz, stundenlang und Satz für Satz mit ihnen Manuskripte durchgeht.

Die Sicherheit des Urteils, das verdeutlichen die Berichte, hat mindestens so viel wie mit Unselds Instinkt und der potenten Maschinerie des Verlags zu tun wie mit Zahl und Qualität der RatgeberInnen: Kaum jemand, der mit Unseld zusammentrifft, lässt die Gelegenheit ungenutzt, Bücher oder Autoren zu lancieren; die Reiseberichte sammeln diese Empfehlungen, reichen sie verlagsintern weiter, lassen sie filtern durch das Urteilsvermögen der engsten Mitarbeiter und wohl auch des eigenen Gefühls für die Machbarkeit und Durchsetzbarkeit eines Titels auf dem deutschen oder internationalen Markt. In der Regel erfolgen solche Einschätzungen, wie alle Urteile, knapp und im Ton nüchtern, selten wird pauschalisiert, wie beim von Unseld affirmierten Kriterienkatalog (der US-Germanistin Judith Ryan) für die Auswahl deutscher Texte, „die in Amerika ankommen“, nämlich „spannende, handlungsreiche, charakteristische, nicht morbide, Identifikationsmöglichkeiten bietende, humorvolle Texte“. Konflikte zwischen persönlichem literarischen ‚Geschmack‘ und objektiver oder am Literaturbetrieb erprobter Qualität werden in den Berichten nicht erkennbar. Auch wenn Fehlentscheidungen eingeräumt und baldmöglichst korrigiert werden, sind die Reiseberichte kein Ort der Reflexion. 

Auch wer die Einzelentscheidungen in ihrer literaturbetrieblichen oder inzwischen gar literarhistorischen Bedeutung nicht einschätzen kann (war die Diagnose „Ich sehe in dem Vordrängen weiblicher Autoren sowohl bei uns als auch in Italien und anderswo durchaus ein Symptom“ 1967 frühzeitig? Eine projektierte „Frauen-Anthologie mit Bachmann, Wohmann, Struck“ 1980 zeitgemäß und in der Auswahl weitsichtig?), wird sich vom Sound der Berichte in eine Welt des Entscheidens, Machens und – meist in Klammern „(Fräulein Ritzerfeld)“ – des Delegierens entführt sehen, von der so viel Energie ausgeht, dass manche/r vom Fach sich in den eigenen Kräften und Möglichkeiten arg limitiert vorkommen mag.

Natürlich darf man diese Berichte nicht als reine Faktensammlung lesen. Man soll und muss sie auch als Instrumente der Selbstverständigung eines der bedeutendsten deutschen Nachkriegsverlage verstehen, als Texte, in und mit denen die Qualitätsmaßstäbe der Suhrkamp-Reihen, der Umgangston mit den Autoren, die wirtschaftlichen Erwägungen und literaturbetrieblichen Aktivitäten gesetzt, kommuniziert und intern eingeübt wurden. Unseld tritt dabei scheinbar nur als Medium auf und doch sprechen die Texte, die von AutorInnen, VerlagsmitarbeiterInnen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens berichten, letztlich von ihm, dem Verleger, der die Begegnungen herbeiführt, ermöglicht oder ihnen durch seinen Zeugenstatus (etwa beim Gespräch mit Bundeskanzler Erhard im Juli 1964) Ausdruck verleiht. Er adelt diejenigen unter den persönlichen Begegnungen und Bekanntschaften, die er namentlich erwähnt, und verleiht einzelnen Aussprüchen durch die Wiedergabe im Zitat eine Bedeutsamkeit, die man ihnen unmarkiert nicht angemerkt hätte: wenn etwa der Herausgeber zweier Schiller-Bände im Klassikerverlag (und Mitherausgeber der Schiller Nationalausgabe) Norbert Oellers die Verzögerung beim Erscheinen der Faust-Ausgabe (bei DKV) „unfaßlich“ nennt, und der Nachsatz „aber auch auf Schöne sei kein Verlaß mehr, was Termine betrifft“ aus Editorenkonkurrenz ein bisschen Literaturbetriebs-Gossip macht. Dass es eigentlich darum geht, die von Oellers betreute Else Lasker-Schüler-Werkausgabe im Suhrkamp assoziierten Jüdischen Verlag unterzubringen und Oellers dabei nicht allein auf Unselds bekannte Affinität zu deutsch-jüdischen Themen und Autoren zählen, sondern die eigene Verlässlichkeit in Finanzierungs- und Terminfragen einfließen lassen will, verweist auf Vielschichtigkeit und Subtilität der geführten Gespräche, die sich aus der verknappten Wiedergabe der Reiseberichte entfalten lassen.

Neben Buchmessen, Verlagseröffnungen, Geburtstagen und Hausbesuchen gehören auch Beerdigungen zu den in den Reiseberichten dokumentierten Anlässen literarischer Begegnung: Das Begräbnis des für den Verlag, seinen Gründer Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld als Schicksals-Autor ikonisierten Hermann Hesse ist – nicht nur in Unselds Lesart – Teil der Verlagsgeschichte. In Hesses Nachlass findet sich u.a. eine „Adressenkartei: zwei Kästen mit sicherlich je tausend Adressen, alles handschriftlich, die Adressen sind auf den neusten Stand gebracht.“ Was Unseld besonders beeindruckt: „Auf meiner Kartei waren meine sämtlichen Adressen verzeichnet, von meiner Rückkehr aus der Gefangenschaft bis zur Klettenbergstraße 35. Die meisten dieser Karteikarten trugen eine Notiz der ersten Begegnung, eine Charakteristik der Person, eine Beurteilung der Arbeiten.“  Für die geplante Gedächtnisfeier schweben Unseld „Beda Alemann und Martin Walser [als Redner] vor, und als Sängerin Lisa della Casa mit den drei letzten Liedern von Richard Strauss nach Texten von Hermann Hesse.“ Deutlich schlichter als die 1962 in Lugano von Unseld imaginierte Beisetzung Hesses ist die Beerdigung des „liebenswerten Menschen“ und Suhrkamp-Autors Hermann Lenz 1998 in München

angenehm kurz […] Von einer Kassette wurden drei Musikstücke von Haydn, Schubert und Mozart eingespielt. Von den Reden ist zu bemerken, dass keine irgendwelche peinlichen Passagen enthielt. […] Hagestedt [d.i. der damalige Pressesprecher des Verlags und spätere Chefredakteur von literaturkritik.de] sagte mir nachher, für ihn sei die Prozedur vorbildlich für eine Beerdigung gewesen.

Nach Briefwechseln mit AutorInnen, die Unseld als Vertrauten, Therapeuten, Übervater, Schmeichler und Diplomaten zeigen, eigenen Essays und Reden sowie den Verlagschroniken sind die Reiseberichte ein weiteres Genre, das den Verleger als Autor zeigt, vielleicht sogar als Schöpfer einer neuen Textsorte, die zwischen alltagspraktischer Bilanz- und Memo-Funktion auf der einen und prospektiver Selbsthistorisierung in den Vorarbeiten einer Autobiographie auf der anderen Seite changiert. Während die ersten Berichte sich noch ausgesprochen ‚trocken‘ lesen und eher das buchhalterische als das literarische Interesse befriedigen – oder das Buchhalterische im Literarischen – nehmen im Laufe der Reisen und Jahre persönliche Beobachtungen, psychologische Einschätzungen zu und mit ihnen eben auch ein bisschen der Alltags-Gossip, aus dem dann Literaturgeschichte wird.

Die jetzt zugänglich gemachten Reiseberichte werden, zumindest potentiell, die bisherigen Einschätzungen von Verlagspolitik und Autorenlenkung korrigieren resp. bestätigen, indem sie, vermeintlich, einen Blick hinter die Kulissen, hinein in „Verlegererfahrungen aus 60 Jahren“ (so die Banderole) gewähren. Natürlich bleibt auch dieser Blick Teil einer verlagsinternen Selbststilisierung, nicht allein aufgrund der ‚Auswahl’, sondern auch aufgrund der Funktionszusammenhänge dieser Texte als einerseits verlagsöffentliche, andererseits im Hinblick auf eine künftige Verlagschronik und Biographie Unselds konzipierte Zeugnisse, deren Funktion auch darin lag, ausgewählte Lektoren über Unselds Kontakte mit den Autoren zu informieren und die verlagsinterne Lesart dieser Begegnungen zu kommunizieren. Das heißt auch: Zwischen den Zeilen steht mindestens so viel wie in ihnen – durch seine Auswahl hat Raimund Fellinger dem unausgesprochen noch einiges hinzugefügt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Siegfried Unseld: Reiseberichte.
Herausgegeben von Raimund Fellinger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
384 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518224519

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