Im Meer der Erinnerungen

Deniz Utlu beschwört in „Vaters Meer“ die Geschichte seines Vaters und seiner Jugend

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte(n) des Vaters Zeki und seiner Familie, die der Ich-Erzähler und Sohn Yunus in Deniz Utlus Roman Vaters Meer rekonstruiert sind das Ergebnis seiner fortgesetzten Erinnerungsarbeit und Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft. Yunus, wie der Autor Utlu 1983 geboren, wächst als Kind einer türkischen Einwandererfamilie in einem als trostlos erinnerten Hannover auf und hat sein erstes großes Bildungserlebnis in der französischen Hauptstadt Paris, die für ihn gleichsam zum Kontrastbild der als Kind und Jugendlicher erlebten deutschen Enge der achtziger und neunziger Jahre wird. Sein Emanzipationsakt gegenüber den Eltern ist dagegen ein Gitarrenkauf, mit dem er sich nicht nur gegen den Willen deren durchsetzt und seiner musischen Begabung folgt, sondern der auch im Nachhinein als Akt der bewussten Abnabelung von der eigenen Familie interpretiert wird.

Ausgangspunkt und Auslöser für dieses Nachdenken über den Vater ist dessen Krankheits- und Verfallsgeschichte: Im Jahr 1996 erleidet der Vater mehrere Schlaganfälle, die ihn für die nächsten zehn Jahre bis zu seinem Tod 2006 zu einem gelähmten, ans Bett gefesselten und nur mit den Augenlidern kommunizierenden Mann machen. Medizinisch leidet er unter dem sogenannten Locked-in-Syndrom. Berichtet werden in Rückblicken Versatzstücke der Familiengeschichte, der Herkunft und Ehe der Eltern, die erzählerisch überblendet werden mit Reflexionen des erzählenden Ichs, wobei die Zeitstruktur bisweilen bewusst verunklart wird und der Text zwischen präsentischer Vergegenwärtigung der Vergangenheit und Reflexionen über den eigenen Schreib- und Erinnerungsprozess changiert, was dem Leser die Lektüre nicht unbedingt einfach macht. Doch um eine lückenlose oder kohärente Rekonstruktion des eigenen Verhältnisses zum Vater, der zurückliegenden Jugend und dem Verhalten auch gegenüber der Mutter, nachdem der Vater zum Pflegefall geworden ist, geht es dem Erzähler Yunus gerade nicht. Vielmehr ist die Konstruktion des Romans und des Erzählens darauf angelegt, in immer neuen Bildern und Evokationen von Vergangenem  die eigenen Erinnerungen zu beschwören, die Gefühle gegenüber dem Vater abzustecken und letztlich zu fragen, wie sich Erinnerung eigentlich organisiert, wie sich die Bilder von Erlebtem vernetzen, verflüchtigen und auch verändern. Das hat zur Folge, dass man am Ende natürlich mindestens genauso viel – wenn nicht mehr – über den Ich-Erzähler, seine Beschädigungen und Hoffnungen erfährt. Dabei werden auf der Ebene des Erzählens permanent das eigene problematische Wissen und die vielleicht nur imaginierten Erinnerungen thematisiert, was zusammen mit der oftmals gesucht poetisierenden Sprache, den angestrengt daherkommenden, teils auch schiefen Bildern und Metaphern etwas ermüdend und langweilig ist.

Merkwürdigerweise wird die Figur des Vaters, je mehr man von ihr durch Yunus erfährt, immer blasser und schemenhafter, was nicht nur daran liegen kann, dass sich der Roman programmatisch ja gerade die Mehrdeutigkeit und auch Unzuverlässigkeit der eigenen Erinnerungen zum Thema gemacht hat. Es liegt zu einem großen Teil aber auch an dem krassen Missverhältnis zwischen vorgeblicher Tiefe der Reflexionen und der tatsächlich erzählerisch-sprachlichen Artikulation der Erlebnisse und des eigenen Befindens. Dafür, dass der Autor nach eigenen Aussagen an diesem Stoff beinahe 15 Jahre gearbeitet hat, wirkt doch so manches ästhetisch unausgereift, unmotiviert und unplausibel: So ist (beinahe) jedes Kapitel überschrieben mit den ersten Worten, die dann das Kapitel einleiten oder manche Abschnitte setzen sich aus Einwort-Zeilen zusammen, die durch Backslashes getrennt sind. Man könnte nun viel interpretieren und vermuten, dass solche typographischen Elemente gerade für die Darstellung psychologisch neuralgischer Momente jenen vergangenen, problematischen, zerrütteten und eben nur bruchstückhaften Zustand des Erzählers und seiner Erinnerungen widerspiegeln sollen. Doch wird daraus kein überzeugendes Erzählkonzept. Auch die in anderer Schrifttype einmontierten Textgattungen wie Arzt-Berichte oder Behördenschreiben tragen nur dazu bei, die Kranken- und Familiengeschichte des Vaters sozialgeschichtlich zu illustrieren und die vom Erzähler bemühte poetische Sprache zu konterkarieren – das alles wirkt aber reichlich aufgesetzt und aufdringlich. Hingegen liest man jene Passagen, die diese Sozialgeschichte auch wirklich erzählen, mit Gewinn. Wenn etwa die Mutter und der Sohn darüber streiten, was eigentlich ein glückliches und zufriedenes Leben ausmacht, werden nicht nur unterschiedliche generationenspezifische Wertehorizonte, sondern auch die Umrisse türkischer Einwanderungsgeschichte(n) sichtbar. Wenn dieser Roman über eine poetische Kraft und Tiefendimension verfügen sollte, dann ist es nur jene rein konzeptionelle, die sich aus der spannungsreichen Grund-Konstellation der Beweglichkeit von Erinnerungen des Sohnes und der Statik es gelähmten Vaters ergibt. Sprachlich und erzählerisch bleibt der Roman hinter diesem klugen Einfall allerdings zurück.  

Titelbild

Deniz Utlu: Vaters Meer. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
384 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431443

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