Vom Manuskript zum literarischen Tagebuch
Joana van de Löcht untersucht die Entstehung von Ernst Jüngers „Strahlungen“
Von Maik M. Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseTagebücher habe er nur während gefährlicher Zeiten geführt, erklärte Ernst Jünger in einer ZDF-Fernsehproduktion aus dem Jahr 1977. Was der Film nur andeutet, wurde dem lesenden Publikum drei Jahre später mit der Veröffentlichung des ersten Bandes der Alterstagebücher Siebzig verweht offenbart: Bereits seit 1965, dem 70. Geburtstag, führte Jünger (wieder) private Aufzeichnungen. Gefährliche Zeiten – darunter rechnete er offenbar nicht nur die Zeit der Weltkriege, sondern auch das eigene Alter, die Annäherung an den eigenen Tod und die abnehmende Wahrscheinlichkeit des immerwährenden Weiterlebens. Die Szene aus dem Film von 1977, die den über 80-Jährigen auf der Jagd nach Barrakudas, großen Pfeilhechten, vor der Küste Liberias zeigt, konnte man dann 1981 im zweiten Band von Siebzig verweht nachlesen.
Bereits Jüngers Debüt In Stahlgewittern war das Produkt persönlicher Aufzeichnungen, die der Autor im Ersten Weltkrieg geführt hatte. Weitaus deutlicher tritt die Tagebuchform jedoch in den Schriften aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit hervor, die unter den Titeln Gärten und Straßen, Strahlungen und Jahre der Okkupation zwischen 1942 und 1958 publiziert wurden. Diese Tagebücher gelten als Paradigma eines literarischen Tagebuchs: Dokumentarische Zeitzeugenschaft in ‚gefährlichen Zeiten‘ erscheint im Gewand ästhetisierender und stark stilisierender Schreibweisen. Als Tagebücher für die Öffentlichkeit sind sie das Ergebnis eines umfassenden Prozesses der schrittweisen Bearbeitung, dem Jünger seine ursprünglichen Tagebuchmanuskripte unterzogen hat.
Ernst Jüngers Werk war stets ein dankbares Betätigungsfeld für die Textphilologie, da sich aus dem Befund unterschiedlicher Fassungen, in denen viele seiner Schriften vorliegen, interessante Fragestellungen entwickeln ließen. Joana van de Löchts Dissertationsschrift Aufzeichnungen aus dem Malstrom verlängert solche Perspektiven gewissermaßen in den Raum vor der Publikation. Ihre entschieden philologisch ausgerichtete Studie nimmt sich der Frage der Genese der „Strahlungen“ aus Ernst Jüngers privaten Tagebüchern – so der Untertitel – in einem umfassenden Sinne an. Denn während die Forschung im Rahmen von Probebohrungen bisher nur einzelne Passagen mit den originalen Manuskripten, die im Deutschen Literaturarchiv in Marbach lagern, abgeglichen hat, nimmt die vorliegende Untersuchung sämtliche tagebuchartigen Aufzeichnungen aus den Jahren 1939 bis 1958 als Gesamtgefüge in den Blick.
Bereits dieses Bild ist komplex, denn Jünger hat eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Textträger hinterlassen, die jeweils verschiedene Stadien der Bearbeitung repräsentieren und zugleich inkongruente Zeitabschnitte abbilden. Während für manche Passagen offenbar bis zu vier handschriftliche Textzeugen vorliegen, die in ein Verhältnis von Vorlage und Abschrift gebracht werden können, beschränkt sich das Material anderer Zeiträume lediglich auf das sogenannte Journal, die finale handschriftliche Bearbeitungsstufe vor der Druckfassung. Als problematisch erweist sich dabei immer wieder die Unmöglichkeit, den Zeitpunkt einer Abschrift und damit die wichtige Frage der zeitlichen Nähe oder Ferne zum ursprünglichen Ereignis mit hinreichender Genauigkeit zu bestimmen, so dass auch der zeithistorische Kontext der Bearbeitung oftmals fraglich bleibt.
Die Autorin kontextualisiert den philologischen Kernbereich der Arbeit durch Überlegungen zum Genre des Tagebuchs einerseits, durch eine ausführliche Darstellung der Publikationsgeschichte(n) von Jüngers Tagebüchern andererseits. Das Tagebuch erscheint hier vor allem als formal außerordentlich flexibles Medium der Selbstreflexion, das dem Autor durch die ihm eingeschriebene „Illusion von Unmittelbarkeit“ mannigfache Möglichkeiten der Selbststilisierung an die Hand gibt. Dieser Befund erweist sich als mehrfach anschlussfähig: an Jüngers Poetik einerseits, an den philologischen Ansatz der vorliegenden Arbeit andererseits. Denn Jünger war die problematische Diskrepanz zwischen authentischem Erleben und späteren Nieder- und Umschriften sehr wohl bewusst. Seine Poetik macht jedoch aus der Not eine Tugend, indem sie in einer gegenläufigen Bewegung gerade die zeitliche Spreizung „passionierter Abschriften“ zum Garanten unendlicher Annäherung an den unmittelbaren ersten Eindruck erklärt. Der philologische Textvergleich will nun den gewonnen Abschluss wieder aufbrechen und den Schreibprozess im Hinblick auf schreibstrategische Intentionen des Autors transparenter machen.
Zunächst wird in einer ausführlichen Rekonstruktion der jeweiligen Publikationsgeschichte gezeigt, dass die äußeren zeithistorischen Umstände der Veröffentlichung an den Texten nicht unerheblich mitgeschrieben haben. Im Rückgriff auf die Korrespondenz mit Verlagen und Verlegern, aus der ausführlich zitiert wird, gelingt es van de Löcht, den an sich spröden Stoff in eine zeithistorisch überaus spannende Form zu bringen. Man darf nicht vergessen, dass der erste Tagebuchband Gärten und Straßen, der den deutschen Vormarsch in Frankreich behandelt, im Jahr 1942 noch während der nationalsozialistischen Herrschaft erschienen ist. Entsprechend schwierig gestaltete sich das Unterfangen, für den bei den Machthabern suspekten Autor des Romans Auf den Marmorklippen überhaupt eine Publikationsmöglichkeit auszumachen. Unter veränderten Vorzeichen setzten sich die Schwierigkeiten nach 1945 fort. Van de Löcht erzählt die Publikationsgeschichte der Strahlungen als Geschichte des Publikationsverbotes, dem Jünger bis 1947 unterlag, mit einem Seitenblick auf die Friedensschrift. Die durch Helmuth Kiesels Biografie weitgehend bekannten Zusammenhänge werden dabei mit vielen Details angereichert.
Die Frage, welche Transformationen die Tagebuchtexte im Entstehungsprozess durchgemacht haben, wird durch die Konzentration auf einschlägige Operationen im Textgefüge strukturiert: Anhand der Kategorien „Streichen, Einfügen, Ersetzen und Verschieben“ werden die untersuchten Text-Veränderungen jeweils zusammengefasst, um daraus dann idealtypische Formen und Tendenzen von Jüngers intentionaler Textpolitik zu destillieren. So wird gezeigt, dass Jünger nicht nur (wie von ihm behauptet) Passagen von privatem Charakter für die Druckversion gestrichen hat, sondern auch, dass den Wünschen nationalsozialistischer Zensurstellen zumindest teilweise entsprochen wurde. Entfernt wurden neben tagespolitischen Bezügen beispielsweise Notizen zu verstörenden Anfällen von Angst und Depression, die Jünger zeitweise befielen, sowie Vorgänge, die mit der Umstrittenheit der eigenen Person und dem Publikationsverbot nach 1945 zusammenhingen.
Die Streichungen verstärken Jüngers Selbstentwurf als Person – distinguiert, überlegen, unnahbar – und sie unterstreichen seinen Anspruch als Autor, Einsichten von zeitlos-exemplarischer Gültigkeit eine sprachliche Form zu verleihen. Teilweise setzen sie ihn aber auch in ein milderes Licht: Der Streichung fielen auch Passagen über Hunger und Krankheit im besetzen Paris zum Opfer, die wohl einen allzu starken Kontrast zu Jüngers Existenz als flanierendem Besatzungsoffizier gebildet hätten. Auch explizite Beschreibungen von Gewalt-Szenen, die sich in den Manuskripten der Kaukasischen Aufzeichnungen – Jüngers Bericht über seine Exkursion an die Ostfront 1942/43 – finden, wurden für die Publikation entfernt oder abgemildert. Möglicherweise lag deren Darstellung jenseits der ästhetischen Mittel, die Jünger zu Gebote standen, wie van de Löcht im Anschluss an eine These Helmut Lethens vermutet. Aus den zahlreichen diskutierten Aspekten ergibt sich insgesamt das Bild eines Autors, der Überlegungen zur öffentlichen Wirkung in den Entstehungsprozess seiner Tagebücher an vielen Stellen implizit einfließen ließ.
Zentrale Bedeutung wird auch in der vorliegenden Studie der bereits breit diskutierten Frage nach der Position von Jüngers Autorschaft in Relation zum System nationalsozialistischer Herrschaft eingeräumt. Zu diesem Komplex gehört ebenso die Einordnung der Marmorklippen durch den Autor selbst: Während es bis 1945 darauf ankam, die allegorische Dimension des Textes, seine Lektüre als Schlüsselroman, unplausibel zu machen, wäre es in der Nachkriegszeit möglicherweise opportun erschienen, genau jene Lesart zu stärken. Auf einer allzu offensichtlichen Ebene hat Jünger diesem Schwenk allerdings widerstanden: Dies zeigt die Autorin anlässlich der Streichung eines Eintrags im privaten Tagebuch vom Mai 1945, der einen expliziten Zusammenhang zwischen den Terrorinstrumenten des Nationalsozialismus und der „Konzeption“ der Marmorklippen herstellt. Zugleich griff Jünger jedoch in den Tagebüchern auf die Sprache der Marmorklippen zurück, auf die Rede von den „Lemuren“ und den „Schinderhütten“, um damit die nationalsozialistischen Verbrechen zu charakterisieren. Dies geschah verstärkt – als nachträgliches „Ersetzen“ – in Vorbereitung der Publikation der Strahlungen. Jünger ästhetisierte dadurch die Darstellung von Gewalt, verstärkte aber zugleich die Relevanz seiner Fiktion im Hinblick auf das zeithistorisch Konkrete.
Im Rahmen der in der Studie gewählten Perspektive fallen vor allem Textveränderungen als signifikant ins Auge. Im Grunde wäre das „Einfügen“ als wichtigste Operation zur Herstellung eines literarischen Tagebuches gewissermaßen zu erwarten. Denn seine eigene Arbeitsweise hat Jünger in einem prägnanten Bild mit dem Aufgießen trockener Teekrümel verglichen: Erst die Anreicherung des Textes, die in aufeinanderfolgenden Abschriften erfolgt, erschließt demnach sein Aroma. Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaunlich, dass die Untersuchung der Einfügungen weder allzu umfangreich ausfällt noch die eindrücklichsten Ergebnisse liefert. Von zeithistorischer Relevanz erscheint hier vor allem die Darstellung von Kontakten zu Angehörigen der Verschwörung des 20. Juli, die Jünger in seinen Abschriften verstärkt hat. Gerade hier bleibt die Einordnung jedoch ambivalent, konstatiert van de Löcht: Wurden entsprechende Passagen aufgrund akuter Gefährdung zunächst vermieden, oder wurden sie im Hinblick auf eine günstige Rezeption der eigenen Person nachträglich eingefügt?
Im Hinblick auf Jüngers Schreibweise, seine Technik der „ästhetischen Überhöhung“, die oft einen semiotischen Bogen schlägt vom konkret Beobachtbaren hin zu dessen übergeordneter Bedeutung, kommt die Autorin zu einem anderen Befund: Ein überwiegender Teil von deutenden Ergänzungen ist demnach bereits in den überlieferten Manuskripten im Kern angelegt. Durch nachträgliches Einfügen wird demnach bereits Angelegtes entfaltet, präzisiert oder auch stilistisch geglättet, aber kaum substantiell verändert oder kategorial erweitert. Dies gilt selbst für die gelehrten Exkurse, die beim Leser der Tagebücher den Eindruck erwecken, dem Autor sei seine literarische und naturwissenschaftliche Bildung stets umfassend präsent. Die entsprechenden Passagen finden sich vielfach bereits bei frühen Textzeugen, so van de Löcht.
Die Studie bietet eine Vielzahl präzise erarbeiteter und überzeugend aufbereiteter Erkenntnisse zur Entstehung von Jüngers Tagebüchern und zu seiner impliziten Selbstfiguration als Autor, die dem bekannten Bild viele Details sowie zeithistorische Tiefe verleihen. Mit dem Fokus auf Veränderungen der Textstruktur droht allerdings die im Hinblick auf die Textgenese ebenso relevante Frage nach einer möglichen Konstanz und substanziellen Stabilität des Textes über die Abschriften hinweg aus dem Blick zu geraten. Wo die Methode an ihre Grenzen stößt, entsteht – gewissermaßen in ihrer Negativform – das Bild eines Textes, der in seiner literarisch-diarischen Grundstruktur ein hohes Maß von konzeptioneller Konsistenz über alle Bearbeitungsstufen hinweg aufweist. Ernst Jüngers literarisches Tagebuch scheint damit beides zu sein: Produkt intensiver Bearbeitung und zugleich authentisches Artefakt, Zeugnis von Aufzeichnungen in ‚gefährlichen Zeiten‘.
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