Ein Spiegel des Lesers

Rob van Essen erzählt in „Der gute Sohn“ einen plotlosen Thriller mit Atmosphäre und Spannung

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Mann hat echte Probleme. Eben erst ist ihm die Mutter weggestorben. Dann hat ihm der Verlag sein Buchmanuskript zurückgeschickt. Und jetzt sitzt er mit Lennox in einem Wagen auf der Fahrt nach wer weiß wohin. 40 Jahre haben sich die beiden nicht mehr gesehen, da taucht Lennox einfach auf und sagt, steig ein und frag nicht. Der Erzähler tut es.

In seinem Roman Der gute Sohn erzählt der niederländische Autor Rob van Essen eine Roadnovel, die in den Niederlanden als bester Roman des Jahres 2018 ausgezeichnet wurde. Die Handlung spielt um die Mitte der 2020er Jahre. Fleißige Dienstrobos besorgen das tägliche Einerlei und selbststeuernde LKW karren den Nachschub heran. Die Menschen erhalten ein Grundeinkommen, so dass „ausnahmslos jeder“ schreibt und wenn nicht, stürmen sie in Scharen in die Museen.

Gemeinsam fahren Lennox und der Ich-Erzähler durch den Tag, abends steigen sie in Hotels ab und gehen essen. So geht das vier Tage lang, auf gewundenen Wegen in Richtung eines dem Erzähler nicht offenbarten Bestimmungsorts. Im Gespräch mit dem wortkargen Lennox hat er Zeit und Muße, sich 40 Jahre zurück zu erinnern, als sie sich als 20-Jährige bei der Arbeit im städtischen Archiv von Amsterdam kennenlernten. Anschließend nahm ihn Lennox mit in ein Kloster, das dubiose Aufträge ausführte, bei denen es um einen Mann namens de Meester alias Bonzo ging und ahnungsweise auch um die Entführung des Bierkönigs Batavier.

Aus der Gegenwart betrachtet liegt das alles weit weg. In der Zwischenzeit hat der Erzähler einige Erfolge als Autor gefeiert. Und dann ist da auch noch seine Mutter, die er zwanzig Jahre lang jeden Mittwoch im Altenheim besuchte und die gerade erst mit 100, von Demenz umnachtet, verstorben ist. Auch wenn er sich als jugendlicher Tunichtgut vom pietistischen Elternhaus löste, ist er stets ein guter Sohn geblieben. Das geht ihm immer detaillierter durch den Kopf, bis Lennox ihn am Morgen des fünften Reisetags in ein selbstfahrendes Auto schiebt und sich aus dem Staub macht. Die Reise geht für den Erzähler alleine weiter, doch der selbstfahrende Wagen entpuppt sich als wunderbarer Gesprächstherapeut.

Durch Zufall hat der Erzähler für sich das Konzept des „plotlosen Thrillers“ entdeckt, als er in einer Buchkritik über irgendeinen Roman schrieb: “viel Atmosphäre und Stimmung, ohne dass die Spannung jemals nachlässt. Der Roman liest sich wie ein plotloser Thriller“. Daraus wurde sein Markenzeichen, mit dem auch Rob van Essen spielt. Auch seine Roadnovel ist ein Buch voll Atmosphäre und Stimmung, in dem kaum etwas geschieht, alles irgendwie nebelhaft bleibt und bestenfalls gegen Ende so etwas wie ein Plot im engeren Sinn verraten wird. Die Spannung nährt sich allein aus der Erwartung auf eine furiose Auflösung, während der Erzähler die eintönige Fahrt nutzt, um sich seine Existenz als guter Sohn vor Augen zu halten. „Der gute Sohn / die Mutterliebe ist für ihn Mission“, kalauert der selbstfahrende und mit frivolem Witz begabte Wagen, der ihn über Land fährt.

20, 40, 60 – das Leben flitzt vorüber und auf einmal ist es aus. Gerne möchte der Erzähler sich wie ungerade 35 fühlen, doch mit einer 100-jährigen Mutter wird man selbst unausweichlich alt. Sie standen sich nie besonders nah, dennoch kümmerte er sich rührend um sie, als sie zusehends in ihrer Vergesslichkeit versank. Er versuchte ihr Gedächtnis mit Fotos aufzufrischen; als dies nichts mehr nützte, zog er sich schlampig an, damit ihn die Mutter ermahnen konnte, das Hemd korrekt zu knöpfen. Der gute Sohn erzählt all dies mit feinen Zwischentönen, die oft herrlich lakonisch klingen und zugleich eine rührende Intimität verraten. Dass die schönsten Stellen im Dialog mit dem selbstfahrenden Wagen gelingen, bestätigt bloß, dass der Erzähler erst im Selbstgespräch den wunden Punkt berührt: ein guter Sohn gewesen zu sein, statt eines Rebells und bahnbrechenden Schriftstellers.

„Du gibst den Lesern, was sie wollen“, schrieb der Erzähler in besagter Kritik auch, „du lässt sie die Geschichte selbst erfinden“. Literatur gibt nicht mehr die narzisstischen Launen eines Autors wieder, sondern wird zum „Spiegel des Lesers“, stellt er klar. Auch das ist es, was diesen Roman zur gewinnenden Lektüre macht. Hinweise auf den allfälligen Handlungsstrang sind nur mit wenigen Strichen angedeutet, damit dem Erzähler viel Raum bleibt, um die Langeweile ungestört mit seinem eigenen Sinnieren zu füllen. Darum herum entwirft Rob van Essen wie nebenbei eine seltsame Welt, in der die Menschen unmerklich zum Haustier von algorithmischen Intelligenzen regredieren, die mit einem Grundeinkommen bekommen, was sie benötigen. So lässt sich auch der Erzähler unmerklich in ein verwirrendes Komplott aus fremdbestimmten Codes verwickeln.

Erst recht bleibt so die Frage virulent, was denn den Menschen ausmacht, was ihm nicht genommen werden kann und wo er, vielleicht wider Willen, ganz bei sich selbst ist. In Der gute Sohn gelingt der Spagat, wie es der Erzähler früher schon formulierte: „Wir haben es hier mit Erstaunen gelesen, nicht nur wegen der Science-Fiction-Elemente, sondern hauptsächlich, weil sich in diesem Teil etwas wie ein Plot herauskristallisiert, und das steht natürlich dem Konzept der Reihe diametral entgegen.“

Dieses Doppelspiel von intimer Mutterbeziehung und dystopischer Szenerie ergibt am Ende einen stimmigen Roman, der alle die diskret gestreuten Signale akkurat in einem Ganzen aufhebt.

Titelbild

Rob van Essen: Der gute Sohn.
Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure.
homunculus Verlag, Erlangen 2020.
390 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783946120636

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