Muränen, Einsiedlerspinnen und Blapse

In ihrem neuen Roman „Der Zorn der Einsiedlerin“ lässt Fred Vargas Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg über allerhand unschönes Getier stolpern

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie ist schon einzigartig, diese Figur, die die französische Autorin Fred Vargas – mit bürgerlichem Namen Frédérique Audoin-Rouzeau – zum ersten Mal 1991 in ihrem Roman L’homme aux cercles bleus (unter dem Titel Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord zwölf Jahre später auf Deutsch erschienen) auftreten ließ. Jean-Baptiste Adamsberg, seines Zeichens Kommissar im Pariser 13. Arrondissement, löst seine Fälle per Intuition. Als in sich gekehrter, die Langsamkeit schätzender „Wolkenschaufler“ ist er sowohl für seine Mitwelt wie auch für das Team, das er als Mordermittler leitet, reichlich rätselhaft. Mit Der Zorn der Einsiedlerin liegt nun der elfte Roman – 2010 war Adamsberg zudem Held einer Graphic Novel – um diesen Mann vor. Und wieder beweist seine Erfinderin, dass ihr in puncto Fantasie, Skurrilität und der unnachahmlichen Verknüpfung von Realismus, Märchenhaftem und Aberglauben niemand, der im Europa unserer Tage Krimis schreibt, das Wasser reichen kann.

Vargas’ neuer Roman startet da, wo der vorhergehende aufhörte: in Island. Dahin, wo er bei der Lösung des Falls um eine geheimnisvolle Mordserie, die in Eis und Nebel ihren Anfang nahm, beinahe umgekommen wäre, hatte sich Vargas’ Held auch deshalb wie in ein freiwilliges Exil zurückgezogen, weil seine intuitive Arbeitsweise die Abteilung in zwei einander immer unversöhnlicher gegenüberstehende Lager gespalten hatte. An der Spitze des einen der Kommissar selbst, an der des anderen sein Stellvertreter Danglard, eine Art Lexikon auf zwei Beinen. Auch in Der Zorn der Einsiedlerin läuft es wieder auf eine Konfrontation dieser beiden Gruppen hinaus. Denn kaum ist Adamsberg aus dem hohen Norden zurück und hat im Handumdrehen den Fall gelöst, dessentwegen er geholt wurde, da verbeißt er sich aus heiterem Himmel wieder in eine Geschichte, die mehr nach Brehms Tierleben als nach einer Aufgabe für die Kriminalpolizei aussieht.

Es geht um tödliche Spinnenbisse, mit denen die Presse offenbar bemüht ist, ihren sinkenden Auflagenzahlen entgegenzuarbeiten. Doch die drei Todesopfer, die auf das Konto der Braunen Einsiedlerspinne gehen sollen, wecken das Misstrauen des Kommissars. Und bald wittert er hinter einer Geschichte, die eigentlich Ärzte, Epidemiologen und Zoologen auf den Plan rufen sollte, eine ganz ausgekochte Art, missliebige Zeitgenossen aus dem Weg zu räumen. Mord mithilfe großer Mengen von Spinnengift – der Biss einer einzigen Vertreterin der Art, der die Lateiner den Namen Loxosceles reclusa verpasst haben, reicht nämlich bei Weitem nicht aus, um den Gebissenen zu töten, es müssten schon ein paar Dutzend der überaus scheuen und nur in der Nacht aktiven Tiere über das Opfer herfallen, um eine letale Wirkung zu erzeugen. Dieser Hypothese vermag sich zunächst niemand aus Adamsbergs Abteilung anzuschließen. Nichts als eine – im wahrsten Sinne des Wortes – „Spinnerei“ vermutet man hinter dem neuesten Faible des Chefs und verweigert ihm damit bereits zum zweiten Mal die Gefolgschaft.

Aber Adamsberg weiß, wie er um seine Getreuen kämpfen muss. Und als er ein paar der Abtrünnigen schließlich um sich geschart hat – darunter Violette Retancourt, die „Mehrzweck-Göttin der Brigade“ und der gern seine Gedanken in Versform fassende Béarner Louis Veyrenc, ein Landsmann des Kommissars –, macht er sich auf den Weg in die Gegend um Nîmes, den Südosten Frankreichs, um dem Geheimnis der Spinnenbisse auf die Spur zu kommen. Nur Danglard bleibt zähneknirschend in  Paris zurück und scheint es diesmal tatsächlich darauf angelegt zu haben, den Respekt, den Adamsberg bei den Seinen genießt, zu untergraben und damit letztlich wohl sogar auf dessen Position zu schielen, also vom Stellvertreter zum Chef werden zu wollen. Wie Vargas diesen Konflikt ihrer beiden „Damhirsche mit fest verhakten Geweihen“ schließlich löst, gehört zu den besten Einfällen dieses Romans und soll hier genauso wenig verraten werden wie die Auflösung des Ganzen.

Adamsbergs Interesse für Einsiedlerspinnen führt ihn und die langsam wachsende Zahl derjenigen, die sich seiner zunehmend gefährlicher werdenden Expedition ins Tierreich anschließen, schnell auf die Spuren derjenigen, die der giftigen Spinnenart einst ihren Namen liehen: jener Einsiedlerinnen – Inklusen oder auch Reklusen genannt –, die vom Mittelalter bis noch ins 16. Jahrhundert hinein sich freiwillig einschließen ließen, um fortan von der Barmherzigkeit der Menschen zu leben und oft jahrzehntelang in totaler Isolation dem Tod entgegenzuwarten. Das Nachdenken über die Frage, ob es religiöser Wahn oder (in der Regel von Männern) zugefügtes Leid war, was Frauen veranlasste, sich lebendig einmauern zu lassen, bringt Adamsberg schließlich nicht nur dazu, sich eines ihn seit der Kindheit quälenden Traumas zu entledigen, sondern auch der Aufklärung des aktuellen Falls ein paar entscheidende Schritte näherzukommen.

Es ist ein Waisenhaus, auf das der Kommissar und die Seinen schließlich stoßen. Hier lebte in den 1940er Jahren eine Gruppe von Jungen – „Blapse“ nennt sie Adamsberg fortan nach den Stink- oder Totenkäfern, die als Vorboten kommenden Unheils angesehen werden –, die nicht nur ihre Mitinsassen tyrannisierten, sondern auch rund um die Einrichtung Angst und Schrecken verbreiteten. Unter anderem waren es Einsiedlerspinnen, die von ihnen dazu benutzt wurden, andere zu peinigen und schwer zu verletzen. Da die aktuell durch das Spinnengift zu Tode Gekommenen zu dieser Bande gehörten, die ihr Unwesen auch im Erwachsenenalter fortsetzte, scheint eine heiße Spur zu jenen oft schwer Versehrten zu führen, die ihr Leben lang unter den unmenschlichen Quälereien litten und wohl auf eine adäquate Rache sannen.

Wie man das aus ihren anderen Romanen kennt, erzählt Fred Vargas auch in Der Zorn der Einsiedlerin eine Geschichte, die so fein gesponnen und mannigfach verästelt ist wie das Netz jener Tiere, denen sie diesmal eine Hauptrolle anvertraut hat. Die jüngst mit dem spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Kategorie Literatur für ihre Verdienste um die Erneuerung des Thriller-Genres ausgezeichnete Französin zieht dabei alle Register ihres Könnens: Märchenhaftes verbindet sich spielerisch mit unserer Realität, Tierisches mit (Un-) Menschlichem, Historisches mit Geträumten. Es geht um Gewalt und ihre Folgen, Vertrauen und Verrat, Vergangenheit und Gegenwart. Und selbst da, wo die Erzählung sich scheinbar auf ein Nebengleis begibt – wie etwa in der Episode mit der von einem Nachbarn sexuell belästigten Computerexpertin des Teams, die in der Abteilung übernachtet, weil sie sich nicht mehr in ihre Wohnung traut –, wird schnell klar, wie raffiniert selbst scheinbar Nebensächliches mit den Hauptthemen dieses Romans verknüpft ist. Très fantastique, Madame!

Titelbild

Fred Vargas: Der Zorn der Einsiedlerin. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Französischen von Waltraud Schwarze.
Limes Verlag, München 2018.
507 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783809026938

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