Gedanken, Stimmungen und Lektüren

Zur Edition von Rahel Levin Varnhagens „Tagebüchern und Aufzeichnungen“

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Rahel Levin Varnhagen (1771-1833) nicht nur oberflächlich als eine der Protagonistinnen der Berliner Salonkultur identifiziert, der ist womöglich dank Hannah Arendts gleichnamiger Biographie mit ihr als – so der Untertitel – „einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ vertraut. Insbesondere dank der jahrzehntelangen Arbeit zweier Literaturwissenschaftlerinnen, Barbara Hahn und Ursula Isselstein, werden ihre Texte aber zunehmend erschlossen, sodass durchaus von der (Wieder-)Entdeckung einer Schriftstellerin zu sprechen ist. Als Autorin ist Rahel Varnhagen insbesondere durch ihre Briefe bekannt (drei Bände der italienisch-deutschen textkritischen Edition Rahel Levin Varnhagen laden hier zur ausgiebigen Lektüre ein). Auch das von ihrem Mann Karl August Varnhagen erstmals nach ihrem Tode herausgegebene Buch des Andenkens für ihre Freunde (1833), in das viele Briefe eingegangen sind, ist zu gewissem Ruhm gelangt. Dennoch ist vor diesem Hintergrund zu verstehen, weshalb Rahel Varnhagen auch als „Autorin ohne Werk“ aufgefasst wurde. 

Herausgeberin Issenstein konstatiert im Nachwort zur kritischen Werkedition der Tagebücher und Aufzeichnungen, das tatsächlich einer äußerst komprimierten Studie zu Rahel Varnhagens Schreibpraxis und intellektuellem Kontext gleichkommt, dass diese als Tagebuchschreiberin noch „nahezu unbekannt“ sei. Als solche gilt es sie nun zu entdecken: Die Edition bietet die Gelegenheit zu einem viel umfassenderen und zugleich differenzierteren Kennenlernen der Autorin als es bisher möglich war. Die Abteilung A der Edition enthält die Tagebücher (A-N), die zwischen 1795 bis kurz vor Rahel Varnhagens Tod 1833 geführt wurden; die Abteilung B Konvolute und lose Blätter, darunter Reiseaufzeichnungen, Lektürenotizen, Briefe und – von besonderem und über Rahel Varnhagen hinausreichendem Interesse – auch Mitschriften von Vorlesungen (so von A.W. Schlegel 1801/02 in Berlin) sowie Aufzeichnungen von Mündlichem. Die letzte Abteilung C enthält dann den voluminösen Anhang, der neben den Anmerkungen auch eine Autopsie der Bibliothek der Autorin umfasst. Diese Autopsie erfasst außer den Titeln selbst auch den Grad der Lektürespuren bzw. Anstreichungen.

Überhaupt nehmen Lektüren einen zentralen Raum in ihren Tagebüchern und Aufzeichnungen ein, die ganze Lektürelisten, Kommentare und Marginalien zu Gelesenem enthalten. „Jede Äußerung, in welcher Form auch immer, ist Dialog“, schreibt Isselstein dazu, und das sei  Rahel Varnhagens Zeitgenossen überaus präsent gewesen. Vom Dialogischen als Merkmal ihres gesamten Schreibens ist es nicht weit zu der für ihre Zeit so zentralen Praxis der Geselligkeit, die die Autorin mit feinem Gespür auf dem Papier umsetzt und auch theoretisch unterfüttert. Dies nicht nur in den Briefen, wie zu erwarten wäre – vielmehr scheinen, so Isselstein, bei ihr „Tagebuch und Brief ihre traditionellen Gattungsmerkmale vertauscht zu haben.“

So brauche sie für ihr Tagebuch einen realen oder imaginierten Adressaten. Isselstein spricht für die an die Geschwister oder den Mann gerichteten Berichte von besonders gelungenen „Briefjournalen“, die nicht immer auch gesendet wurden. Dagegen fänden sich besonders intime Selbstanalysen und Bekenntnisse in der eigentlichen Briefkorrespondenz. Die Tagebücher und die losen Blätter der Aufzeichnungen enthielten vorwiegend nicht „Intimes“, sondern Gedanken; und „Denkblätter“ nannte Rahel Varnhagen selbst zu Lebzeiten ihre publizierten Texte. Von „Stimmungen und Gedanken“ spricht sie in einem Brief an ihren Mann, auch von „Gedanken, Vorstellungen und Einfällen“, und diese Mélange findet sich in den Texten.

„Mann kann mit den Empfindungen wie mit andern Gütern schlecht haushalten“, schreibt sie in einer der frühen Aufzeichnungen, und doch lässt sich das regelmäßige diaristische Schreiben gerade als Versuch dazu lesen. Immer wieder geht es in der Auseinandersetzung mit Gelesenem, im Umgang mit den durch dieses ausgelösten Empfindungen auch darum – wie sie selbst schreibt – „wahr seyn zu können“. Es geht um das Leben in der Wahrheit, um Sich-selbst-sein, um Entblößung und Scham. Die edierten Texte sind aber, wie das postum von Karl August Varnhagen herausgegebene Buch des Andenkens, auch Zeugnis der überaus produktiven und vielseitigen Zusammenarbeit eines Paares, die von Isselstein genau nachgezeichnet wird – anhand von gemeinsamen Redigierungen, Anstreichungen im Text von einem der beiden, aber auch Tilgungen Karl Augusts.

Jenseits dieser Zusammenarbeit zeigt sich  Rahel Varnhagen in den Tagebüchern nicht nur als eine bedeutende weibliche Stimme der Romantik (die im übrigen mit der „romantischen“, d.h. sentimentalen Liebesauffassung hart ins Gericht geht). Sie, die mit Isselstein gesprochen „die Teilnahme der Frauen am philosophischen Wahrheitsdiskurs“ einfordert, überzeugt durch ihre gedankliche Schärfe. Die „menschlichste Eigenschaft im Menschen“, schrieb Rahel Varnhagen einmal, sei es „Urtheil [zu] haben; ein unverletzliches Recht es [zu] üben: urtheilen.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Rahel Levin Varnhagen: Tagebücher und Aufzeichnungen.
Herausgegeben von Ursula Isselstein.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
1064 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783835333154

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