Was ist Freundschaft?

Björn Vedder gibt neue Antworten auf eine kühne Frage

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des Buches Neue Freunde. Über Freundschaft in Zeiten von Facebook verkauft den Inhalt massiv unter Wert. Ja, es geht auch ein bisschen um Facebook. Es geht auch um die Vorbehalte, die eine etwas angestaubte Kulturkritik in bester Absicht, aber weitgehend folgenlos gegen Facebook vorbringt. Und, ja, es geht auch darum, wie zwei Menschen Freunde werden. Aber mit dem Wort „neu“ im Titel ist viel mehr gemeint, und zwar so viel, dass dem Leser angesichts des intellektuellen Wagemuts manchmal der Atem stockt. Zumal der Autor Björn Vedder eben auch noch einhält, was er verspricht – „eine Theorie der Freundschaft“ zu liefern.

Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich die westliche Gesellschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts so stark verändert hat, dass klassische Formen und Funktionen von Freundschaft nicht mehr ohne Weiteres aktualisierbar sind. Vedder zufolge brauchen wir also neue Vorstellungen von jener Praxis, die so viele Menschen als eines der höchsten Güter und eine der schönsten Erfahrungen des Lebens bezeichnen. Neue Freunde will feststellen, was „Freundschaft“ heute heißen kann.

Das sei besonders deshalb nötig und dringend und schwierig, weil es uns in der Gestaltung unserer Freundschaften an eindrücklichen Vorbildern fehle. Vedder meint, dass unsere Definitionen von Freundschaft und unser tatsächlicher und alltäglicher Umgang mit Freundschaft nicht miteinander im Einklang stehen und dass wir literarische, filmische oder andere künstlerische Darstellungen von Freundschaft nicht sorgfältig genug nachvollziehen und beherzigen.

Vedder sagt zwar, dass es sich bei seinem Buch nicht um einen Leitfaden handele, und das ist auch richtig. Aber sowohl die intellektuelle Stringenz der Argumentation, die sich mit Platon, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Immanuel Kant, Jean-Jacques Rousseau und Michel de Montaigne auseinandersetzt, als auch die hellsichtige und unaufgeregte Gegenwartsdiagnose sowie die kompetenten Deutungen der herangezogenen Freundschaftsliteratur von so unterschiedlichen Autoren wie Bruce Springsteen, Johann Wolfgang Goethe und Maurice Maeterlinck sorgen zumindest einmal dafür, dass der Blick des Lesers geschärft wird und er versteht, dass er sich um seine Freundschaften wirklich kümmern muss. Es spricht im Übrigen für die intellektuelle Robustheit und die Stilsicherheit des Buches, dass sich die vom Autor erzählten Begebenheiten aus seinem eigenen Leben nahtlos in den Gang der Untersuchung einfügen, ohne affektiert zu wirken.

Und wie sieht die neue Freundschaft nun aus? Anders als die Kameradschaft, anders als die vielbeschworene Freundschaft in der Not und nicht grundsätzlich im Widerspruch zur Nutzung sozialer Medien. Dafür nicht ohne Eigennutz und Eigenliebe, aber mit diesen beiden als Verbündete in einem Ringen um die Anerkennung durch den Freund, das zur Mäßigung und Stabilisierung sowohl der eigenen Identität als auch der gemeinsamen Freundschaftsbeziehung führt und nebenbei, aber nicht zufällig, auch noch mit der Kultivierung oft als altmodisch abgetaner Tugenden verbunden ist. Vom Pathos der Authentizität hält Vedder nicht viel, weil es letztlich viel schneller in die Isolation führe als jedes virtuelle Netzwerk.

Dass es in der Freundschaft heute trotzdem primär um Anerkennung und Bestätigung gehe, hat also gerade nichts mit der Egomanie einer neoliberalen Wettbewerbsordnung zu tun. Man könnte es, wenn man Vedders Gedanken noch einen kleinen Schritt weiterdenkt, gerade als Gegenentwurf dazu lesen, als Versuch, mir und dem vertrauten Menschen zu versichern, dass wir trotz mobiler Globalisierung und virtueller Arbeit und beschleunigtem Burnout und algorithmischer Verdrängungswettbewerbe noch da sind, noch Mensch sind, und das mit gutem Recht und hoffentlich bald auch wieder mit echter Freude.

Vedder schlägt den Bogen von der Ethik eines Emmanuel Levinas über die Phänomenologie eines Bernhard Waldenfels und die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers bis zu Knigges Gesellschaftskunst, um das zu erkunden, was er ohne Verlegenheit die „heitere Vertrautheit“ nennt, als der wir die Freundschaft erfahren.

Ein wunderbares Buch also, anspruchsvoll und ehrlich, und eines, in dem man sich nicht nur dauernd etwas anstreicht, sondern fast schon versucht ist, die angestrichenen Formulierungen auswendig zu lernen. Wer hätte so etwas erwartet.

Titelbild

Björn Vedder: Neue Freunde. Über Freundschaft in Zeiten von Facebook.
Transcript Verlag, Bielefeld 2017.
198 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783837638684

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