Rituale und Routinen eines Einsamen

Aus einem ungeliebten Neffen wird in Lot Vekemansʼ Roman „Der Verschwundene“

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Mitmenschen, auch eine literarische Figur, sollte man nicht als „Wrack“ bezeichnen. Gründlich gescheitert aber ist der Niederländer Simon in Lot Vekemansʼ Roman Der Verschwundene. Simon lebt seit 25 Jahren in Kanada, ohne dass sich die Träume des Auswanderers erfüllt hätten. Lediglich die Trennung von der Familie ist gelungen. Er vermisst weder die egozentrische Mutter noch den zu einer anderen Frau geflohenen Vater und schon gar nicht den Zwillingsbruder Ruud, der immer die Hauptrolle spielte. Simons Onkel in Kanada war, wie vom Vater vermutet, ein Betrüger und trieb Simon in den finanziellen Ruin. Der ernährt sich damit, dass er, sich von seinen koreanischen Kollegen fernhaltend, Ölbohrer fräst, immer drei Stück an zwei Tagen.

Mit einer nicht heilenden Wunde am Bein geht es ihm körperlich hoffnungslos schlecht. Psychisch nimmt er die fast totale Kontaktlosigkeit ohne Selbstmitleid hin und lebt von Tag zu Tag. Das Alleinsein ist ihm zur zweiten Natur geworden. Auf Reinheit, Ruhe und Regelmäßigkeit abzielende Rituale und Routinen prägen seinen Alltag.

Lot Vekemans, die hauptsächlich und überaus erfolgreich fürs Theater schreibt, liefert auch als Romanautorin hohe Qualität. Die knappen und scharfen Dialoge sind bühnenreif, und die Schauplätze und Nebenfiguren in den Rocky Mountains wie auch das Innenleben der Hauptpersonen werden in glasklarem und oft kritischem, aber nie abfälligem Ton geschildert. Diese sprachliche Balance wird von der Übersetzerin Andrea Kluitmann vorzüglich ins Deutsche gebracht.

Der titelgebende Verschwundene ist Simons pubertierender Neffe Daan, den er auf Bitte von dessen Mutter für unbestimmte Zeit aufnimmt. Zwischen den beiden funktioniert gar nichts, und die Handlung eskaliert, als Daan bei einer von ihm durchgesetzten Fahrt in die Berge verschwindet, nachdem er sich einem fremden Mann und dessen Sohn angeschlossen hat. Von Simons Verdacht, der Fremde könne Kinderschänder oder Drogendealer sein, bis hin zum Misstrauen der Polizei gegen Simon selbst wird äußere Spannung gekonnt aufgebaut. Wie das Ganze ausgeht, sei hier nicht preisgegeben.

Der anrührende Roman lebt wesentlich von der inneren Spannung. Findet Simon, der für die Hundezüchterin Nancy ein Fünkchen Freundschaft aufbringt und seine wegen seines Beinschadens bei ihr untergebrachten beiden Hunde innig liebt, einen Weg aus der Einsamkeit? Es spräche für den kühnen Einfallsreichtum der Autorin, wenn Rettung ausgerechnet von der Polizistin Lana käme, die bei Simons Verhör den Lügendetektor bedient hat. Hoffnung bleibt.

Titelbild

Lot Vekemans: Der Verschwundene. Roman.
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
266 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835355347

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