Mit Bathos am Abgrund entlang

Dimitri Verhulst hat zwei brutale und ehrliche Geschichten über Heimkinder geschrieben

Von Sebastian MuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Musch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Narben hinterlässt eine Jugend im Kinderheim? Dimitri Verhulst, selber in einem Kinderheim aufgewachsen, gibt eine zutiefst verstörende Antwort. Heute gehört Verhulst zu den erfolgreichsten Schriftstellern Belgiens. Sein Durchbruch gelang ihm mit dem Roman Die Beschissenheit der Dinge (2006 in Belgien als De helaasheid der dingen veröffentlicht), der die Schreckensjahre seiner Jugend zwischen Alkoholismus und Gewaltexzessen beschreibt. Seine Jugend ist noch immer der Quell, aus dem er seine Energie, seine Wut und seinen Erzähldrang zieht. In Die Unerwünschten nutzt er nun seine Erfahrungen im Kinderheim für zwei, sowohl inhaltlich als auch stilistisch, recht unterschiedliche Erzählungen. Ausgangspunkt ist Verhulsts Erfahrung, dass Heimkinder für ihr ganzes Leben gezeichnet sind und kontinuierlich am Abgrund wandeln. Beide Geschichten sind brutal bis zum Unerträglichen und mit Sinn für Dramatik und Überraschungseffekt geschrieben. Doch trotz des unbestreitbaren literarischen Talents Verhulsts funktioniert hier nicht alles.

Die erste der beiden Geschichten, auch durch ihre außergewöhnlichen Erzählperspektive, ist zweifelsohne ein fein durchkomponiertes Glanzstück. Ungeschminkt schildert Verhulst eine hoffnungslose Welt, die diejenigen seelisch, moralisch und auch physisch zerstört, die in sie hinein geraten. Ergreifend und von schwarzem Humor durchzogen, gelingt es Verhulst, den Mikrokosmos Kinderheim lebendig werden zu lassen. Dennoch scheint bereits hier durch, was die zweite Geschichte, beinahe eher Entwurf als ausformulierte Erzählung, scheitern lässt. Denn in seinen besten Momente ist Die Ungewünschten ehrlich und schonungslos, in seinen schwächsten Momenten hingegen werden Brutalität und Vulgarität zu Mitteln um des reinen Schockmomentes willen. Zu oft erliegt Verhulst der Versuchung, unmotiviert noch weitere schockierende Passagen anzubringen.

So gibt zum Beispiel die zweite Geschichte mit dem Titel Die Ankunft am bleichen Morgen die Zeugenaussagen von Stefaan und Sarah wieder, die beschuldigt werden, ihr Kind ermordet zu haben. Aufgrund der reduzierten Form kann hier Verhulst seine erzählerischen Stärken nicht ausspielen. So bleiben allein die verstörenden Momente als hervorstechende Aspekte. Der Autor lässt nicht nur die Protagonistin ihr Neugeborenes mit dem Hintern erdrücken, was ja an sich schon schlimm genug wäre, sondern anschließend auch noch über die Frage sinnieren, ob es den pietätlos sei, dem gerade ermordeten Kind ins Gesicht zu furzen. Das mag man grenzgängerisch, provokant oder geschmacklos finden, als literarisches Mittel taugt es nur bedingt.

Dass diese Schockhuberei nicht bereits mit dem Titel anfängt, liegt an der Entscheidung des Luchterhand Verlags, den Originaltitel des Buches, Kaddisj voor een kut – auf Deutsch Kaddisch für eine Fotze – in Die Unerwünschten zu ändern und damit zu entschärfen. Die erste der beiden Geschichten greift den Originaltitel zwar auf, den der routinierte Übersetzer Rainer Kersten sachte zu Requiem für eine Fotze korrigiert hat, dennoch mindert diese Korrektur die Fallhöhe zwischen Kaddisch und Fotze, welche durch die Alliteration im Niederländischen besonders hoch ist. So verweist allein der niederländische Originaltitel auf Verhulst liebstes Stilmittel, den Bathos, jenes Mäandern zwischen Pathos und Gag, zwischen dem Erhabenen und dem Grobschlächtigen. Oftmals wirkt das willkürlich und schrammt knapp am Kalauer vorbei. Doch manchmal, in den besten Momenten des Buches, zeigt sich die beachtete Wirkung und konfrontiert den Leser mit den Abgründen der Gesellschaft. Hierin liegt natürlich Absicht, würde Verhulst erwidern, denn so ist nunmal das Leben der Heimkinder: grob und schonungslos.

Titelbild

Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874791

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