Ein Blog zu viel

Vladimir Vertlibs neuer Roman „Zebra im Krieg“

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, ein Zebra kommt auch vor. Nach den Gefechten am und im Zoo irren die Überlebenden durch die Stadt, und so steht irgendwann ein Zebra auf der Straßenkreuzung. Man kann aber auch in Paul, der Hauptfigur von Vladimir Vertlibs neuem Roman, eine Art Zebra sehen: verletzbar und ungeschützt, mal lieb, mal wütend – und oft auf der falschen Seite. Im Grunde ist Paul ein ziemlich normaler, lebhaft am Zeitgeschehen interessierter Mann, und neuerdings ist er auch ein meinungsfreudiger Blogger.

Mit seiner über alles geliebten zwölfjährigen Tochter Lena, seiner als Klinikärztin tätigen Ehefrau Flora und seiner Mutter Eva lebt der gelernte Flugzeugingenieur in einer südosteuropäischen Hafenstadt, die früher mal zum Sowjetimperium gehörte und in der Erzählgegenwart von bewaffneten, also lebensgefährlichen Konflikten zwischen korrupten und brutalen Clans gebeutelt wird. Die Stadt, es könnte Odessa sein oder Mariupol, war „Magnet und Schmelztiegel“ gewesen, „Sprachenbabel und Sehnsuchtsort“ für Italiener, Griechen, Türken, Russen, Araber, Deutsche, Armenier, Roma, Franzosen, Rumänen, Georgier, Tataren und andere mehr, für Christen, Moslems und Juden und vor allem für Glücksritter jeglicher Herkunft und Couleur. Paul liebt seine Stadt, auch wenn sie von „der Stadtverwaltung, dem Gouverneur, den Bezirksvorstehern und den diese Clique finanzierenden finsteren Gestalten, die jeder kennt, aber niemand beim Namen nennt“, vollkommen heruntergewirtschaftet wurde.

Vor den Kämpfen, bevor die Kontrahenten ihre Transparente, Fahnen und Megafone gegen automatische Waffen und Granatwerfer tauschten, hätte sie eine Perle des Tourismus werden können.

Nun aber herrscht Krieg, und was das konkret heißt, führt der Autor gekonnt und glaubwürdig vor Augen. Nicht von ungefähr wird immer wieder auf Szenen aus den Grafiken und Gemälden Francisco de Goyas angespielt – Krieg bedeutet zuallererst einmal Angst und Schrecken. Dieser Krieg, den man offiziell „eine erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen“ nennt, bedeutet aber auch, dass man einiges Geschick und viel Glück braucht, um relativ heil durch den rasch wechselnden Wahnsinn zu kommen. Zebras haben da wenig Chancen. Paul, der in seinem Blog ausgerechnet denjenigen Milizenführer übel beleidigt hatte, der jetzt an der Macht ist, wird von drei Bewaffneten verschleppt und öffentlich gedemütigt – vor laufenden Kameras pinkelt er sich aus Todesangst in die Hose, und als er wieder freikommt, nennt man ihn überall nur noch den „Pisser“.

Ohne Rücksicht auf zartere Gemüter führt der Autor sehr überzeugend vor, was die sogenannten sozialen Medien bei Netzsüchtigen anrichten können – er nehme mit Sorge wahr, so Vertlib in einem Interview mit Ralf Leonhard, „wie uns die sozialen Medien korrumpieren, süchtig machen, unsere schlechten Charaktereigenschaften verstärken“ (tageszeitung, 17.2.22).

Welche jähen und überraschenden Volten das immer surrealer anmutende Romangeschehen schlägt, sei hier nicht verraten. Hervorgehoben sei allerdings, dass dem Roman nicht nur durch Vertlibs eindringliche Bezugnahme auf das Alte Testament eine existenzielle Tiefendimension eingezogen ist, und betont sei auch, dass das Jüdisch-Sein und der überall aufscheinende Antisemitismus wichtige Themen sind – das in Pauls Haus wohnende alte Ehepaar Katz bekommt zu spüren, was Antisemitismus konkret bedeutet. Ja, ein Familien- und ein Nachbarschaftsroman mit prägnanten Nebenfiguren ist Zebra im Krieg auch. Ein mühelos zugängliches, realistisch erzähltes Werk – untersetzt allerdings mit historisch exakt recherchierter und philosophisch reflektierter Abgründigkeit.

Am Ende hat das Regime erneut gewechselt, die Familie kann ein wenig aufatmen, und Paul wird mehr oder weniger rehabilitiert. Für seine Mitwelt bleibt er dennoch „der Pisser“ – wer einmal im Netz ist, bleibt immer im Netz.

Wer möchte leben in so einer Stadt? In so einem Land? Sollte man nicht anderswo ganz neu anfangen? Auch im Blick auf die nächste Generation? „Manchmal macht Lena den Eindruck, stark, unbekümmert, unverwundbar zu sein, aber er kennt sie besser. Er weiß, wie verletzbar sie ist“. Zebra im Krieg ist eine literarische Anklage gegen Unmenschlichkeit, Willkür und Gewalt. Der Text macht wenig Hoffnung auf rasche Veränderungen hin zu einem menschenwürdigen Leben, aber er gibt keine definitiv pessimistischen Antworten – die Zukunft bleibt offen. „Weißt du, mit welchem Streifen ein Zebra beginnt?“, fragt Paul seine Tochter. „Mit einem schwarzen oder einem weißen?“

Durch die jüngsten politischen Entwicklungen hat Zebra im Krieg erheblich an Aktualität gewonnen. Vladimir Vertlib, der 1966 im damaligen Leningrad geborene und nach einigen biografischen Turbulenzen zu einem mittlerweile vielfach ausgezeichneten österreichischen Schriftsteller und Publizisten gewordene Sprachkünstler, hat seinen stilistisch eleganten und inhaltlich spannenden Roman lange vor dem Überfall auf die Ukraine geschrieben. Für schwache Nerven ist er weniger geeignet. Vertlib schreckt vor Drastischem nicht zurück, und ein gewisses Würgen ist an manchen Romanstellen kaum zu vermeiden. Die wahren, aber eben auch die Erkenntnis fördernden Beklemmungen stellen sich nach der Lektüre ein – ja, so oder so ähnlich sieht wohl, zumindest an der Peripherie Europas, unsere Gegenwart wirklich aus. Leider. Vielleicht haben viele schon lange geahnt, wie es in einer von perfiden Hassmedien und Fake News dominierten Welt voller Machtgeilheit, Charakterlosigkeit, Brutalität und Skrupellosigkeit zugeht. Vladimir Vertlib führt es uns auf literarisch brillante Art und Weise plausibel vor Augen. Sie zu verschließen hilft bestimmt nicht weiter. Zebra im Krieg zu lesen vielleicht schon.

Titelbild

Vladimir Vertlib: Zebra im Krieg. Roman nach einer wahren Begebenheit.
Residenz Verlag, A-5020 Salzburg 2022.
288 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783701717521

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