Wie leben? Wie erzählen?

Die Sammlung der Essays von Guntram Vesper präsentiert Fragmente ohne Fazit

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von allem Anfang an und immer wieder neu hat sich Guntram Vesper mit der Frage beschäftigt, wie sich ganz bestimmte Erfahrungen auf die literarische Berichterstattung auswirken (können), also auf die Wahl der Wörter, der Bilder, der Imaginationen; Erfahrungen vor allem wie diese: Hierarchie, Macht, Geld, Nähe oder Ferne. Unter solchen und ähnlichen Vorzeichen ist sein Hauptanliegen, Spuren in vertrauten Landstrichen und Kreisen aufzuzeichnen und dazu persönliche Erinnerungsbilder zu versammeln, ständig verknüpft mit dem Bemühen um die adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten; als wäre das selbstverständlich, heißt das auch, in jedem Fall so genau wie nur möglich zu recherchieren und zu erzählen, leidenschaftlich und rücksichtsvoll zugleich.

Guntram Vesper, geb. 1941 in Frohburg (mittlerweile: Landkreis Leipzig), 1957 von dort geflüchtet, redet von sich, von seiner Arbeit, von den ihm bekannten Räumen, er erzählt aus seinem Leben, von seinen Beobachtungen, von Vorstellungen und Zerrbildern, von Verlusterfahrungen; „die privaten und die öffentlichen Katastrophen und das leise Zittern des Bodens sind unser Thema“, er sieht das genauso noch wie seinerzeit Heinrich Mann. Seine Geschichten sind zumeist dort angesiedelt, wo er die meiste Zeit gelebt hat, namentlich in Frohburg oder in Göttingen. Was hat sich, versucht er zu ergründen, was hat sich da und dort ereignet, vor allem in den letzten Jahrzehnten auch verändert? Vieles wirkt immer schon, vieles wirkt hinterher, das Wenigste zu sagen, schillernd, irritierend.

Die öd gewordene, von fast allen schon abgeschriebene Provinz erhält in diesen Beiträgen in vielen Passagen noch einmal die höchste Aufmerksamkeit. Wobei die umsichtig gewählten Strategien der Berichterstattung und somit keineswegs nur die Überschriften, die z. B. Oderbruch und Uckermark ins Auge fassen, wohl nicht zufällig an Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg erinnern. Geschichten aus alten Zeiten, Geschichten über Orte und Gedenkstätten und in erster Linie über Menschen mischen sich in diesen Darstellungen mit Skizzen und Aufnahmen von scharf-beobachteten Entwicklungen bis herauf in die Gegenwart.

Den Kern dieser Sammlung, um deren Zusammenstellung sich Guntram Vesper (in enger Verbindung mit seinem Verleger Klaus Schöffling) noch bis kurz vor seinem Tod im Oktober 2020 gekümmert hat, bilden Texte aus seinem Essayband Lichtversuche Dunkelkammer, der bereits 1992 erschienen ist. Nach dem Erfolg seines großangelegten Hauptwerks, des Romans Frohburg (2016), der kurz nach seinem Erscheinen mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und noch im Jahr darauf mit dem Erich-Loest-Preis ausgezeichnet worden ist, hat der Autor diese Sammlung durch früher nicht berücksichtigte und neue Arbeiten ergänzt, und der Verlag Schöffling & Co. hat zugleich eine Art Gesamtausgabe konzipiert, deren erster Band mit der Prosa 2017 herausgekommen ist: Nördlich der Liebe und südlich des Hasses. Der vorliegende Band erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit; so fehlen z. B. die Radio-Essays, Rezensionen und Interviews, aber die Texte zu den Themenkomplexen Schreiben, Geschichte(n), Orte, Portraits und Bücher sowie am Ende eine kurze editorische Notiz, Nachweise und ein Nachwort von Andreas Platthaus runden diese rundum lesenswerte Sammlung immerhin doch vorzüglich ab.

Die Erinnerungsbilder reichen zurück bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, bis zum Einmarsch der Roten Armee in Sachsen. Gelegentlich sogar noch weiter und tiefer zurück, insbesondere dort, wo die Literatur dem Verfasser zu Hilfe kommt: „Der Brocken ist ein Deutscher.“ Aber – wie sehr hat seine Umgebung sich verändert seit der Zeit, in der Stendhal und Heine den Rundblick von seinem Gipfel aus beschrieben haben? Vesper verzichtet auf Lamentationen, er begnügt sich damit, ganz private Gedanken und subtile Anmerkungen vorzutragen; festgemauerte Verurteilungen, ein Fazit zu ziehen überlässt er gerne anderen. Vor allem nach unvergesslichen Tagen im Harz, die er sich mit einem für ihn sehr bezeichnenden Schluss-Satz für immer einprägt: „Ich lasse die Hand ins klare Wasser hängen und weiß, daß es anderes schon, aber nichts Schöneres geben würde, so weit man auch reiste.“ 

Gut möglich, dass man im Wendland diese Essays und Berichte mit größerer Sympathie aufnimmt als in Hannover. Orten, die abseits der viel-befahrenen Straßen liegen, schenkt Vesper mehr Aufmerksamkeit als den Metropolen und Residenzen der Führungskräfte. Ebenso hält er es mit den Menschen, die er auf seinen Wanderungen trifft; hin und wieder sind es berühmte (Mitglieder der Gruppe 47 z. B.), öfter jedoch obskure (mit Grillparzer zu reden) oder längst vergessene Persönlichkeiten, die nachgerade auch als unverwechselbare literarische Figuren in Frage kämen; darunter Opfer des Nationalsozialismus und/oder der DDR-Diktatur. Berührend in diesem Zusammenhang: Vespers Auseinandersetzungen mit der Biographie und mit den Bildern von Conrad Felixmüller (1897–1977).

Die Quintessenz seiner autobiographisch getönten Fragmente vermittelt indessen nichts so eindrucksvoll wie das Gedicht Landmeer.

Wir dürfen unser
Leben
nicht beschreiben, wie wir es
gelebt haben
sondern müssen es
so leben
wie wir es erzählen werden:
Mitleid
Trauer und Empörung.

So entwickeln sich denn auch sofort Geschichten, wo immer Guntram Vesper von Erlebnissen und Geschehnissen spricht, sei es, dass sie ihm selbst zugestoßen sind, sei es, dass man sie ihm zugetragen hat. Geschichten auch über ältere Kollegen, u. a. Gottfried August Bürger, Georg Christoph Lichtenberg, Heine, Trakl, Börries von Münchhausen, Johannes R. Becher und Peter Huchel. Auch in diesem Bereich vorzugsweise Spiel mit heimatlichem, d. h. „mit örtlichem Material“. Allwissende Erzähler: Fehlanzeige. Zeugen, Gewährsleute, Archive, sie alle liefern lediglich Materialien, die erst gefasst, mit angemessener Emphase dargestellt werden müssen. Essenziell bleiben nämlich in jedem Fall Wörter, Bilder, Imaginationen.

Titelbild

Guntram Vesper: Lichtspiele. Essays und Berichte. Hrsg. von Thomas Schaefer. Mit einem Nachwort von Andreas Platthaus.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
384 Seiten , 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783895616433

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