Leben und Schreiben – Schreiben und Leben
Endlich, ein neuer Kanon aus weiblichen Stimmen zusammengestellt von 13 Autorinnen in „Unter Frauen. Geschichten vom Lesen und Verehren“
Von Lena Sophie Voß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der Anthologie, herausgegeben von Linda Vogt und Anna Humbert, finden sich 13 unterschiedliche Texte von Autorinnen der Gegenwart über Schriftstellerinnen, die ihr Leben begleitet und ihr Schreiben beeinflusst haben. Die Autorinnen befassen sich mit facettenreichen Themen, erleben auf unterschiedliche Weise und trotzdem eint sie der Sammelband durch das Lesen. Das Lesen ist mit ihrer Arbeit, dem Schreiben, Recherchieren und Nachdenken, eng verbunden. Lesen kann aber noch mehr, es kann trösten, ermutigen, die Leserinnen fühlen sich weniger allein, viel mehr verstanden und in Gemeinschaft aufgehoben.
Schon zu Beginn stimmt das Vorwort die Leserinnen und Leser auf den Band ein. Maria-Christina Piwowarski schreibt dort über die Liebe zum Lesen, das nicht nur Hobby ist, sondern ein gemeinschaftliches Netzwerk herstellen kann – ein Netzwerk von Frauen. Piwowarski kommt zu dem Schluss: „Sie werfen den Kanon um und erschaffen ihn neu.“ Inwieweit dieser neue Kanon auch die literarische Welt nachhaltig verändern wird und ob es nun wirklich nur noch dem Leser und der Leserin überlassen ist, das umzusetzen, bleibt offen. Deutlich wird, dass die Leser und Leserinnen nun aufgefordert sind, sich den neuen Entdeckungen hinzugeben und den eigenen Lesekanon um mindestens zwei Mal 13 Autorinnen zu erweitern. Denn beim Lesen der Texte wird man nicht nur dazu eingeladen, sich mit der schreibenden Autorin, sondern auch mit den beschriebenen Schriftsteller*innen zu beschäftigen. Dafür weist die Anthologie im letzten Teil des Buches ein Autorinnen Lexikon auf, welches die 13 schreibenden Autorinnen der Gegenwart umfasst und kurz vorstellt.
Jede Autorin wählt dabei ihre eigene Form, in der sie über, mit oder an die Schriftsteller*innen schreibt. Aufgrund der Vielzahl der Beiträge kann ich nur kurz auf die unterschiedlichen Texte eingehen und sie nur oberflächlich besprechen. Die Reihenfolge ist dabei nicht wichtig, jeder Text steht für sich, sodass man überall anfangen kann zu lesen.
In vielen Texten werden die Schriftsteller*innen direkt oder indirekt angesprochen. Mareike Fallwickl und Rasha Khayat wählen für ihre Texte die direkte Form der Ansprache, den Brief. Mareike Fallwickl schreibt ihren Brief an Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf ist vor allem für ihr Werk über den Jungen Nils Holgersson bekannt, was übersetzt, verfilmt, fürs Theater adaptiert wurde und wofür sie 1909 den Nobelpreis bekam. Trotz des Erfolgs wurden ihre Texte von der Literaturwissenschaft als naiv abgestempelt und erst später erforscht, schreibt Fallwickl. Dabei hat Lagerlöf ein umfangreiches Werk und 3500 Briefe hinterlassen. „Dein stilles Revoluzzertum zieht sich auch durch Deine Bücher, Du warst zwischen den Zeilen mutig, hast beispielsweise religiösen Übereifer und narzisstische Männer kritisch dargestellt.“ Lagerlöf schreibt über heteronorme Zustände, obwohl sie selbst in Briefen ihrer Liebe zu einer Frau Ausdruck verlieh, finanziell eigenständig, unverheiratet und kinderlos war. Für Fallwickl werden durch Lagerlöfs Leben sowie Schreiben Fragen aufgeworfen, die auch heute noch relevant sind, wie die Vereinbarkeit von Care-Arbeit, Mutterschaft, Ehe und Autorinnenschaft.
Den zweiten Brief schreibt Rasha Khayat an die Schriftstellerin Etel Adnan, die im Libanon geboren wurde und später in den USA sowie Frankreich lebte. An den Texten von Adnan schätzt Rasha Khayat, dass es immer ein Du und ein Ich gebe: „Es gibt immer Raum für Gespräch, für zwei Stimmen, manchmal sogar mehr. Nie stehst du vor mir, sitzt du vor mir und hälst mir Vorträge, erzählst mir, schreibst mir vor, was ich denken oder sehen soll.“ In ihren Texten findet Rasha Khayat zum ersten Mal Welten, die sich von den kanonischen Texten im Studium unterscheiden. Anhand Etel Adnans Texten setzt sich Khayat mit Gedanken über ihre eigene Herkunft auseinander und kommt letztlich zum humanistischen Schluss: „Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch.“ Das Lesen von Adnan war für Khayat der Anfang selbst zu schreiben, verschiedene Perspektiven zu versprachlichen, Ruhe zu bewahren und nicht zu verzweifeln.
Noch näher an die Schriftsteller*innen schreiben sich Ulrike Draesner und Daria Kinga Majewski. Ulrike Draesner schreibt in Versen über Friederike Mayröcker, eine Dichterin aus Wien, die besonders wegen ihrer sprachlichen Formen auffällt. Draesner zeigt den Einfluss von Mayröckers Worten auf ihr eigenes Schreiben, indem sie beides vermischt. Sie schreibt darüber, wie sie gelernt hat ihre Sprache zu suchen, Sprachenmischungen auszuprobieren und dem Literaturbetrieb zu begegnen. Für Mayröcker trifft der Begriff „Schreiblebensraum“ zu, denn sie war laut Draesner „eine radikale Lebens-Schreiberin“. Draesner begibt sich entlang des Lebens und Schaffens von Mayröcker auf die Spuren ihrer Wörter und der Frage nach dem Geschlecht. Dabei entsteht ein Text voller Brüche in der Syntax und Denkmuster. Mayröcker hat sie zur Beschäftigung mit Mythen, Musik, Botanik, Tradition und Geschichten der Menschen angeregt. Danach kam das Schreiben für Ulrike Draesner: „Ein ununterbrochener Verarbeitungs- und Begleitprozess, ein ständiges Neudenken, Betasten (lassen) und Drehe des Materials mit verschiedenen medialen Fingern, in loops.“
Auf eine andere Art nimmt auch Daria Kinga Majewski die Texte von der Mystikerin Mechthild von Magdeburg aus dem 13. Jahrhundert mit auf. Die Erzählung findet zwischen Realität und Fiktion statt, wenn die Autorin in ihrer Fantasie über die Stadt fliegt. Daria Kinga Majewski beschreibt eine Reise, die ebenso ihre Suche nach Zugehörigkeit beschreibt. Die sich aber auch nach ihrer Entscheidung als Frau zu leben, in eine Suche nach dem Schreiben verwandelt.
Im Gegensatz zu einem traumhaften Ansatz schreiben Yael Inokai über Violetta Leduc und Jacinta Nandi über Rosamond Lehmann. In Yael Inokais Text wird thematisiert, wie schwer der Zugang zu Texten von Frauen sein kann, wie häufig die Exemplare nicht mehr gedruckt werden oder vergriffen sind oder kaum ins Deutsche übersetzt. Darauf weist Yael Inokai in ihrem Text im Besonderen hin sowie auf die thematische Relevanz der Texte. Eine weitere kanonkritische Perspektive vertritt Jacinta Nandi, die vor allem herausstellt, dass die privilegierte Schriftstellerin Rosamond Lehmann aufgrund des Literaturbetriebs in Vergessenheit geraten konnte.
In vielen Fällen werden die Texte von Frauen unterschätzt und als nicht relevant genug abgewertet. So auch im Fall von Angela Sommer-Bodenburg, die die Kinderbuchreihe Der kleine Vampir schrieb. Deniz Ohde zeigt durch ihre Interpretation des Textes seine literarische Qualität auf und setzt jegliche abwertende Argumente außer Kraft. Ohde hebt vor allem hervor, wie die Text immer wieder sinnliche Erfahrungen von Gerüchen, Erinnerungen oder Erleben transportiert.
Auch Ruth-Maria Thomas hebt die komplexe und vor allem zu dem Zeitpunkt des Entstehens noch ungehörte Sprache von Irmgard Keuns Werk Das kunstseidene Mädchen hervor. Wie Mareicke Fallwickl entdeckt Ruth-Maria Thomas in diesem Text ein Erleben des Patriarchats, ohne die Begrifflichkeiten dafür zu haben. Aus dem geteilten Erleben von Erfahrungen beim Lesen entsteht ein Netzwerk von und für Frauen.
Wir weben gemeinsam ein Netz aus Erfahrungen, Ängsten, Erlebten, Träumen, Visionen. Eins, das uns im besten und schönsten Fall gegenseitig auffängt. Uns Lesende, uns Schreibende. Wenn Frauen sich vernetzen, wenn wir unsere Welten teilen, uns aufeinander beziehen, dann spendet das Trost, gibt Halt, aber auch Mut, Kraft und: Wissen.
Ruth-Maria Thomas fasst an dieser Stelle eine Intention der Anthologie zusammen: Solidarität gründen, um Gemeinschaft zu erfahren. In diesem gegenseitig bestärkenden Ton finden sich alle Texte wieder.
Immer wieder betonen die Autorinnen den Eindruck von vertrauen Gefühlen zu lesen und ihr Leben in denen der Schriftsteller*innen und Protagonistinnen wiederfinden zu können. Kathrin Weßling, Gabriele von Arnim, Simone Buchholz und Mirrianne Mahn sind weitere Autorinnen, die über Schriftsteller*innen und über ihr Leben, das Lesen und die Verbindung zum Schreiben erzählen.
Letztlich zeigt die Anthologie die Notwendigkeit und das Verlangen nach einem neuen Kanon auf, und erinnert mehrfach an die Barrieren und Fehler des Literaturbetriebs. Mit dieser Anthologie liegt eine Vielzahl unterschiedlicher, weiblicher Stimmen und eine lange Leseliste vor. Dieses Netz aus Texten lässt eine positive Stimmung zurück und verbreitet Hoffnung für einen diverseren Kanon in der Zukunft. Außerdem sind die Texte so unterschiedlich, dass für jede begeisterte Leserin und jeden Leser etwas dabei sein wird. Dass bis heute die meisten Texte von privilegierten Schriftstellerinnen stammen, ist wohl kaum zu ändern. Vielmehr gilt es die präsentierte Textauswahl noch zu erweitern, nämlich um Schriftstellerinnen, die bisher noch nicht verlegt oder ins Deutsche übersetzt wurden – denn davon gibt es noch genug. Die in der Anthologie thematisierten Werke sind häufig gut erhältlich, verlegt oder sogar mit neuen Auflagen bedacht. Das gilt es zu feiern, sichtbar zu machen und zu lesen. Dazu gibt die vorliegende Anthologie Unter Frauen. Geschichten vom Lesen und Verehren. jeden Anlass. Am Ende bleibt die Freude am Lesen und der Wunsch, dass mit dieser Auswahl auch weitere Lebensrealitäten, vor allem weibliche, sinnlich zugänglich gemacht werden
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