Skandal im Lichtspielhaus

Stefan Volks cineastische Kulturgeschichte „Skandalfilme“ geht in die zweite Auflage

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durch die pandemiebedingte Schließung der Kinos und die zunehmende Bedeutung von Streamingdiensten lässt sich leicht vergessen, dass Filmvorführungen in erster Linie ein gesellschaftliches Ereignis im öffentlichen Raum sind – oder zumindest waren. Selbst mediale Entwicklungen wie das Fernsehen und neue Speichermedien haben wenig daran geändert, dass ein Film zunächst einmal in Kinos zur Aufführung kam. Im Gegensatz zu literarischen Werken erfährt der Film seine Erstrezeption als Gemeinschaftsereignis und kann, wie im Theater, spontane Gefühlsbekundungen hervorrufen. Selbst abseits von Premierenvorstellungen sind Beifallsklatschen oder Buh-Rufe nicht vollkommen ungewöhnlich.

Zorn und Zauber liegen dabei im Kinosaal oft nah beieinander. Während der rauschhaft-begeisterte Filmgenuss in die Sessel bannt, gehen die Kinositze angesichts skandalöser Bilder meist eher zu Bruch. Die häufig bewusst angestachelte und koordinierte Empörung richtet sich, da der Film selbst nicht greifbar ist, gegen den Ort seiner Vorführung. Die Kinogeschichte kennt Saalschlachten, brennende Lichtspielhäuser, Polizeieinsätze, das Werfen von Stinkbomben und Farbeiern, aber auch dass die Haltung zu einem Film durch das Pinkeln in die Sitzpolster zum Ausdruck gebracht wurde.

Dass man von derartigen Szenen heutzutage nichts mehr hört, könnte den Eindruck erwecken, alles sei schon dagewesen und nichts könne noch schocken. Die Einschätzung jedoch, dass die wahren Hochzeiten filmischer Skandale vorbei seien, ist häufiger geäußert worden, unter anderem von André Breton, Luis Buñuel und dem katholischen Film-Dienst. Dennoch gab es jeweils nach 1958, 1965 und 1997 immer wieder neue Aufreger, die sich am Kino entzündeten. Und auch heute noch gibt es Skandale. Es ändert sich allerdings nicht nur die Art, sondern auch der Anlass der Empörung.

In seiner lesenswerten Monographie Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute, die nun zehn Jahre nach ihrem Erscheinen, um ein Kapitel zu Filmskandalen der vergangenen Dekade ergänzt, in einer zweiten, erweiterten Auflage vorliegt, präsentiert der Literatur- und Filmkritiker Stefan Volk die nun schon weit über hundertjährige Geschichte des Films im Lichte des cineastischen Skandalons. Da sich moralische Empörung aber nur in Verletzung bestimmter Wertvorstellungen einstellen kann, ergibt sich zugleich ein Einblick in den gesellschaftlichen Wertewandel, so dass die Skandalgeschichte des Kinos letztlich auch als „exemplarische Kulturgeschichte“ gelesen werden kann. Im Zentrum der Betrachtung stehen dabei die deutsche Filmgeschichte und ihre Moraldebatten, auch wenn Volk stets noch einen Blick auf die Vereinigten Staaten und europäische Nachbarländer wirft.

Am Beispiel prominenter Skandalfilme zeichnet er eine chronologische Entwicklung der diskursiven Auseinandersetzungen nach, die sich an bestimmten filmischen Inhalten entzündet haben, und flankiert die einzelnen Filmbeispiele mit zentralen Szenenbildern, biografischen Infokästen und ausgewählten Rezeptionsquellen, so dass sich ein anschaulicher, informativer Eindruck ergibt, der in der Tat eher eine kulturhistorische Perspektive einnimmt, statt sensationsheischend zu verfahren, was angesichts des Themas sicherlich ebenfalls möglich gewesen wäre. Auf der das Buch begleitenden Homepage www.skandalfilm.net lassen sich zudem allgemeine und ergänzende Informationen finden.

Nach Dekaden geordnet und durch Übersichtskapitel eingeleitet, entwickelt sich eine Sittengeschichte des deutschen – oder etwas weiter gefasst – westlichen Moralempfindens, welches durch filmische Transgressionen auf seine tabubewehrten sittlichen Überzeugungen aufmerksam gemacht wird. Ist das sehr junge Medium im Jahre 1896 noch selbst der eigentliche Skandal, wenn in dem von Thomas Alva Edison in Auftrag gegebenen, nur wenige Sekunden langen Streifen The Kiss ein Leinwandpaar übergroß und vielfach reproduzierbar ein zahmes Küsschen austauscht, variieren die Skandalthemen in den folgenden Jahrzehnten immer wieder. Allgemein lässt sich zwar sagen, dass die Themenfelder Sexualität und Gewalt, Religion und politische beziehungsweise weltanschauliche Fragen zu jeder Zeit Skandalpotential besitzen, doch werden in bestimmten historischen Kontexten je andere Komplexe relevant.

So können die wenigsten Filme denn auch dauerhaft skandalisieren. Filmische Aufreger sind meist historisch kontingent und zeitgeistabhängig. Für die Möglichkeit eines Skandals müssen dabei aber mindestens zwei Voraussetzungen zusammenkommen: die Emotionen können zum einen nur dann hochkochen, wenn Rede- und Meinungsfreiheit gegeben ist. Diktaturen kennen Skandalfilme in der Regel nicht, da eine dichte Moralkontrolle keine kontroversen Inhalte zulässt. Lediglich in Ausnahmefällen haben autoritäre Regime mit skandalösen Filmen zu kämpfen, finden dann aber meist einen Weg, das Ärgernis wieder verschwinden zu lassen. So entzog das Franco-Regime Buñuels religionskritischem Film Viridiana (1961) nachträglich einfach die Drehgenehmigung und die DDR-Führung ließ Die Spur der Steine (1966) mittels inszenierter Proteste nach dem Filmstart doch noch verbieten.

In einer offenen Gesellschaft muss ein Film zudem zweitens Mainstream sein. Oftmals ist es das Werk eines namhaften Regisseurs, das für Diskussionen sorgt. Es können bestimmte Szenen nur dann Anstoß erregen, wenn der Film selbst ein öffentliches Ereignis ist. Wildeste pornographische Exzesse aus dem Videoverleih oder brutalste Gewaltorgien in B-Movies hingegen können lediglich aufgrund der vagen Ahnung ihrer Existenz gesellschaftliches Entsetzen hervorrufen. Dies ist dann jedoch nicht auf einen bestimmten Film bezogen. Die ‚Moral Panic‘ der 1980er Jahre etwa richtete sich ganz allgemein auf die Verbreitung von Horror-, Splatter- und Gewaltfilmen, die durch das neu aufgekommene Medium der Videokassette Einzug in Privathaushalte und Kinderzimmer halten konnten.

Wie manche Skandale rückblickend fast lächerlich erscheinen, rücken andere Filme und Themen mit der Zeit in ein deutlich kritischeres Licht. Der größte Aufreger der deutschen Nachkriegsgeschichte, Die Sünderin von 1951, vermag heute wahrscheinlich niemanden mehr – in die eine oder die andere Richtung – zu erregen. Umgekehrt fallen einige Klassiker inzwischen unangenehm auf. So ist etwa Vom Winde verweht (1939) zeitweilig von der Streaming-Plattform HBO Max entfernt worden und auch eine Reihe anderer Filme, darunter viele Disney-Produktionen, dürfen im Ganzen oder stellenweise als schlecht gealtert betrachtet werden.

Obgleich es noch immer Themen gibt, die als anstößig empfunden werden, arbeiten sich die von sozialen Medien befeuerten Moraldebatten inzwischen stärker an den Produktionsbedingungen denn an den filmischen Inhalten ab. Die Skandale vergangener Jahrzehnte wurden meist von reaktionärer Seite angestoßen, während die dazugehörigen Filme eher die Grenzen des Sag- und Denkbaren verschieben wollten. Heute hingegen äußert sich Kritik, wenn Filme nicht liberal genug sind. Fehlende Diversität, zu wenig emanzipiert wirkende Frauenfiguren oder politisch konservative Themen können nun zu einem Shitstorm anwachsen, ebenso wie das kolportierte Fehlverhalten am Set Beteiligter. Selbst unter Berufung auf die Kunst jedoch lässt sich heute kein tatsächlich oder potentiell verletzender Umgang mit Menschen oder Tieren mehr rechtfertigen.

Die Frage, was einen guten Film ausmacht, ist gesellschaftliche Verhandlungssache. Auch und gerade in der Retrospektive. Skandalfilme leistet einen spannenden Einblick in die zeitliche Entwicklung der Moraldebatten und gesellschaftlichen Befindlichkeiten und bildet mittels des Films ab, wie sich normative Grenzen und Tabus verschieben. Der Film ist hierfür sicherlich geeigneter als andere Medien, da er einerseits eine längere Geschichte als beispielsweise das Fernsehen besitzt, andererseits mit der Möglichkeit auch hohen künstlerischen Anspruchs eine große Breitenwirkung entfaltet.

Der Blick in die Vergangenheit zeigt das disruptive Potential der Kunstform Film, die Gesellschaft herauszufordern und Veränderungen anzustoßen. Ob dies angesichts der momentanen Krise des Kinos auch in Zukunft möglich sein wird, bleibt offen. Es wäre aber zu hoffen, dass uns Stefan Volk in einer dritten Auflage in zehn Jahren davon berichten wird.

Titelbild

Stefan Volk: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute.
Unter Mitarbeit von Barbara Scherschlicht. 2. durchgesehene und erweiterte Auflage.
Schüren Verlag, Marburg 2021.
368 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783741003653

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