Polyamouröses Puff im „Oberstübli“
Ariane von Graffenrieds „Babylon Park“ jongliert virtuos mit den Sprachen
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAriane von Graffenrieds großartige Sprech-Texte, die im vom Schweizer Spokenword-Verlag Der gesunde Menschenversand herausgegebenen Sammelband Babylon Park zum ersten Mal in gedruckter Form vorliegen, sind das Resultat einer ebenso ungewöhnlichen wie gelungenen Sprach-Kreuzung aus sehr verschiedenen, ja entfremdeten Stämmen. Es ist die Begegnung eines ironiegetränkten, absolut zeitgenössischen Großstadt-Pidgin mit einem bis an die kabarettistische Schmerzgrenze gehenden Berner Dialekt. Womöglich verdient diese Kreolisierung die Metapher der „Paarung“, vielleicht sogar der „Liaison“, denn diese sich auf vielen verschiedenen Sprachebenen entzündenden Assoziationen und Kombinationen sind kein skurriles oder gar ideologisches Konstrukt. Sie sind ein überaus sinnliches, fast spracherotisches Ereignis. Das beginnt schon bei Rhythmus und Reim. Hier tanzt die Sprache nach klar vermessenen Beats. Den Texten ist ihre musikalisch-performative Herkunft quasi auf den Leib geschrieben.
Graffenried verkuppelt, zum Beispiel in dem Sprachmix-Gedicht „Brüssel“, nicht nur die Sprachen Europas, reimt zweisprachig „derweil“ auf „smile“ oder „cries“ auf „weiss“, sie stellt auch immer wieder die leidige, neuerdings populistisch aufgebauschte Frage nach unserer nationalen und sprachlichen Identität, auch und vor allem, wenn sie ihren Berner Dialekt prominent ins Zentrum ihrer Texte rückt: „Sitting on a bench in Babylon Park/ next to Mr. Perfect: my dialect/ qui est jaloux u chli toube/ wäg mire lifelong liason/ avec l’allemand“. Diese lebenslange Liaison mit dem Hochdeutschen ist – so erfahren wir im Verlauf der Lektüre – eine eher instabile Beziehungskiste. Der Dialekt ist eine zähe, ja klebrige Masse („dr Dialäkt chläbt …“), die sich nicht einfach beiseite wischen lässt. Immer wieder gilt es auch, sich eines mit rationalen Argumenten offenbar nicht zu behebenden sprachlichen Minderwertigkeitskomplexes zu erwehren. Doch die Pointe dieser neu-babylonischen Anfechtungen und Selbstzweifel zielt klar und selbstbewusst auf ein Bekenntnis zu einer modernen poly-multi-Misch-Identität: „Sometimes I drink mothers’s milk in misery/ mängisch isch’s Whisky, mängisch Wii./ Et dans mon coeur il y a de la place/ – das isch guet u kes Manko – pour plusieurs amants et plusieurs mamans.“ Dass bei dieser polyamourösen Großherzigkeit mitunter ein „Puff“ im „Oberstübli“ entsteht, ist eine Begleiterscheinung, die nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern mit klammheimlicher Freude registriert wird.
Graffenrieds klares Statement für eine von Grund auf polyphone Sprache ist poetisches und politisches Programm zugleich. Der stimmlichen Vielfalt entspricht die geografische Weite der Texte. Ihre auch musikalisch aufregende „Grand Tour“ (vgl. den beiliegenden Gratis-Download ihres gleichnamigen CD-Albums) führt – in selbstironischer Reverenz an die Tradition der großen Bildungsreisen des 18. Jahrhunderts – nicht durch halb „Ach Europa!“, von Istanbul über Warschau und die Ostseeküste nach Island, stellt in Brüssel, „im Schoss vo de Eurokratie“, verschiedene Fragen über „austérité, policies and frameworks“, sie führt auch – in geradezu zitatgeschwängerten Versen – durch die europäische Literatur- , Kultur- und Mediengeschichte, von Friedrich Hölderlin und Charles Baudelaire bis zum Digital-Flirt im Internet: „0,00023 lx: Nach Mitternacht/ Wir trafen uns in der Hälfte des Lebens/ zu Symbiose und Synästhesie:/ Correspondence zweier Schwestern in der Neige/ der gerahmten Nacht. Du liehst mir dein Auge/ Und alle Flüssigkristalle waren an Ort und Stelle.“ Zahlreiche „Porträts und Hommagen“ – so der Titel des ersten Kapitels – erinnern an Patty-Smith, an die halbvergessenen Frauen der Dada-Bewegung oder Autoren des Fin de Siècle. So gibt es eine wunderbar verspielte Dialekt-Variante von Robert Walsers Erzählung Der Spaziergang und eine grandiose Neu-Übersetzung von Welimir Chlebnikows berühmtem futuristischen Laut- und Lachgedicht Zaklâtie smechom, das zwar bereits von Franz Mon, Gerhard Rühm und Hans Magnus Enzensberger übersetzt wurde, doch Graffenrieds „Lachifizierte Lachaffen, Lachizzane und ungelachte Lachuane“ schlagen hier noch mal eine viel grellere Lache an.
Graffenrieds „Neverending Stories“ – so der Titel des fünften und letzten Kapitels – erzählen aber nicht nur von Liebe und Lachen, Sprache und Literatur, sie beschreiben auch die Ruinen und Schauplätze des Zweiten Weltkriegs, evozieren die unmenschlichen Verbrechen von damals und heute, reimen „Kontinänt“ auf „Kontingent“ und befragen die Welt und die „Liebe im Zeitalter des Kapitalismus“.
Erzählt werden bizarre Geschichten von Menschen und Tieren, die aus der Spur des Alltags geraten, wie zum Beispiel die nicht nur theologisch fragwürdige Passionsgeschichte eines Heilsarmee-Trompeters oder die Love-Story zwischen der moldawischen Bulldoge Paschenko und der depressiven Kuh „Blüemli“. Es gibt ziemlich abgefahrene Porträts von surrealen Frauengestalten wie der Londoner Hooligan-Braut Milly oder der „Luxusmade“ Maude, einer stinkreichen, osteuropäischen Waffenhändlerin, und es gibt kleine Parabeln, zum Beispiel über das bedauernswerte Los eines verkannten Musik-Genies, das seine Kunst bei der Jubiläumsfeier eines Fleischfabrikanten zu Markte trägt. Graffenried verhohnepiepelt die schrille Ästhetik der Soap-Serien genauso wie den hochtrabenden Ernst der Avantgarde, ohne dabei – und das ist wirklich die ganz große Kunst dieser Texte – zu denunzieren oder hochnäsig auf Distanz zu gehen.
Quintessenz und gleichsam Leseanleitung (gerade auch für nichtschweizerische LeserInnen) für den gesamten Band ist die zum Schreien komische Parabel „Dialäktpfleeg“. Der schweizerische Dialekt wird hier zum Patienten. Er liegt als „iigfleischter Hypochonder“ im Spitalbett und kann sich nicht entscheiden, ob er die sprachpflegerischen Dienstleistungen der deutschen Krankenschwester in Anspruch nehmen oder sich doch lieber den rabiaten Manipulationen seiner heimatschutzversessenen Mutter anvertrauen soll. Dem angeschlagenen Dialekt hilft schließlich ein „fluchterfahrener Albaner“ auf die Sprünge. Er verlässt das Spital, kurz bevor der Oberarzt dessen endgültige Schließung bekannt gibt.
Graffenrieds Texte sind klug und melancholisch, witzig, tiefsinnig und doch von einer Leichtigkeit, die nicht zuletzt dem „verlarifaarete“ und „phantasiigstaute“ „Puff“ im Oberstübli dieses eingebildeten Kranken zu verdanken sind.
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