Städtische Desinfections-Anstalt, Kanalisation und Zuchthaus
In Hugo von Kupffers Reportagen ist das Berlin der 1880er Jahre ein Hort moderner Technik
Von Mario Huber
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGlaubt man den meisten Einführungen zum Thema, dann beginnt die Geschichte der deutschen Reportage erst in den 1920er Jahren. Zu dieser Zeit treten unter anderem Egon Erwin Kisch und Leo Lania mit Texten zu sozialen Missständen und mit theoretischen Aufsätzen in Erscheinung, Gabriele Tergit, Paul Schlesinger (Sling) und Moritz Goldstein (Inquit) schreiben Gerichtsreportagen am laufenden Band, Joseph Roth vermisst in seinen Berichten Galizien genauso wie Russland oder Albanien. Speziell die Metropole Berlin bildet in dieser (vermeintlichen) Gründer‑ wie Blütezeit das vielbeobachtete Zentrum einer zumeist linkspolitisch motivierten Riege an Journalistinnen und Journalisten. In den nun erstmals in gesammelter Form zugänglichen Reporterstreifzügen Hugo von Kupffers steht ebenfalls Berlin im Mittelpunkt des Geschehens. Aber von Kupffers Berlin ist nicht jenes vielfach anprangerungwürdige und vor Sensationen strotzende der Nachkriegszeit und der wirtschaftlich gebeutelten Jahre vor dem Erstarken der Nationalsozialisten. Die bereits in den späten 1880er Jahren erstmals erschienenen Ersten Modernen Reportagen aus Berlin, wie der Untertitel des Buchs verspricht, werfen stattdessen durchwegs positive Blicke auf die wachsende, moderne Stadt im Kaiserreich.
In seinem mittlerweile zum Klassiker avancierten Text Reportage als soziale Funktion schreibt 1926 Leo Lania: „Der Reporter soll ja nicht bloß Internist sein, sondern er ist auch erbarmungsloser Chirurg, er muß schneiden, um den Aufbau des Organismus zu zeigen, oder die lächerliche Eiterblase, die alle Funktionen stört.“ Von Kupffers Reportagen fehlt auf den ersten Blick dieses politische und soziale Engagement. In einem für das späte 19. Jahrhundert nicht untypischen Fortschrittsenthusiasmus werden in den Texten unter anderem die Berliner Kanalisation, ein Schlachthof oder auch das Zuchthaus in der Invalidenstraße zu Orten beeindruckender Sauberkeit und angenehm riechender Luft. Auch die (zumindest so beschriebenen) verbesserten Standards in der Charité schildert der Autor in ähnlichem Ton. Verbunden mit diesen Werbungen für technische und heute vergessene hygiene technische Errungenschaften (Stichwort: Becker-Ullmann’scher Koch‑ oder Rohrbeck’scher Desinfections-Apparat) ist jedoch ein unverhohlenes Interesse an Menschen und ihren Schicksalen. In Sinne Lanias schneidet von Kupffer tief und sucht, Funktionsstörungen kommen ihm jedoch quasi nicht unter.
Von Kupffer, der sein Handwerk als Reporter und Journalist durch einen mehrjährigen Aufenthalt in New York in den 1870er Jahren erlernt und zugleich verfeinert hat, schreibt selbst in einem mitgelieferten Vorwort über die Reporterstreifzüge, dass er durch die Texte der allgemeinen Bevölkerung Unzugängliches näher bringen möchte, zum Beispiel die Menschen hinter den Berufen Scharfrichter oder Leichenbeschauer. Dabei hat er Schriftsteller und Feuilletonisten als Feindbild auserkoren, die seiner Meinung eher ästhetischen Vorstellungen als der „Natur“ folgen. Seine Maximen sind „eigene Anschauung“ und „persönliche Unterredung“, wohingegen „die Romane flunkern und die Feuilletonisten phantasieren“. Das Ziel ist die „unretouchierte Momentphotographie“. Deshalb stehen bei von Kupffer, ähnlich wie bei seinen Kolleginnen und Kollegen aus den 1920er Jahren, die „Fakten“, und seien es scheinbar triviale Dinge wie diverse Längen-, Größen- oder Gewichtsangaben, oft im Mittelpunkt des Geschehens. Davon abgesehen fehlen natürlich unter den Texten auch die „Dauerbrenner“ unter den Reportagethemen nicht: Gerichtsverhandlungen, Hinrichtungen, Zuhälter und die angeschlossene Halbwelt bleiben nicht außen vor.
Die wiederkehrenden Polemiken gegen das Feuilleton lassen sich aber auch mit dem Veröffentlichungsort der Reporterstreifzüge in Verbindung bringen. Wie der Herausgeber der Texte, Fabian Mauch, im lesenswerten Nachwort zur Reportagensammlung ausführt, führte die Bekanntschaft von Kupffers mit dem Verleger August Scherl 1883 zur Gründung des Berliner Lokal‑Anzeigers. Die Zeitung, in der auch die „Streifzüge“ erschienen, richtete sich nicht unbedingt an ein besonders gebildetes oder kritisch denkendes Publikum, sondern lieferte seiner vornehmlich kleinbürgerlichen Leserschaft ein regierungsfreundliches, nationalliberales Programm. Von Kupffer stand in der Folge der Zeitung über 40 Jahre als Chefredakteur vor – also auch noch gut zehn Jahre nachdem der Scherl Verlag und damit der Berliner Lokal-Anzeiger 1916 über Umwege an den nationalkonservativen Hugenberg‑Konzert verkauft wurde.
Trotz der vom Autor forcierten Ausrichtung macht es doch stutzig, keine der Lania’schen „Eiterblasen“ in den Texten zu finden. Die durchwegs positiven Beschreibungen scheinen mitunter oberflächlich. Zumal wenn man sich vor Augen hält, dass gerade zur Zeit der Veröffentlichung einige der erschütterndsten naturalistischen Dramen von Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Johannes Schlaf entstanden. Aber eventuelle Vorurteile und die genannten Autoren und ihre literarischen Werke sollen nicht der Maßstab sein. Die 25 Texte der Sammlung sind im Gegensatz zu den naturalistischen, problemorientierten Milieustudien eher an den komplexen gesellschaftlichen Geflechten der Großstadt interessiert. Wie der zeitgenössische Erfolg der Artikelserie zeigt, war neben Milieureportagen über Wiener Nacht-Cafés und Interviews mit Leichen-Präparatoren auch ein Interesse für die Darstellung von städtischen Versorgungs- und Instandhaltungseinrichtungen beim Publikum vorhanden.
Zugegeben, nicht jede Detailbeschreibung von Durchflussmengen im Kanalsystem fesselt. Andererseits möchte man manchmal dann doch noch mehr wissen. Zum Beispiel klafft bei der Beschreibung eines Schlachtvorgangs eine Lücke in der Verarbeitung, die von Kupffer bewusst nicht ausfüllt, denn „jedes Kind weiß, welchen Schicksalspfad das Schwein vom Brühbottich bis zum geräucherten Zustand der ‚Wurstigkeit‘ durchmacht.“ Aber wie so oft bei Reportagesammlungen ist es auch hier eher die Vielfalt der Themen als die je einzelne Auseinandersetzung, die die Texte beziehungsweise das Buch lesenswert machen.
Es ist dabei erfreulich, dass beinahe alle der von von Kupffer zwischen 1886 bis 1892 verfassten Reportagen auffindbar waren und für die Veröffentlichung zusammengetragen wurden. So zeigen Berichte über eine Sonnenfinsternis, über die Pannen bei der Volkszählung oder auch eine lange, kommentierte Auflistung verunglückter Schilder in Berliner Geschäften („Milchverkauf im Stall, auf Wunsch von einer Kuh“) Blickwinkel einer Stadt, die nicht immer 130 Jahre von heute entfernt scheint. Trotzdem bleibt mehr Trennendes denn Verbindendes. Von Kupffers bewusst sauber inszeniertes Berlin des Kaiserreichs der 1880er Jahre passt an vielen Stellen nicht zum tradierten und mittlerweile dominierenden Berlin-Alexanderplatz- oder neuerdings Babylon-Berlin-Bild der Stadt aus den 1920ern, was das Buch umso lesenswerter macht.
|
||