Die Aussteigerin

Julia von Lucadou hat ein dystopisches Debüt von passabler Qualität vorgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mal wieder eine Dystopie also – ein Genre, das nicht von ungefähr seit einiger Zeit Konjunktur hat, nicht zuletzt bei jungen AutorInnen. Nun hat sich auch Julia von Lucadou mit ihrem Debüt Die Hochhausspringerin diesem Genre verschrieben. Wie die meisten anderen Erzeugnisse der düsteren Gattung spielt es in einer nahen Zukunft, die sich nicht wesentlich von unserer Gegenwart unterscheidet. Einige Fehlentwicklungen sind allerdings auf die Spitze getrieben.

Loucadous Protagonistin ist in einer hochtechnologisierten Zukunft zuhause, in irgendeiner nicht näher bestimmten Großstadt eines ebenfalls unbestimmten Landes. Bei dieser Protagonistin handelt es sich nicht etwa um die titelstiftende Hochhausspringerin Riva Karnovski, sondern um Hitomi Yoshida, deren Aufgabe es ist, Riva zu „reanimieren“ beziehungsweise ihr „verlorengegangenes Potential“ zu reaktivieren. Damit ist nichts anderes gemeint, als die noch kürzlich überaus erfolgreiche Extremsportlerin wieder für ihre Karriere zu motivieren. Denn seit einigen Wochen hat sie ohne ersichtlichen Grund ihr Training eingestellt und zeigt sich völlig gleichgültig gegenüber ihrem Sport, dem winkenden Weltmeistertitel und ihren Fans. Statt also ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Sponsoren zu erfüllen, verbringt sie ihre Tage scheinbar lethargisch in ihrer Wohnung. „Fuck Winning!“, entfährt es ihr einmal.

Um die Gründe für Rivas Gesinnungswandel herauszufinden, überwacht Hitomi sie mittels allerorts versteckter Kameras auf Schritt und Tritt. Durch diese Ich-Erzählerin ist alles gefiltert, was die Lesenden über die Figuren und ihre Welt in Erfahrung bringen. Sie ist auch die einzige, über deren Persönlichkeit man mehr erfährt. Denn alle anderen bleiben ihr letztlich ein Rätsel, obwohl sie eine qualifizierte Psychologin ist. So zeigen ihre Bemühungen, Riva wieder in die (Erfolgs-)Spur zu bringen, wenig Erfolg, und sie läuft Gefahr, ihren Job und somit ihre Wohnung wie überhaupt ihren sozialen Status zu verlieren. Statt Riva zu resozialisieren, beginnt sie sich selbst zu desozialisieren. Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass sie ihre interpersonellen Kompetenzen verlöre, da ihre zwischenmenschlichen Kontakte zumeist ohnehin durch diverse Kommunikationstechnologien vermittelt sind. Es heißt vielmehr, dass sie den normativen Anforderungen der Gesellschaft und vor allem ihres Jobs nicht mehr gerecht wird.

Der eigentlichen Handlung ist ein sehr origineller Vorspann vorangestellt. Doch der Roman kann das so gegebene Versprechen auf gute Unterhaltung nur schreibschulentechnisch erfüllen, inhaltlich hingegen kaum. Das ist nicht zuletzt einer Krux anzulasten, die er mit den meisten Erzeugnissen der jüngeren Nah-Zukunft-Dystopie teilt: Sie ähneln einander zu sehr. Ihr gesellschaftliches Setting unterscheidet sich nicht wesentlich. Angeprangert werden Überwachung, Entmündigung, Manipulation der Einzelnen und der Massen, die Leistungsgesellschaft, der Optimierungswahn und dergleichen mehr. Alles nichts Neues. Ebenso bekannt ist die Einteilung in eine Metropole, in der die Bessergestellten leben, und eine slumartige Peripherie für die Massen. Anders als in manch anderer Dystopie sind die Grenzen zwischen der Stadt und ihrer Peripherie in Lucadous Roman allerdings durchlässig. So werden alle Menschen in der Peripherie geboren, können es jedoch via Casting in die Stadt schaffen. Bewähren sie sich dort nicht im Sinne das Systems, müssen sie wieder zurück.

In Die Hochhausspringerin wird die Gestaltung der Gesellschaft nicht unmittelbar geschildert, sondern sie erschließt sich über den Alltag und die Probleme der Ich-Erzählerin. Das ist eine der Stärken des Buches. Allerdings ist auch das innerhalb des Genres keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal. Im Zentrum des Romans stehen denn auch weniger die dystopische Gesellschaft als vielmehr die Verfasstheit und die psychische Deformationen der Figuren. Genauer gesagt diejenigen einer Figur, der Ich-Erzählerin. Aber diese zeigen das ganze Elend der Gesellschaft. Die Handlung kommt dabei zunächst nur sehr schleppend voran. Erst nach rund 100 Seiten kommt sie langsam in Schwung. Darum und wegen ihrer weitgehenden Absehbarkeit vermag diese Dystopie nicht sonderlich zu fesseln. Auch für die in einer etwas spröden Versuchsanordnung gefangenen Figuren kann man sich nur wenig erwärmen. Erst gegen Ende gewinnt der Roman an Intensität.

Bei alle dem propagiert er unter der Hand ein konservatives Familienideal bestehend aus Vater, Mutter und Kind. Doch immerhin klingt auch leise ein emanzipatorisches Motiv aus einer anderen Dystopie mit ähnlichem Setting an. Überdies sind einzelne Ideen durchaus anregend. Etwa das Klippenspringen von Acapulco mit dem Base- und Bungee-Jumping verbindende Hochhausspringen, mit dem sich eine Menge Geld verdienen lässt, das aber auch schon mal tödlich enden kann.

Loucadous dystopischer Roman ist nicht besser und nicht schlechter als die meisten seiner Art, für einen Erstling also recht passabel. Damit stellt sich aber natürlich auch die Frage, ob es einen weiteren dieser mittelmäßigen Romane wirklich gebraucht hätte. Die Antwort lautet: Ja, als Einstieg für eine Autorin, von der vielleicht noch Größeres zu erwarten ist.

Titelbild

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
287 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260399

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