Lyra, Lyrik und Lyrics

Die Beiträge des Bandes „Lyrik/Lyrics“ von Frieder von Ammon und Dirk von Petersdorff gehen dem lyrischen Potential von Lyrics nach

Von Carlo BruneRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carlo Brune

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Musikerin und ein Musiker mit Leier, dem Anschein nach aus der Antike, in verschiedenen Farbvariationen, angelehnt an das Pop-Art-Design Andy Warhols: Schon die graphische Gestaltung der Umschlagseite spielt darauf an, dass – wie es in dem Beitrag Martin Rehfeldts Zur Edition von Liedtexten heißt – Lyrik-Einführungen oft auf die „etymologische Ableitung des Wortes ‚Lyrik‘ von ‚Lyra‘“ hinweisen: „Ohne die historischen Unterschiede“, für die in dieser Graphik dann Warhol als Godfather of Pop (Ric Burns) einsteht, „in der Performanz nivellieren zu wollen, könnte man also zugespitzt formulieren, dass Gedichte aus Liedtexten entstanden sind.“ Desto verwunderlicher ist es gewiss nicht nur für Rehfeldt, dass Liedtexte nach wie vor kaum Berücksichtigung in populären Lyrikanthologien finden. Geschieht dies denn doch einmal wie im Falle des Tocotronic-Songs Das Blut an meinen Händen, mit dem Wulf Segebrecht seine Zusammenstellung deutscher Balladen aus der gesamten Literaturgeschichte beginnen lässt, dann ruft das seitens des so gewürdigten Songwriters, Dirk von Lowtzow, allerdings auch nicht gerade Begeisterungsstürme, sondern ostentativ demonstrierte Gleichgültigkeit hervor: „Das berührt mich eigentlich nicht. Wirklich.“ Berührungsängste also offenbar auch auf dieser Seite. Und so ist es wenig verwunderlich, wenn die beiden Herausgeber, Frieder von Ammon und Dirk von Petersdorff, in ihrer kurzen Einleitung einerseits konstatieren, dass in der „Lyriktheorie […] schon seit Längerem ein Konsens darüber [besteht], dass Songtexte […] zur Lyrik zu zählen sind“, andererseits aber einen „überraschenden Mangel an Untersuchungen“ ausmachen, „die Songtexte aus literaturwissenschaftlicher Perspektive in den Blick nähmen“.

Der vorliegende Band schafft hier Abhilfe, lässt zugleich aber auch Gründe für den konstatierten Mangel erkennbar werden. Einer liegt in der kontrovers diskutierten Herangehensweise an den Gegenstand. Die meisten Beiträge folgen einer Auffassung, die Lyrics nicht als eigenständigen Gegenstand begreift. Vielmehr wird hier – wie Rehfeldt formuliert – von der Vorstellung eines „Gesamtkunstwerks“ ausgegangen, „das, im Gegensatz zum autonomen Gedicht, erst durch die Verbindung von Text, Musik und gesanglicher Performanz konstituiert wird“. Mit Beginn des Musikfernsehens in den 1980er Jahren, darauf weist Moritz Baßler in seinem Beitrag hin, erweitert sich dies um ein weiteres Medium, den Videoclip. Baßler, der sich Lyrics ausschließlich im Kontext des „Medienverbunds Pop“ nähert, macht so auf eine konstitutive Differenz von Lyrik und Pop-Lyrics aufmerksam; letztere gehörten einer „anderen Ordnung an als Literatur“. Produktionsästhetisch stützen kann sich ein solches Verständnis etwa auf die bereits angesprochene Gruppe Tocotronic, deren Sänger und Frontmann von Lowtzow in dem von Rehfeldt zitierten Interview hervorhebt, dass die Texte der Band zu „95 Prozent […] zusammen mit der Musik [entstehen]. […] Unsere Texte sind Texte, die dafür gemacht sind, zur Musik vorgetragen zu werden. […] Mir ist im Übrigen die Feststellung wichtig, dass ich kein Dichter bin, sondern Liedtexte schreibe.“ Und Sven Regener setzt in einem Interview mit der NZZ aus dem Jahr 2017 noch einen drauf. Er habe Bob Dylan dafür „geliebt, als er sagte: ‚Songtexte sind nicht wie Literatur, sie sind nicht zum Lesen da, sie müssen gehört werden.‘“ (im Übrigen eine bemerkenswerte Verkürzung des Literaturbegriffs, bei der dann wohl auch Theaterinszenierungen oder Gedichtlesungen unter den Tisch fallen würden, denn auch diese sind nicht „zum Lesen da“) und deklamiert weiter: „Die Kriterien, die bei der Analyse eines Gedichts angewendet werden, haben bei Songtexten keine Bedeutung.“

Von einem der anerkanntesten Songwriter der jüngeren Vergangenheit, Leonard Cohen, ist freilich überliefert, dass er oft erst die Texte schrieb – und diese zum Teil bewusst unabhängig von ihrer musikalischen Umsetzung als Gedichte, als poems, publiziert sehen wollte (vgl. hierzu die editorische Notiz der Herausgeber_innen, Robert Faggen und Alexandra Pleshoyano, seines posthum erschienenen Bandes The Flame/Die Flamme). Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er auch keine Schwierigkeit damit gehabt, wenn andere ihn als poet, als Dichter, bezeichnet hätten; vermutlich begriff er sich selbst als solcher. Dieses Vorgehen legitimiert nun aber auch eine Herangehensweise an Songtexte, wie sie in dem unmittelbar auf Baßlers Gedanken folgenden Beitrag von Wolfram Ette praktiziert wird. In Form eines akribischen Close Readings geht dieser verschiedenen Bedeutungsspuren im Songtext von Bob Dylans It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding) nach, den er als Beispiel für eine Ästhetik der Moderne, als ein „modernes Kunstwerk“ liest: „kein harmonisch zusammenstimmendes Ganzes, sondern ein von Spannungen durchwirktes Gebilde, das stets kurz davor ist, von ihnen zerrissen zu werden.“ Gewiss gilt auch für das Phänomen Dylan und für diesen Song – insbesondere für seine Wirkungsgeschichte –, dass, wie Baßler formuliert, Pop-Lyrics „nur zu verstehen sind im Rahmen eines umfassenden Dispositivs zwischen Warenförmigkeit und den neuen globalen Medienverbünden mit ihren Verwertungsketten, verbunden mit einer Ästhetik des Spektakulären“. Es ließe sich aber darüber diskutieren, ob zumindest kulturästhetische respektive ökonomische Spezifika nicht in zwar inhaltlich anderer, formal aber vergleichbarer Art und Weise auch für literarische Texte notwendig zu berücksichtigen sind. Eine strikte Trennung von Pop-Lyrics, die, wie der Fall Cohen zeigt, auch separat publiziert werden können (was im Übrigen auch für Dylan gilt), und Lyrik/Literatur wird so angreifbar. Ettes gelungener Versuch, das ‚Gebot‘ des Künstlers bewusst zu missachten, den Text Dylans zunächst wie „ein fast konventionelles Gedicht“ zu lesen und in den Kontext einer pop- (und literatur-)übergreifenden Ästhetik der Moderne zu stellen (kurze Hinweise auf die musikalische Gestaltung des Songs fügt er seinen Ausführungen am Ende des Beitrags in einem letzten Kapitel zwar noch hinzu, doch kommt diesem Additum keine konstitutive Funktion für seinen Zugang zu), zeigt die Berechtigung einer solchen Lektüre von Lyrics als Lyrik auf.

So scheint das Feld der Popmusik und damit auch der Lyrics ebenso wie die Möglichkeiten, es abzuschreiten, zu weit zu sein, als dass die anfangs des Beitrags von Walter Erhard gegeneinander gestellten Thesen: „Lyrics und Lyrik sind sich ähnlich und besitzen eine gemeinsame Grundlage. Rockmusikalische Texte haben mit Gedichten nichts zu tun, sie sind grundverschieden, fast äonenweit voneinander entfernt“ als zwei sich fundamental ausschließende Alternativen zu denken sind, von denen Erhard im Verlauf seiner Argumentation glaubt, nur die zweite verifizieren zu können. Dass sowohl ein Zugang zu Lyrics im „Medienverbund Pop“ (respektive Rock) als auch ihre Lektüre als sich in eine spezifisch literarische Tradition einschreibende Texte ihre Berechtigung haben und zu fruchtbaren Ergebnissen führen, zeigen viele weitere Beiträge auf, die beide Aspekte oftmals auch miteinander verbinden. Dieter Burdorf etwa geht popmusikalischen Verbindungen zum Genre der Mörderballade nach, ein literarischer Fundus, aus dem nicht zuletzt Nick Cave in seinem gleichnamigen Album (Murder Ballads) schöpft. Und Dirk von Petersdorff, der in seinem Buch In der Bar zum Krokodil bereits Lieder und Songtexte „als Gedichte“ las, legt in seinem Beitrag Bezüge der Songtexte Dirk von Lowtzows auf die literarische Romantik und Nietzsche offen.

Wie Popmusik aus postkolonialer Perspektive wiederum ein „eurozentrisches Moderneverständnis“ aufbrechen kann, führt Lars Eckstein am Beispiel der aus Sri Lanka stammenden Künstlerin M.I.A. vor. Fokussiert wird zum einen auf (primär) popspezifische „Kulturen des Kopierens“ in Gestalt einer „Pirate Modernity“ (Ravi Sundaram), „mit medialen Praxen also, die sich in Regionen abspielen, in denen oft nur wenige Zugang zu zivilgesellschaftlichen Ordnungen haben“ und „ohne Zugang zu staatlichen Organen oder formalen Märkten“ sind. Zum anderen geht es um „Formationen des Modernen, die zum Beispiel relationale und kollektive Subjektfigurationen gegen das monadische Subjekt der Aufklärung und dessen endemische Krise setzen“ und so „westliche Paranoia und migrantische Entfremdung in Verbindung“ bringen.

Was der Band aufzuzeigen vermag, ist das enorme Potenzial, das in Liedern, Popsongs und ihren Lyrics steckt. Und vielleicht tut sich der wissenschaftliche Diskurs eher einen Gefallen damit, den von den beiden Herausgebern eingeschlagenen Weg, deren auch medial unterschiedlichen Erscheinungsformen in Gestalt durchaus verschiedenartiger Ansätze nachzugehen – und hierbei Songtexte auch als Lyrik zu lesen – als wenig fruchtbringende Grundsatzdebatten um Fragen zu führen, die sich am Ende nicht immer klar entscheiden lassen. Denn wenn insbesondere Popmusik immer auch eine Form medialer Inszenierung einschließt, fällt dies auf die eingangs zitierten Aussagen von internationalen Stars wie Dylan oder nationalen wie Regener und von Lowtzow zurück: Künstler, die ihre eigenen Texte gerne als Gegenstand wissenschaftlicher Analyse oder gar des Literaturunterrichts sähen, verlören vermutlich umgehend ihre Aura wenn schon nicht länger des Rebellen, so doch des ‚systemkritischen‘ Nonkonformisten. (Vgl. hierzu auch den Beitrag von Ole Petras in dem Band, der dem „Außenseitertum als Authentifizierungsstrategie in den Lyrics von Dylan, Brecht, Biermann“ nachgeht.) Oder, polemisch verkürzt, in den Worten eines Liedverses der österreichischen Gruppe Wanda, mit dem auch Reinald Goetz seine Dankesrede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises singend schloss: „Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag für Amore, Amore!”

Titelbild

Frieder von Ammon / Dirk von Petersdorff (Hg.): Lyrik/ lyrics. Songtexte als Gegenstand der Literaturwissenschaft.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
424 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835333819

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch