„Von Unterdrückung nicht widerlegbar“

Lobrede auf den Dichter Günter Kunert – aus dem Jahr 1980

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Partir, c‘est toujours un peu mourir; abreisen, das bedeutet immer auch ein wenig sterben. An dieses französische Sprichwort mag Günter Kunert gedacht haben, als er im Oktober 1979, von der Mark Brandenburg nach Schleswig-Holstein ziehend, die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland überquerte.

Was sich hier abspielte, war ungleich mehr als ein Umzug, mehr als ein Abschied. Wie sollte man es nennen? Vielleicht: ein Abtötungsverfahren. So jedenfalls hat Kunert seinen ersten nach jener Grenzüberschreitung veröffentlichten Gedichtband betitelt, einen Band, der eine Anzahl noch in der DDR geschriebener Gedichte mit den schon im Westen entstandenen verbindet.

Aber was ist denn mit der Vokabel „Abtötungsverfahren“ gemeint? Da alles, was entsteht, abstirbt und zugrunde geht, kann man dieses beinahe bürokratisch anmutende Wort als ein düsteres und makabres Bild für die Vergänglichkeit des Daseins begreifen: Leben wäre somit ein einziges Abtötungsverfahren, dem wir alle fortwährend ausgeliefert sind. Doch kann man den Titel auch anders deuten, ihm einen weniger passiven Sinn geben. Das Abtötungsverfahren wäre dann nicht ein Prozeß, dem wir unausweichlich unterworfen sind, sondern einer, den wir selber in Gang setzen: Abtötung somit als Beseitigung von Vergiftetem, von Krankheitserregern, als Heilung und Regeneration.

Wie immer Kunert den Titel dieser Gedichtsammlung verstanden wissen wollte, seine Verse erfüllen beide Funktionen: Sie machen uns die unentwegte und unvermeidbare Abtötung bewußt, und sie beabsichtigen und bezwecken zugleich jene Abtötung, die notwendig ist um des Lebens willen. Und dies gilt wohl auch für Kunerts Schritt im Oktober 1979, für seinen Abschied von der DDR. Da war für ihn etwas abgestorben, und da hat er etwas abgetötet. In dem Gedicht „Platzwechsel“, der den Band „Abtötungsverfahren“ eröffnet, ist von den Kisten die Rede, in denen dem umgesiedelten Dichter „die Vergangenheit folgte / bruchsicher verpackt“. Nicht eine Erinnerung, räumt er ein, sei beschädigt, „aber keine will mir mehr gehören“.

Wie war es dazu gekommen? Warum hielt er es für richtig und nötig, den Staat zu verlassen, den er fast dreißig Jahre lang als Schriftsteller und auch als Mitglied der regierenden Partei befürwortet und unterstützt hatte? Was immer in der DDR geschehen war und wogegen er bei manch einer Gelegenheit unmißverständlich protestiert hatte – nie dachte er daran, dem Land, in dem er aufgewachsen war, den Rücken zu kehren, nie wollte er sich von der SED trennen, aus der er schließlich, im Januar 1977, verstoßen wurde, freilich, wie wir hinzufügen dürfen, mit gutem Grund.

Stand also hinter seiner Entscheidung, den Wohnsitz in die Bundesrepublik zu verlegen, eine plötzliche Einsicht, gar eine Erleuchtung? Nein, das trifft nicht zu. Es sind nicht politische Enttäuschungen, sondern konkrete praktische Erfahrungen, die Kunert so und nicht anders handeln ließen. Er wurde in seiner Heimat öffentlich attackiert und denunziert, und natürlich hatte er keine Möglichkeit, sich zu wehren.

Nun ist dies für einen Autor in der DDR, den der Staat im Laufe der Jahre mit einigen Preisen ausgezeichnet hatte und dessen Gedichte längst in den Schullesebüchern zu finden waren, nicht-unbedingt eine ausweglose Situation. Schließlich hätte auch Kunert machen können, wozu manche seiner nicht weniger berühmten Kollegen im Arbeiter-und-Bauern-Staat durchaus bereit waren – auch seinen frühen Jahren ließen sich allerlei Kindheitsmuster abgewinnen, zur Not hätte auch er seine Erinnerungen an die Jugendzeit in schönes Abendlicht tauchen können. Und schon wäre dem Dichter Kunert der für ihn reservierte Platz auf einem volkseigenen Sockel erhalten geblieben.

Nein, er konnte diesen Weg nicht gehen. „Ich war nicht mehr fähig“ – erklärte er später in einem Interview –, „überhaupt noch eine Zeile aufs Papier zu bringen. Ich hätte zwar schreien, aber nicht mehr schreiben können.“ Daraus zog er die einzige für ihn mögliche Konsequenz: „Mir blieb nichts anders übrig, als zu versuchen, außerhalb der DDR meine Schreibfähigkeit wiederherzustellen.“

Dies aber bedeutet, daß der jahrzehntelang um Loyalität bemühte DDR-Bürger Kunert sich zur Kapitulation entschloß, um dem Schriftsteller Kunert die Kapitulation zu ersparen. In einem Gedicht mit dem ebenso selbstbewußten wie berechtigten Titel „Standhaftigkeit“ sagt er, er habe sein Leben geändert und „den drohenden Sockel verlassen“, um seinen Standpunkt wahren zu können. Mit anderen Worten: Nicht als Protest oder Rebellion ist seine Entscheidung vom Jahre 1979 zu verstehen. Es war nicht ein Akt des Widerstands, sondern der Selbstverteidigung, der Selbstbehauptung.

Kunert ist also weder emigriert noch geflüchtet. Vielmehr wurde er, indem man ihn hinderte, seinen Beruf auszuüben, aus dem Land, das er für seine Heimat hielt, verdrängt und vertrieben. Und hier und jetzt ist der Augenblick, um, ein vielzitiertes Wort von Bertolt Brecht abwandelnd, mit Nachdruck zu erklären: Unglücklich das Land, das seine Dichter fürchtet. Bedauerlich das Land, das seine Dichter vertreibt. Schändlich der Staat, der seine Dichter verhaftet.

Bittere Erfahrungen mit einem deutschen Staat, der seine besten Dichter ebenfalls nicht ertragen konnte, hatte Kunert, der Sohn einer Jüdin, schon in seiner frühen Jugend gemacht – und damit mag es zusammenhängen, daß vieles, was er geschrieben hat und schreibt, befremdet und wohl auch befremden muß. Denn wer überstanden hat, was Deutsche „Endlösung“ und Amerikaner „Holocaust“ genannt haben, der kann nicht in Frieden mit sich selber leben. Wer zufällig verschont wurde, während man die Seinen gemordet hat, der bleibt ein Gezeichneter und meist auch ein Heimatloser. In Kunerts Gedicht „Kennzeichen“ heißt es knapp: „Nirgendheim: da kommen wir her / da fahren wir hin.“ Und schließlich: „Wer einst das innere Gleichgewicht verloren hat und – allen Illusionen zum Trotz – nie wiederfinden konnte, der neigt oft den Extremen zu.“

In der Tat sind Kunerts Gedichte extrem, aber aggressiv sind sie nicht: Sie geben zu bedenken, doch wollen sie den Leser nicht überreden, sie hüten sich, ihn zu überrumpeln. Diese Verse irritieren, ohne etwa aufzuwiegeln. Ja, sie alarmieren, ohne indes aufzuhetzen. Er war nie ein Dichter der Offensive, sondern stets der Defensive, einer, der nicht agiert, sondern meist reagiert.

Seine Gedichte sind nicht als Manifeste, ja nicht einmal als Aufforderungen zu verstehen. Vielmehr sind es Reflexionen und Meditationen oder auch Bilder, die Situationen und Vorgänge festhalten. Es sind eben nicht Aufrufe, sondern meist stille Angebote eines nachdenklichen Zeitgenossen. Nicht hinreißen sollen sie die Leser, wohl aber bewegen.

Vorwiegend defensiv sind auch jene neuen Gedichte, in denen Kunert jetzt in lapidaren, auffallend nüchternen Versen seine DDR-Zeit resümierend betrachtet:

Eine kurze brutale Geschichte
voll langer lauter Versprechen
die deine Frage doch
nicht mehr übertönen.

Und diese Frage, die sich früher offenbar übertönen ließ, lautet: „Worauf warten?“ Man hat ihn gelehrt, daß jede Revolution um ihrer Reinheit willen im Blute baden müsse. Wie aber, wenn sie gesiegt hat? Dann – antwortet Kunert sachlich und vielleicht resigniert – dann sind die Überlebenden so überflüssig „wie verdorrte Blumen / auf dem Schreibtisch / der Macht“.

In der DDR, in dieser „Provinz amtlich entzogener Seelen“, war er immer schon ein unbequemer und zuletzt auch ein bewachter Dichter. Sein Gedicht „Kein Sommer keine Schonzeit“ beginnt mit den Worten: „Vorm Fenster mal Nebel mal Polizisten / die Gegend erblaßt“. In dem Gedicht „Belagerungszustand“ ist von drei Autos die Rede, die Stunde um Stunde vor dem Haus des Dichters stehen: „im Fond Marx, Engels, Lenin, Stalin“. Auch diese Bewacher, die – wie es höhnisch heißt – „direkt aus dem Hauptquartier der Utopie“ kommen, haben Kunert den Weg bereitet „dorthin wo keiner einem / die Sprache verschlägt“.

Was immer er damit gemeint hat, hier, in der Bundesrepublik, wagt es keiner, ihm die Sprache zu verschlagen. Er ist hier geblieben – wie könnte es anders sein? –, was er von Anfang an war: ein Dichter des Zweifels und des Widerspruchs, und was er später wurde: ein Poet der großen Vergeblichkeit.

Seine Verse meinen stets uns, unsere Zeit und unsere Welt. Sie umschreiben und artikulieren Symptome, sie wollen das Provisorische unserer Existenz bewußt machen. Viele dieser im Westen geschriebenen Gedichte ergeben ein grausiges Pandämonium, ein apokalyptisches Szenarium, entworfen von einem, der nicht gewillt ist, uns zu schonen.

Von Zerstörung und Untergang lesen wir, von Trümmern und Ruinen, von Blindheit, Taubheit und Stummheit, von Todesschreien – und von der Leichengemeinschaft. Jeder Anblick ist hier trostlos, jede Liebe schon verblichen. Noch gibt es im Wald Bäume, aber es sind die letzten aus Holz. Das Welttheater ist grausam und sinnlos, ein Hamlet verblutet nach dem anderen: „Beschmutzt von Furcht und Mitleid aller Dramen“ erfahren wir nichts. „als daß wir die Komparsen sind“. Gebirge zerfallen zu Sand, Gebeine bilden unseren Lebensgrund. Um die Augen hat die Welt eine Binde, alles wird vom „stillen Sterben“ ergriffen. Die Zukunft ist „eine ferne Ruine am Horizont“. Uns steht nur noch bevor, daß wir „in Abwesenheit versinken“. „Vor der Sintflut“ – so ist eines dieser Gedichte überschrieben, und so könnte auch der ganze Band betitelt sein.

Man hat Kunert einen pessimistischen Poeten genannt. Doch ist das keine Kategorie, mit der man der Dichtung beikommen kann. Waren denn – um nur das eine Beispiel anzuführen – die Propheten des Alten Testaments, diese unbarmherzigen Warner und Mahner, Pessimisten? Man hat Kunert unlängst auch als einen Endzeit-Lyriker bezeichnet. Doch damit ist nur gesagt, daß er ein Lyriker unserer Epoche ist. Gewiß, seine Gedichte sind düster. Aber sie erhellen. So paradox dies auch klingen mag: Von dieser schrecklichen Finsternis geht Licht aus.

Wer wie Kunert hartnäckig und in immer neuen Bildern die Sinnlosigkeit unserer Welt beschwört, der verrät damit, daß er nicht aufhören kann, nach dem Sinn dieses Daseins zu fragen. Er malt den bevorstehenden Untergang der Menschheit an die Wand. Wozu? Glaubt er etwa, diese Katastrophe aufhalten zu können? Nein, gewiß nicht. Aber immerhin scheint er doch zu glauben, daß es möglich und auch nützlich ist, den Zeitgenossen die Augen zu öffnen. Kunerts Gedicht „Programm“ läuft auf ein bitteres und verzweifeltes Fazit zu: „Da hoffe du. Du hoffst dich wund.“ Ja, in der Tat, er hofft sich wund. Und selbst wenn er es verhindern möchte – letztlich läßt er auch uns hoffen.

„Die Selbstzerstörung findet im Geheimen / und trotzdem vor dem Leser statt.“ Kunert hat dies über Gottfried Benn geschrieben, aber es gilt für ihn selber ebenfalls: Auch wenn seine Gedichte intime Selbstgespräche sind, so erinnern sie doch an Monologe auf der Bühne – der hier redet, weiß und will, daß man ihm zuhört. Es sind also Monologe mit einem Adressaten – und schon in diesem Umstand verbirgt sich, was für die Lyrik Kunerts von Anfang an charakteristisch war: das pädagogische Element, das immer der Literatur innewohnt und das man, ob er es wollte oder nicht, auch in seinen Versen, in seinen Parabeln zumindest spürt.

„Geräusch“, eines der wenigen appellierenden Gedichte im Band „Abtötungsverfahren“, fällt auch insofern etwas aus dem Rahmen, als es ausnahmsweise beides zugleich erkennen läßt – die finstere Hoffnung und den pädagogischen Eros dieses Poeten. Da heißt es am Ende:

Solange der Atem vorhält
laß nicht nach
solange verkünde die Tonfolge
… jedem erreichbaren Ohr

Was er zu sagen für richtig hielt, hat Kunert in der DDR viele Jahre hindurch jedem erreichbaren Ohr verkündet. Oft mußte er sich mit Chiffren und Metaphern behelfen, mit der Allegorie und der Verschlüsselung. Die Unfreiheit, wir wissen es längst, kann eine außergewöhnliche Stilschule sein, wenn auch eine schmerzhafte.

Die Freiheit ist keine Stilschule. Denn die Freiheit ist – wie Ludwig Börne sagte – überhaupt nichts Positives, sondern nur „die Abwesenheit der Unfreiheit“. Die Freiheit, meinte er, sei keine Idee, „sondern nur die Möglichkeit, jede beliebige Idee zu fassen, zu verfolgen und festzuhalten“.

Die Last der Unfreiheit wußte Günter Kunert mit Würde und Ausdauer zu tragen und auch mit Humor. Er ließ nicht nach, niemand konnte ihm die Sprache verschlagen. Nun muß er eine andere Last tragen – die Last der Freiheit, die nicht mehr und nicht weniger ist als die Abwesenheit der Unfreiheit. So entstehen seine neuen Gedichte und Prosastücke, unbequeme, widerborstige sprachliche Gebilde, wie eh und je – um seine eigenen Worte zu zitieren –

zur Unterdrückung nicht brauchbar
von Unterdrückung nicht widerlegbar
zwecklos also
sinnvoll also

Anmerkung der Redaktion: Mit dem Untertitel „Lobrede auf den Dichter Günter Kunert“ ist dieser Essay von Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 27. November 1980 erschienen. Für die freundliche Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung in literaturkritik.de danken wir Carla Ranicki. Der Anlass für die Laudatio war die Überreichung der Ehrengabe des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie an Günter Kunert. In einer etwas veränderten und vom Autor kommentierten Fassung ist der Essay später nachgedruckt worden in Marcel Reich-Ranicki: Lauter Lobreden. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1985 (2. Aufl. 1989). S. 140-146. Diese Fassung ist im Rahmen einer Sonderausgabe von literaturkritik.de mit gesammelten Beiträgen Reich-Ranickis über Günter Kunert erschienen.T.A.