Vorbemerkungen zur Juni-Ausgabe 2019 – Von Habermas über Luhmann zum Themenschwerpunkt „Liebe“

Jürgen Habermas, der am 18. Juni 2019 seinen 90. Geburtstag feiert, habilitierte sich 1961 an der Universität Marburg mit der dort von Wolfgang Abendroth betreuten und im Jahr darauf erschienenen Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. In Rahmen einiger Beiträge der Mai-Ausgabe 2006 von literaturkritik.de zum 100. Geburtstag von Abendroth haben wir ihm dafür gedankt, dass wir seine Grußworte zu einer damaligen Veranstaltung in Frankfurt über Abendroth veröffentlichen durften. Zu verdanken hat ihm unsere Zeitschrift, die vor zwanzig Jahren in den Anfängen eines neuen, medientechnisch bedingten „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ entstanden ist, aber weit mehr. Von dem weltweiten Einfluss des Sozialphilosophen, dessen Habilitationsschrift sich nicht zuletzt der „literarischen Öffentlichkeit“ und ihren Leistungen seit der frühen Neuzeit widmete und der später mit seinen kommunikations-, rechts-, religions- und staatstheoretischen Werken an den jüngeren Entwicklungen der Kulturwissenschaften maßgeblichen Anteil hatte, ist auch literaturkritik.de geprägt worden. Und wenn heute in heftigen Debatten, an denen wir uns gelegentlich beteiligen, zunehmend mit polemisch simplifizierenden Gegenüberstellungen von Fakten und Fakes oder Wahrheiten und Fiktionen operiert wird, kann Habermas‘ „Konsenstheorie der Wahrheit“ nach wie vor zu weit differenzierteren Unterscheidungen anleiten.

Wir gratulieren Jürgen Habermas dankbar und herzlich zu seinem 90. Geburtstag, informieren über neueste Veröffentlichungen von ihm und über ihn und geben einen Überblick über die bisher in literaturkritik.de erschienenen Beiträge über ihn. Einer davon betrifft den Soziologen Niklas Luhmann, mit dem sich Habermas intensiv auseinandergesetzt hat und über den Habermas‘ Freund Alexander Kluge vor etwa zehn Jahren eine zwischen Fakten und Fiktionen schwankende Erzählung veröffentlichte. Zu dem Wahrheitsgehalt der Geschichte haben wir damals auch Habermas befragt. Während dieser im Wintersemester 1968/69 an der Universität Frankfurt zusammen mit seinem Assistenten Claus Offe eine Übung über „Organisation und Bürokratie“ anbot, dozierte Luhmann, der 1964 mit seiner verwaltungswissenschaftlichen Abhandlung Funktionen und Folgen formaler Organisation auf sich aufmerksam gemacht hatte, über das Thema „Liebe“ – und dies in einem Semester, das in Frankfurt von studentischen Streiks, Seminarbesetzungen und Räumungen des Instituts für Sozialforschung durch die von Adorno und Ludwig von Friedeburg gegen die Studenten herbeigerufene Polizei geprägt war.

Aus Luhmanns Lehrveranstaltung ging sein Buch Liebe als Passion (1982) hervor. Dass die Grundlage dafür schon in jenen Jahren der weltweiten Protestbewegung vorlag, zu deren Slogans „Make love – not war“ gehörte, wusste damals kaum jemand und war, als es später bekannt wurde, eine Überraschung mit neuen Rätseln. Die literaturwissenschaftliche Forschung über Liebe in der Literatur hat sich mit dem Buch intensiv auseinandergesetzt. Erwähnt sei dies hier, weil es den Themenschwerpunkt unserer Juni-Ausgabe über „Emotionale Ambivalenzen der Liebe und Sexualität“ betrifft, der ebenfalls an viele frühere Beiträge zu dem Thema anknüpft.

Wir danken allen, die an der Ausgabe mitgewirkt haben, und wünschen unseren Leserinnen und Lesern anregende Lektüren.

Thomas Anz