Ein herausfordernder Meisterdenker und Weltbürger
Zum 90. Geburtstag von Jürgen Habermas erscheinen vier gewichtige Publikationen zur internationalen Wirkungs- und Ideengeschichte seines Werks
Von Dieter Kaltwasser
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer amerikanische Philosoph Ronald Dworkin umschrieb vor zehn Jahren anlässlich des 80. Geburtstags des europäischen Denkers dessen Werk und Wirken mit den Worten: „Jürgen Habermas ist nicht nur der berühmteste lebende Philosoph der Welt. Sein Ruhm selbst ist berühmt.“ In „Rankings“ wird er als einer der weltweit meistzitierten Intellektuellen ausgewiesen. Zudem hat er wie kein Zweiter die politischen Debatten der Bundesrepublik geprägt. Der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf hielt „ihn für den bedeutendsten Intellektuellen meiner Generation“.
Begründet ist dies vor allem im Wechselspiel von philosophischer und soziologischer Reflexion und politischer Intervention des Intellektuellen Jürgen Habermas, der den Satz formulierte: „Es ist diese Reizbarkeit, die Gelehrte zu Intellektuellen macht.“ Zum Kritiker gesellschaftlicher Entwicklungen wird er dann, wenn diese hinter den Potenzialen eines freien, gerechten und sozialen Lebens zurückbleiben.
Zu seinem 90. Geburtstag beleuchten vor allem vier Publikationen einerseits die internationale Wirkungsgeschichte und andererseits die Ideengeschichte seines frühen Denkens. Mit der Aufsatzsammlung Habermas global. Wirkungsgeschichte eines Werks ist es den Herausgebern Luca Corchia, Stefan Müller-Doohm und William Outhwaite unter Mitarbeit von Roman Yos gelungen, vierzig Autorinnen und Autoren aus mehr als zwanzig Wissenschaftskulturen zu versammeln, welche die weltweite Resonanz seines Werkes untersuchen. Der Band, der Anfang September veröffentlicht wird, soll zudem einen neuen Blick auf das mit dem „Begriff der kommunikativen Vernunft verbundene Lebenswerk“ von Jürgen Habermas werfen.
Für den Philosophen Habermas entfalte sich die Vernunft in der argumentativen Rede: Die von ihm entwickelte Diskursethik entwerfe ein Modell für transparente und nachvollziehbare Begründungsprozesse, hebt der Oldenburger Soziologe Müller-Doohm hervor, der 2014 die bislang umfassendsten Habermas-Biographie vorlegte. Solange im Prozess des Miteinanderredens Gründe und Gegengründe über faktisch Wahres und moralisch Gerechtes aufeinanderstoßen, darf laut Habermas erwartet werden, dass sich am Ende der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchsetzt. „Seine kritischen Denkanstöße“, so Müller-Doohm, „gelten der Idee einer streitbaren Demokratie aus dem Geiste der Kommunikation. Er plädiert für eine Politik, die dazu beiträgt, die institutionellen Voraussetzungen der Demokratie in den Ländern weltweit zu stabilisieren“.
Publizistischer Höhepunkt der diesjährigen Neuerscheinungen wird ein zweibändiges Werk des Philosophen selbst sein, das sich in einer subtilen Anlehnung an Johann Gottfried Herder Auch eine Geschichte der Philosophie nennt und Ende September erscheinen soll – ein über 1.700 Seiten starkes Alterswerk zum „Diskurs über Glauben und Wissen“. Habermas bestand immer auf einer „methodischen Differenz der Diskurse“ in Religion und Philosophie, indem er für eine säkulare Übersetzung religiöser Semantiken in nachmetaphysisches Denken plädierte.
Sein neues Buch ist ein Nachdenken über die Aufgaben der Philosophie, die an der vernünftigen Freiheit kommunikativ vergesellschafteter Subjekte festhält, und soll Aufklärung darüber erteilen, „was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen“. Im Stil einer Genealogie soll es darüber Auskunft geben, wie die heute „dominanten Gestalten des westlichen nachmetaphysischen Denkens entstanden sind“.
Als Jürgen Habermas im Jahre 1988 seinen ersten Band mit Aufsätzen über Nachmetaphysisches Denken vorlegte, ging es ihm um eine „Selbstvergewisserung philosophischen Denkens“. Er wollte mit dieser Reflexionsfigur den Abstand deutlich machen, den die zeitgenössische Philosophie vor „bloßer Weltbildproduktion“ einzunehmen habe. Doch wie kann ihr dies gelingen, ohne, so Habermas, „den Bezug zum Ganzen aufzugeben“? Ausdrücke wie „Weltbilder“ und „Weltanschauungen“, wenn sie nicht pejorativ gebraucht werden, sind seiner Einsicht nach vor allem auf die „starken Traditionen“ der Vergangenheit anzuwenden, auf die kosmologischen und theozentrischen Weltbilder der sogenannten Achsenzeit, wie Karl Jaspers sie einst nannte. An diesem großen Thema hat sich für ihn bis heute nichts geändert, wie man den bisherigen Hinweisen zu seinem neuen „Opus magnum“ entnehmen kann. Am 18. Juni feiert er seinen Geburtstag und einen Tag darauf wird er in der Goethe-Universität Frankfurt einen Vortrag mit dem Titel „Noch einmal: Moralität und Sittlichkeit“ halten.
Im Juni 2019 erscheint Roman Yos‘ Untersuchung Der junge Habermas. Eine ideengeschichtliche Untersuchung seines frühen Denkens 1952–1962, in ihrer ursprünglichen Fassung eine 2016 an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam vorgelegte Dissertation, deren Gutachter u.a. Axel Honneth war. Sie soll aufzeigen, wie Jürgen Habermas seine „bereits in jungen Jahren ausgeprägten philosophisch-politischen Denkmotive allmählich in die Bahnen eines Systems überführte.“ In diesem als Lernprozess begriffenen Verlauf trafen widersprechende geistige Einflüsse wie die von Schelling, Heidegger, Gehlen und Marx aufeinander und mussten verworfen oder vermittelt werden.
Zu seiner Studie bewog Yos der Befund eines „fehlenden Hauptdiskurses“ in der Rezeption, „etwa über den Stellenwert des Habermas’schen Gesamtwerks“, und dies weise darauf hin, „dass die Theorie in ihrer Genese, das heißt auch in ihren vormaligen Gestalten und revidierten Entwürfen, noch nicht hinreichend durchdrungen wurde.“ Seine Untersuchung „möchte diesem Mangel entgegentreten und einen theoriegeschichtlichen Beitrag zur Situierung von Werk und Person leisten.“
Der Aufbau der Studie erfolgt in Form einer Zweiteilung, einem stärker zeithistorisch „rückgebundenen“ ersten Teil, in dem es anhand der Auswertung früher Texte um die Herausarbeitung von bis heute wirkenden „Denkmotiven“ geht, und einem an systematischen Problemen orientierten zweiten Teil, in dem es um die Rekonstruktion der „Denkwege“ des Philosophen geht. Eine Art Leitfaden ist die kritische Diskussion des Textzusammenhanges; an ihm orientiert sich die Darstellung der einzelnen Kapitel und ermöglicht es dem Leser zudem, den oft verschlungenen Pfaden von Habermas‘ Denken angemessen folgen zu können.
Die Untersuchung zum Denken des „jungen Habermas“ ist ein exzellent verfasster theoriegeschichtlicher Beitrag. Im Fokus stehen u.a. die Bonner Dissertation über Schelling, die in den Jahren 1952 bis 1954 entstand und bei Erich Rothacker geschrieben wurde, sowie die Marburger Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit, die bei Wolfgang Abendroth 1961 zum Abschluss gebracht wurde.
Am Ende seines Buches befasst sich Yos mit einem Text von 1961, der den Titel Der deutsche Idealismus und die jüdischen Philosophen trägt. In ihm erwähnt Habermas, er habe noch vor „wenigen Jahren im Philosophischen Seminar an einer unserer großen Universitäten“ die Behauptung gehört: „Juden bringen es bestenfalls zu Sternchen zweiter Ordnung.“ 2011 hielt er einen Vortrag auf Schloss Elmau, in dem er mitteilt, dass dies eine Bemerkung des Bonner Professors Erich Rothacker gewesen sei, der damals von „Juden und Frauen“ gesprochen habe. Rothacker war seit 1932 Mitglied des nationalsozialistischen Lehrerbundes.
Der Vortrag endet mit den Worten: „Nach meinem Eindruck verdankt die politische Kultur der alten Bundesrepublik ihre zögerlichen Fortschritte in der Zivilisierung ihrer Einstellungsmuster zu einem guten, ja ausschlaggebenden Teil jüdischen Emigranten.“ Sie verdanke diesen „glücklichen Verlauf vor allem jenen, die großmütig genug waren, in das Land zurückzukehren, aus dem sie vertrieben worden waren. Von ihnen haben ein, zwei akademisch ,vaterlose‘ Generationen gelernt, wie man von einem korrumpierten geistigen Erbe die Traditionen unterscheidet, die es wert sind, fortgeführt zu werden.“
Von 1971 bis 1980 war Jürgen Habermas neben Carl Friedrich von Weizsäcker Direktor am Max-Planck-Institut in Starnberg zur Erforschung der Lebensbedingungen der technisch-wissenschaftlichen Welt, von 1980 bis 1982 war er Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften in München. Das 1982 erschienene Hauptwerk seiner Forschungen in dieser Zeit, die zweibändige Theorie des kommunikativen Handelns, wurde zu einem Höhepunkt und Meilenstein in der Geschichte der modernen Gesellschaftstheorie.
Der britische Verlag Cambridge University Press hat im Mai 2019 ein umfassendes Lexikon über Jürgen Habermas herausgebracht. Die beiden Herausgeber der Publikation sind Amy Allen und Eduardo Mendieta. Verfasst wurde das Lexikon von einem internationalen Autorenteam – darunter auch Wissenschaftler der Goethe-Universität Frankfurt, an der Habermas von 1983 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1994 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie war. In über 200 Einträgen werden Habermas‘ Konzepte, Kategorien, Themen und Debatten erläutert sowie fachliche und intellektuelle Kontexte herausgearbeitet. Die Zusammenstellung von über 120 Begriffen reicht von „Aesthetics“ bis „World Disclosure“, die Liste wichtiger auf Habermas bezogener Denker beginnt mit Theodor W. Adorno und endet bei Iris Marion Young; porträtiert werden im Kapitel „Names Associated“ auch die Philosophen Axel Honneth und Rainer Forst.
Das Werk enthält ein System von Verweisen zwischen den einzelnen Einträgen und auf weiterführende Literatur zum jeweiligen Thema. Außerdem liefert es einen Überblick über den akademischen Werdegang des Gelehrten, ein Werkverzeichnis und eine umfassende Bibliographie. Matthias Lutz-Bachmann, Professor für Philosophie an der Goethe-Universität und Direktor des Forschungskollegs Humanwissenschaften, betonte, das Cambridge Habermas Lexicon zeige die überragende Bedeutung des Denkers: „Ja, ich möchte so weit gehen und feststellen, dass Jürgen Habermas sogar der weltweit wichtigste Philosoph unter den heute lebenden Philosophen ist. Und wir dürfen stolz darauf und dankbar dafür sein, dass er ein Mitglied des Instituts für Philosophie der Goethe-Universität und ein häufiger Gast auch am Forschungskolleg Humanwissenschaften sowie des Frankfurter Exzellenz-Clusters ‚Die Herausbildung normativer Ordnungen‘ ist. Wir haben alle von ihm bis auf den heutigen Tag unendlich viel gelernt.“
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