Wider die passive Vernunft
Ein Tagungsband von Amelie Bendheim, Heinz Sieburg und Uta Störmer-Caysa untersucht die historisch-kulturelle Dimension von „Vorurteil und Befangenheit“
Von Jan Alexander van Nahl
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Vorurteil und Befangenheit werden zwei Grundkonstanten des menschlichen Miteinanders aufgerufen. Vermeintlich selbsterklärend, würden individuelle Definitionsversuche fraglos Schnittmengen aufzeigen, aber eben auch bedeutungsträchtige Differenzen. Kulturelle Aspekte dieses Verständnisangebots in ihrer historischen Dimension versammelt der vorliegende Tagungsband, fußend auf einer 2020 gehaltenen Zusammenkunft. Dreizehn Beiträge gehen den Themenkomplex unterschiedlich an, sprach- und ideenhistorische Einordnungsversuche stehen neben Fallstudien am Einzeltext oder programmatisch abstrahierten Aufrufen, eine systematische Gliederung ist nicht unmittelbar erkennbar. Die inhaltliche Breite geht mit unterschiedlicher Tiefe einher, manchem wird der Fachvertreter rasch zustimmen wollen, anderes erscheint diskussionsnötiger.
Ernst-Dieter Hehl geht im Eingangsbeitrag dem lateinischen praeiudicium auf den Grund, das zwar wortgeschichtlich die Vorlage des deutschen Wortes ‚Vorurteil‘ liefere, inhaltlich zu diesem aber in bemerkenswertem Konflikt stünde. Diskussionsfähig ist Hehls These, solche Vorurteile seien, anders als das praeiudicium, statisch, also nicht Teil eines inneren Prozesses, sondern unverrückbar im Individuum verankert, solange der äußere Anstoß zur Änderung fehle. Da es um Meinungen geht, wäre zu fragen, auf welcher Grundlage hier das Urteil über das Vorurteil zu fällen ist und ob dem Individuum (oder der Gruppe) nicht doch zuzutrauen ist, eine Meinung im eigenen Erkenntnisprozess zu revidieren.
Das praeiudicium dient auch Philipp Friedhofen als Ausgangspunkt, doch entwickelt er daraus unter Verweis auf Hans-Georg Gadamer ein hermeneutisches Vor-Urteil: Ein solches Urteil sei literarhistorisch im Sinne narrativ evozierter Erwartungshaltungen zu verstehen, ein Spiel mit Anspielungen, das das explizit Gesagte (im Grenzbereich von bewusster und unbewusster Rezeption) mit einem Mehrwert anreichere.
Gadamers Reflexion über Vorbedingungen des Verstehens diskutiert an anderer Stelle eingehender Annika Schlitte, die damit zugleich das Gegenstück zu Christine Waldschmidts vorausgehender Darstellung des aufgeklärten Vorurteils bildet: Wo die Aufklärung allgemein das Vorurteil als unbegründete (oder: vorbegründete) Meinung kritisierte, da ging Gadamers Kritik bekanntermaßen dahin, das Vor-Urteil als unhintergehbare Verhaftung des Menschen in seiner Geschichtlichkeit zu rehabilitieren. Schlitte hebt diese letztere Kritik als Mahnung auch an den heutigen Interpreten hervor, sich Vormeinungen einzugestehen – eine vorurteilsfreie Herangehensweise sei in der Wissenschaft eine Selbsttäuschung.
Mit diesen Beiträgen ist ein mehrstimmiger Ausgangspunkt geschaffen, der von den folgenden Aufsätzen allerdings nicht systematisch fortgesetzt wird. Amelie Bendheim schließt mit einer Betrachtung zu mäzenatischer Befangenheit im Mittelalter an, womit schlicht gemeint ist, dass mittelalterliche Autorschaft wesentlich als Auftragsdienst zu verstehen sei: „Der Text ist korrumpiert von den Interessen des Mäzens.“ Bendheim weist allerdings an Beispielen nochmals nach, was die mediävistische Ambiguitätsforschung bereits betont hat, nämlich dass solches Diktat von oben in der konkreten Erzählung durchaus vielstimmig unterlaufen werden konnte.
Und wo etwa Hehl von einem modern verstandenen Vorurteil im Blick auf mittelalterliche Literatur ungern sprechen wollte, argumentiert Tina Terrahe dann für ein solches Vorurteilsverständnis bereits bei Wolfram von Eschenbach: Es geht um Vorverurteilungen im Sinne vorgefertigter und ultimativ ungerechtfertigter Meinungen, denen sich die Figuren gegenübersehen. Aus dieser Spannung heraus entwickle die Erzählung einen didaktischen Charakter, der den rechten Umgang mit Vorurteilen aufzeige.
Solche Didaxe sieht Ruth Reicher in der Erzählung über Morant und Galie wirksam: Morants Treue zum Trotz reicht eine bloße Diffamierung, um Herrscher Karl zu Unrecht an seinem Gefolgsmann zweifeln zu lassen. Hier aber kann ein „Lernprozess“ einsetzen, der Karls Heranwachsen zum gerechten Herrscher untermauert, wobei die letzte Gerechtigkeit von oben vermittelt wird, Karl die konkrete Entscheidung per Gottesurteil der eigenen Kompetenz enthebt.
In einer letzten Textstudie, am Beispiel der Sieben weisen Meister aus dem 15. Jahrhundert, nähert sich Jutta Eming der zunächst augenfälligen Verbindung von Vorurteil und Gender an. Das ist insofern wiederum Mahnung auch an den heutigen Interpreten, als sie nachzuweisen versucht, dass gängige Urteile in Bezug auf die historische Dimension von Gendervorurteilen oft ebenfalls Vorurteile sind: Zu bereitwillig würde mancher Interpret konkrete „historische Sinnebenen“ der Erzählung zugunsten stereotyper Wertungen hintanstellen.
Dezidierter den Fokus auf die Rezeptionsebene richtet Uta Störmer-Caysa, konkret auf den Umgang mit früheren Ausgaben im Editionsprozess: Anhand einiger Beispiele zeigt sie das Walten persönlicher und fachlicher Vorurteile in editorischer Entscheidungsfindung auf. Vage damit verbunden ist Dennis Disselhoffs Betrachtung zur Rezeption mittelalterlicher Melodien im 19. Jahrhundert, eine Rezeption, deren Grundlagen er in der widersprüchlichen Gemengelage eines Mittelalterbildes zwischen verklärender Faszination und wissenschaftlichem Anspruch verhaftet sieht. Diesem nicht immer schmerzfreien Spagat zwischen Eckpfeilern der Mittelalterrezeption widmet sich auch Heinz Sieburg in einem kurzen Beitrag, in dem er noch einmal darauf aufmerksam macht, dass „eine naive Unbefangenheit gegenüber dem Mittelalterbegriff fehl am Platze ist“ – das wird niemand im Fach bestreiten, und ebenso wenig, dass die allgemeine Mittelalterbegeisterung nicht automatisch vorteilhaft auch für die akademische Sphäre ist.
Wiederum ein anderes Thema geht der vorletzte Beitrag von Martin Uhrmacher an: die historische Entwicklung von Vorurteilen gegenüber Leprakranken, wobei das aus Fallbeispielen gewonnene Fazit, dass solche Vorurteile existiert und das Leben von Individuen und Kollektiven geprägt hätten, nicht unerwartet kommt. Der Beitrag hätte sich vielleicht an anderer Stelle im Buch besser eingefügt. Das gilt letztlich auch für den Abschlussbeitrag von Aleksandra Trzcielińska-Polus, der sich in aller Kürze der kollektiven Erinnerung an den Deutschen Orden in Polen widmet und dabei eine gegensätzliche Instrumentalisierung dieser Erinnerung seitens deutscher und polnischer Politik herausstellt.
Deutlich wird die thematische und methodische Breite der Aufsätze, die sich stellenweise in der Lektüre assoziativ zu größeren Argumentationszusammenhängen fügen, meist aber wesentlich für sich stehen. Nicht alle Beiträge präsentieren neuen Einsichten, alle aber liefern ideologiegeschichtliche Einordnungen und stellen damit Vorurteile über Vorurteile mal mehr, mal weniger explizit zur Debatte.
Wünschenswert gewesen wäre ein etwas tiefer gehendes und verbindlicheres Vorwort, das in der vorliegenden Form wenig mehr als Zusammenfassungen der einzelnen Beiträge bietet. Ausdrücklich sieht das Herausgeberteam es nicht als Zielsetzung, „tagesaktuelle Gesellschaftslagen“ zu perspektivieren, gleichwohl wird gerade das Zusammenspiel von „Vorurteil“ und „Befangenheit“ als besonders produktiv betrachtet und mehrere Beiträge verweisen punktuell auf anhaltend relevante Aspekte dieser Debatte.
Man kann also fragen, ob solche Produktivität nicht besonders mit Blick auf die aktuelle Gesellschaftslage bedeutsam sein könnte. Die Antwort wäre wohl ein klares Ja. Denn diese Lage (egal ob man an Lügenpresse und Fake-News oder an den gesellschaftsfähig gewordenen Rechtspopulismus denkt) hat sich längst so unerfreulich deutlich etabliert, dass es um keine flüchtige Tagespolitik mehr geht, sondern etwas deutlich Größeres konfrontiert werden muss. Hier hätte man sich ein kräftigeres Zugreifen dieses Bandes zum wichtigen Thema vorstellen können. Diese Chance wurde nicht wahrgenommen, doch bleibt dem Buch anzurechnen, die mediäv(al)istische Aufmerksamkeit erneut geschärft zu haben.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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