Zwischen den Ländern, zwischen den Sprachen, zwischen den Zeiten
Dana Vowinckels brillanter Debütroman „Gewässer im Ziplock“ erzählt von der Vielfalt jüdischen Lebens heute
Von Stefan Hermes
In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bilden Reisen nach Israel ein wiederkehrendes Sujet. Viele der einschlägigen Werke stammen von Autor:innen, die entweder selbst Jüdinnen bzw. Juden sind oder aber eine biographische Nähe zum Judentum besitzen: Neben Texten von Katharina Hacker und Lena Gorelik, von Doron Rabinovici und Vladimir Vertlib zählen dazu Olga Grjasnowas unlängst verfilmter Bestsellerroman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) und Dmitrij Kapitelmans Reisebericht Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (2016). Indes zeichnen sich beide Werke, ungeachtet aller sonstigen Differenzen, wesentlich dadurch aus, dass sie nicht allein israelisch-deutsche Verhältnisse thematisieren. Vielmehr kommt der Kindheit der Protagonist:innen in einer (ehemaligen) Sowjet-Republik, namentlich in Aserbaidschan bzw. in der Ukraine, erhebliche Relevanz zu – und auch ihren kurzen Abstechern nach Palästina. Insofern eignet den interkulturellen Begegnungen, von denen Grjasnowa und Kapitelman erzählen, eine hohe Komplexität.
Ähnliches ließe sich nun mit Blick auf Gewässer im Ziplock sagen, den im vergangenen Jahr publizierten Debütroman der 1996 geborenen Berliner Schriftstellerin Dana Vowinckel, in dessen Zentrum ebenfalls eine Israelreise steht. In anderer Hinsicht jedoch unterscheidet sich der Text gravierend von denen Grjasnowas und Kapitelmans. So spielt die Migration jüdischer ,Kontingentflüchtlinge‘ aus der zerfallenen UdSSR in das wiedervereinigte Deutschland darin keine größere Rolle: Bei Vowinckel kreist das Geschehen um den in Israel geborenen und aufgewachsenen, aber seit vielen Jahren in Deutschland lebenden Kantor Avi und seine 15-jährige Tochter Margarita. Deren Mutter, die US-amerikanische Linguistin Marsha, hatte die beiden verlassen, als Margarita noch ein Kleinkind war, um in ihre Heimat zurückzukehren. Dort wiederum, in Chicago, verbringt ihre Tochter regelmäßig die Schulferien – nicht bei Marsha allerdings, sondern bei deren Eltern Dan und Selma.
Mit diesem israelisch-deutsch-amerikanischen Beziehungsgeflecht geht ein weiterer Aspekt einher, durch den sich Gewässer im Ziplock von Der Russe ist einer, der Birken liebt und Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters abhebt. Im Gegensatz zu Grjasnowa und Kapitelman hat Vowinckel nicht primär Figuren von Jüdinnen bzw. Juden entworfen, die ein tendenziell areligiöses Leben führen und erst in Israel nähere Bekanntschaft mit Kernelementen des jüdischen Glaubens machen. Entsprechend sind diese keineswegs bloß in jenen Abschnitten präsent, in denen die heterodiegetische Erzählinstanz Avis Perspektive einnimmt, sondern bisweilen auch in den damit alternierenden Passagen, in denen die Handlung aus Margaritas Blickwinkel geschildert wird. So fallen auf engstem Raum und meist ohne Erläuterung Begriffe wie „Minjan“ und „Sukkot“, „Brachot“ und „Nusach“, die für die Mehrheit des (nicht-jüdischen) Lesepublikums kaum verständlich sein dürften, im Glossar des Romans aber nur zum Teil erhellt werden. Obwohl sich all diese Begriffe in Sekundenschnelle online nachschlagen lassen, entsteht dadurch ein gewisser Alteritätseffekt.
Charakteristisch ist für Gewässer im Ziplock also, dass jewishness darin auch als eine dezidiert religiöse Form von Zugehörigkeit gefasst wird – und nicht nur als eine (kultur)historisch bedingte. Eminente Bedeutung besitzt zudem, und hierin gleicht Vowinckels Text denn doch wieder denen von Grjasnowa und Kapitelman, das Thema der Sprachenvielfalt: Neben der skizzierten Figurenkonstellation indiziert das bereits der Romantitel. So mag man das letzte Wort zunächst für einen geographischen Namen halten; de facto jedoch handelt es sich um die Kurzform von ziplock bag, der englischen Bezeichnung für jene wiederverschließbaren Kunststoffbeutel, in denen Behälter mit flüssigem Inhalt zu verstauen sind, wenn man sie auf einer Flugreise im Handgepäck mitführen will. Angesichts dessen aber liest sich das erste Wort des Romantitels wie eine verfehlte Übersetzung aus dem Englischen; korrekt erschiene ,Flüssigkeiten‘. Und tatsächlich sind Übersetzungsfragen für Gewässer im Ziplock von einigem Belang: Avis Erstsprache ist Iwrit, während sich Margarita im Deutschen am sichersten fühlt; Marsha jedoch beherrscht beide Sprachen kaum, sodass die beiden auf Englisch mit ihr kommunizieren (müssen). Dan wiederum spricht nicht weniger als sieben Sprachen (und kann fünf weitere lesen), während sich Selma infolge eines Haushaltsunfalls phasenweise gar nicht mehr zu artikulieren vermag. Mit dieser intrafamiliären sprachlichen Heterogenität korrespondiert der Umstand, dass Vowinckel etliche hebräische und englische Sequenzen in ihren deutschen Text integriert hat.
Überdies deutet der Titel von Gewässer im Ziplock subtil an, wie stark der Plot von Flugreisen der Figuren – zwischen Berlin, Chicago und Tel-Aviv – bestimmt wird: Knut Elstermann hat in der Jüdischen Allgemeinen konstatiert, das „Prinzip des permanenten Ortswechsels“ verweise bei Vowinckel auf eine „jüdische Grunderfahrung von Fremdheit“. Der Hauptschauplatz des Romans aber ist eben Israel, wo Margarita und Marsha nach rund einem halben Jahrzehnt erstmals wieder zusammentreffen. Auf einem gemeinsamen Roadtrip von Jerusalem bis ans Rote Meer und zurück geraten sie mehrfach heftig in Streit, doch kommt es gleichermaßen zu Momenten der wechselseitigen Annäherung. Das Persönliche jedoch, und mithin auch Margaritas von Schamempfindungen dominierter Coming-of-Age-Prozess, ist bei Vowinckel stets mit darüber hinausreichenden Fragen verknüpft: Wenn sich die 15-Jährige trotz der Beziehung, die sie in Berlin führt, auf ein (deprimierend endendes) sexuelles Abenteuer mit dem Israeli Lior einlässt, bringt dies eine recht gründliche Beschäftigung mit den politischen Realitäten in dessen Land mit sich. Und wenn Margarita von ihrer Mutter unvermittelt in ein Familiengeheimnis eingeweiht wird, muss sie sich noch intensiver als zuvor damit befassen, was eine jüdische Identität eigentlich ausmacht. Eine Auseinandersetzung mit der Shoah und den diesbezüglichen, in mancherlei Hinsicht konkurrierenden Erinnerungskulturen mutet dabei unausweichlich an, und so enthält Gewässer im Ziplock die ausführliche Schilderung eines Yad-Vashem-Besuchs sowie Zitate aus Paul Celans 1944/45 entstandener Todesfuge. Außerdem reflektiert der Roman sowohl einige Etappen der Geschichte Israels – wo Avi einst eine Karriere als Kampfpilot einzuschlagen versuchte – als auch den deutschen Antisemitismus der Gegenwart, wie er sich im Terroranschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale vom 9. Oktober 2019 manifestierte.
Einen didaktisierenden Sound aber vermeidet Vowinckel in den entsprechenden Abschnitten, und generell besticht ihr Erzählen über weite Strecken durch seine Nüchternheit. Gerade deshalb gelingen ihr einige anrührende und eben nicht kitschige Szenen, und zwar insbesondere solche, die sich zwischen Margarita und ihrem alleinerziehenden (und von tiefer Einsamkeit geplagten) Vater abspielen. Im Vergleich dazu bleibt die Marsha-Figur eher blass, und demgemäß erfährt man im Schlusskapitel des Romans – das, wie ansonsten nur das erste, weder aus Avis Perspektive noch aus der seiner Tochter erzählt wird –, dass sich Margarita letztlich dagegen entscheidet, zu ihrer Mutter in die USA zu ziehen.
Die bemerkenswerte Souveränität, mit der Vowinckel den von ihr gewählten Stoff bewältigt, mag in Teilen auf den Austausch mit drei äußerst renommierten Autorinnen zurückgehen: In der Danksagung von Gewässer im Ziplock begegnen unter anderem die Namen von Julia Franck, Olga Grjasnowa und Katharina Hacker. Das jedoch schmälert Vowinckels literarische Leistung selbstredend nicht im Geringsten. Den durchaus konfliktgeladenen Facettenreichtum jüdischen Lebens führt ihr Roman in beeindruckender Manier vor Augen, und somit lohnt er unbedingt die Lektüre – zumal in Zeiten, in denen sich Jüdinnen und Juden wieder zunehmend mit blankem Hass (oder achselzuckender Gleichgültigkeit) konfrontiert sehen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
![]() | ||
|
||
![]() |