#Me too an der Bar der Münchner Oper
Martin Walsers neuester Roman „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“
Von Alexandra Pontzen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine genaue Definition dessen, was ein Alterswerk ausmacht, gibt es nicht; aber vielleicht liefern die Texte, die wir der selbst im hohen Alter anhaltenden stupenden Fruchtbarkeit Martin Walsers verdanken, einige verallgemeinerbare Charakteristika. Zu diesen gehört, dass die Fiktionalisierung der Autorsubjektivität durchschaubar bleibt, dass Disparates oft nur locker zusammengefügt wird und dass die Ausgestaltung mancher Details eher lässig als sorgfältig wirkt. Was als negativ gewertet werden kann, hat seine positive Seite: Ein Alterstext ist frei von dem einengenden Bemühen um Plausibilität, und das gibt dem Autor eine Souveränität, die den Vorwurf der Willkür nicht scheut.
Walsers neuer Roman ist also keine „runde Sache“. Doch nicht als typisches Alterswerk dürfte das schmale Bändchen das größte Interesse finden, sondern als Text, der formal und inhaltlich an Aktuelles anknüpft und so die aufgeschlossene Zeitgenossenschaft eines mittlerweile Einundneunzigjährigen bezeugt. Formal ist der Roman ein vom Ich-Erzähler, der gelegentlich von sich in der dritten Person spricht und seine Eintragungen mit Lyrik, Aphoristik und Satire anreichert, zwischen Oktober 2016 und Hochsommer 2017 geführter Blog, mit dem eine neue Geliebte, die „unbekannte Geliebte“, gesucht wird. Um sich ihr vorzustellen, befleißigt sich der Blogger einer hemmungslosen Offenheit, sagt „Gar alles“ über sich – das wohl der Sinn des Titels, ein Nebensinn wäre: es wird auch „Gar alles“ erwartet – und breitet sein Liebesleben aus, das keine Erfüllung findet im Zwiespalt zwischen einer Ehefrau, eher bieder und alltäglich, und einer Lebensabschnittsgeliebten, einer in den USA tätigen deutschen Biologin, die sich nebenbei in englischsprachiger Lyrik versucht. Dass es sich um eine banale „Standardsituation“ handelt, weiß der Erzähler, und selbstverständlich ist die unbekannte Geliebte ein nur imaginiertes Wunschbild und muss es bleiben. Dagegen macht die Lebensabschnittsgeliebte mit ihm Schluss, was ihn veranlasst, den Blog mit ebenso verzweifelten wie bedeutungsvoll enigmatischen Versen zu schließen.
Am meisten überzeugt der Roman, wo er psychologisch motiviert und halbwegs realistisch erzählt und eine Verbindung herstellt zwischen dem erotischen Begehren des Erzählers und der #Me too-Agitation: Ein Münchener Oberregierungsrat (als solcher tritt der Erzähler zeitweise auf) trinkt in der zweiten Pause einer Aufführung von Wagners Tristan an der Bar ein Glas Champagner und tippt, durch Gesang und Alkohol beschwingt, einer neben ihm sitzenden fremden Dame, als sie sich ihm zufällig zuwendet, mit der Spitze des rechten Zeigefingers auf den Oberschenkel. Die geringfügige Grenzüberschreitung, die anfangs selbst das „Opfer“ nicht verübelt, wird zum Skandal aufgebauscht, der den Erzähler einreiht in die „Altherren-Riege“ von „Grapschern“, vor denen Frauen geschützt werden müssen. Er muss seinen Beruf aufgeben und wird „Philosoph“.
Dass einem Mann seine Libido zu schaffen macht, überrascht nicht und ist seit dem Debütroman Ehen in Philippsburg (1957) ein gängiges Walser-Thema; schwer nachvollziehbar dagegen ist die Mutation eines Juristen und bayerischen Ministerialbeamten zum Verfasser philosophischer Bücher mit den Titeln „Die Lüge als Mutter der Wahrheit“ und „Der Irrtum als Erkenntnisquelle“. Insofern sie auf Dialektik weisen, geben sie Auskunft über den Erzähler, der nicht festlegbar sein will und zu dessen Charakterzügen Widerspruchsgeist gehört. Als Motto böte sich für ihn das Brecht-Zitat an: „An mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Die umworbene „unbekannte Geliebte“ muss auf Unerwartetes gefasst sein, und sozusagen als Warnung teilt er ihr seine Einstellung zu dem gerade frisch gewählten US-Präsidenten Donald Trump mit:
„[…] weil ich erlebe, dass Menschen, die seit langem mit mir umgehen, jetzt immer lauter missbilligen, wie ich über alles, was der neue US-Präsident sagt und tut, denke, darf ich das Ihnen nicht verschweigen. Denn ich habe Mr. Trump von Anfang an […] als eine Belebung erlebt. […] Er hat sich deutlicher gezeigt als je ein Kandidat vor ihm. Er hat weniger gelogen als je ein Kandidat vor ihm. […] er ist furchtbar ehrlich. […] Wenn Sie nicht ertragen, dass ich Mr. Trump jedenfalls derzeit noch für einen begrüßbaren Präsidenten halte, dann komme ich für Sie nicht in Frage. Ich gebe zu, dass ich mir Sie souveräner vorstelle! Erhaben über diese vom braven Anstand und braver Routine diktierte Verurteilungssucht.“
Ob eine solche Ehrenrettung Trumps gerechtfertigt ist, kann unerörtert bleiben; die Frage ist für den Roman marginal. Aber sie ist erhellend für die Charakterisierung Walsers und seines Nonkonformismus, den er ja nicht zum ersten Mal unter Beweis stellt. Die Absage an herrschende Meinungen, nur weil sie herrschende sind, prägt seine politischen Einlassungen. Auch die Skepsis gegenüber #Me too passt in das Autorenselbstporträt, als das man, ungeachtet der fiktionalen Einkleidung, zumindest in einigen Passagen, Gar alles lesen darf.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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