Was die Nacht (ver)spricht

Die Attentate in Paris und Nizza haben in der französischen Literatur und Philosophie tiefe Spuren hinterlassen

Von Sarah NeelsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Neelsen

„Wer darüber reden will, kann zur psychologischen Beratung“. Am Morgen des 15. Juli 2016 und an den Tagen danach, bestand bei vielen PflegerInnen, Feuerwehrleuten, ÄrztInnen und Freiwilligen, als sie ins Krankenhaus oder die Kaserne zurückkehrten, das Bedürfnis, über das Attentat zu sprechen. Am französischen Nationalfeiertag war um 22.32 Uhr auf der Promenade des Anglais in Nizza ein Lkw im Zickzack durch die Menschenmenge gerast, die sich dort für das traditionelle Feuerwerk angesammelt hatte. Das Pflegepersonal war stundenlang, meist die ganze Nacht durch, im Freien, in der Diskothek High Club oder im Operationssaal, im Einsatz gewesen und kam nun an die Arbeitsstelle zurück, zu den KollegInnen, von denen einige Ähnliches erlebt hatten und andere in Reserve oder Urlaub gewesen waren. Doch es gab keine Gelegenheit zum Reden, die Erzählungen blieben aus, wurden im engen Familien- und Bekanntenkreis ausgetauscht oder setzten sich in Form von Schreckensbildern im Körper fest.

Mit dem Buch Soigner. Nice, 14 juillet 2016 [„Pflegen. Nizza, am 14. Juli 2016“] wollte der Notarzt und Feuerwehrkapitän, Dr. Marc Magro, der selbst an dem Abend außerhalb der Stadt im Einsatz war, dies nachholen, indem er seine KollegInnen zu Wort kommen ließ. Der Band, der unter seiner Leitung erscheint, besteht aus fünfzig Augenzeugenberichten, die er mit seiner Tochter Caroline transkribierte und an Hand von Protokollen der Einsatznachbereitung (retour d’expérience, RETEX) in Form brachte. Denn viele PflegerInnen wussten gar nicht, obwohl sie die ganze Nacht mitten im Geschehen waren, was „draußen“ passiert war, bzw. in welcher Reihenfolge sie selbst gehandelt hatten. Sie bekamen Verletzungen zu Gesicht, mussten Leichen bergen, aus denen allmählich eine finstere Vermutung entstand, dessen, was „draußen“ geschehen sein musste. Sie hatten auf den Notruf reagiert und waren von zu Hause hergeeilt oder waren gerade in Zivil auf der Straße mit ihrer Familie gewesen, und hatten spontan bei den ersten Opfern mitgeholfen. Besonders interessant ist genau dieser Moment des Rollenwechsels, der im Buch von vielen beschrieben wird. Gerade waren sie noch Mutter und Ehefrau und werden auf einmal zur Ärztin, oder sie waren ein Jugendlicher, der eben noch dem Vater Bescheid gibt, dass er heute später nach Hause kommen wird und nun die Feuerwehruniform überzieht.

Magros Buch ist aber alles andere als ein Revuepassieren der Truppen nach einem besonders fordernden Einsatz, dem man sich mit Mut und Können zu stellen wusste. Er versucht mit diesem Buch nicht, die Angst der Bevölkerung durch ein Vorführen reibungsloser ärztlicher Vorgänge zu besänftigen. Anders als Bruce Wayne, der im Nullkommanichts in das Batmankostüm schlüpfen kann, schwebten viele in dieser Nacht zwischen zwei Identitäten. Manchmal nur einen Augenblick lang, bis sie ihre eigenen Kinder in Sicherheit gebracht hatten und wieder ganz Arzt sein konnten, manchmal viel länger, weil sie angesichts des Ausmaßes der Katastrophe nicht sofort in ihre Rolle fanden. Sie standen ohne Kittel, ohne Ausrüstung und ohne MannschaftskollegInnen plötzlich mitten auf einer Unfallstelle, die sich über 1,7 Kilometer erstreckte. Einige liefen erstmal die ganze Strecke ab, andere hielten dort, wo es eigentlich weniger dringend war, viele versuchten, durch reflexartige Anwendung der Erste-Hilfe-Gesten in die Arbeitsroutine einzusteigen. Während also Ärztekörper auf Opferkörper angemessen zu reagieren versuchten und durch Beobachtung verstehen wollten, was der 19 Tonnen schwere Lkw angerichtet hatte, blieb ein verbaler Austausch aus. In vielen Berichten wird bemerkt, wie still die Nacht in den Krankenhäusern verlief. Man pflegte, man packte dort an, wo man gebraucht wurde, und man lauschte der Stille: Jene der eingelieferten Opfer, der wartenden Angehörigen, und die eigene, weil man zu wenig wusste, keine gemeinsame Sprache mit fremden BesucherInnen hatte, oder Verheerendes wusste, was man lieber andere mitteilen ließ. Vor allem aber, wie viele ZeugInnen erklären, weil das Krankenhauspersonal, nicht immer dafür ausgebildet ist, mit den PatientInnen zu reden. Magros Buch, das nach zahlreichen anderen Berichten von Augenzeugen, die im November 2015 den Attentaten in Paris beigewohnt hatten, erschienen ist, hat auf berufsinterner Ebene also bestimmt auch einen therapeutischen Wert.

Virginie Despentes‘ Trilogie Vernon Subutex wird in der Geschichte der zeitgenössischen französischen Literatur einen ähnlichen Platz einnehmen, wie er Ulrich Peltzers Roman Bryant Park in Deutschland zugekommen ist, da er als erster den Anschlag auf die Twin Towers literarisch verarbeitete. Wie man weiß, arbeitete Peltzer bereits an seinem Werk, als das World Trade Center angegriffen wurde und zusammenbrach. Daraufhin gestaltete sich die Erzählung um einen zentralen Bruch herum, sich in ein Vorher und Nachher zweiteilend. Virginie Despentes veröffentlichte im Januar 2015 (laut Angaben des Verlegers Grasset am 7. Januar, mit anderen Worten an dem Tag, als auch 11 Redaktionsmitglieder der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und ein Polizist erschossen wurden) den ersten Teil von Vernon Subutex, der nun auch in der Übersetzung von Claudia Steinitz auf Deutsch vorliegt. Im Juni desselben Jahres erschien der zweite Teil. Danach wurde das Veröffentlichungsdatum des dritten und letzten Bandes immer wieder verschoben, bis er nun im Mai 2017 endlich vorlag.

Wie bei Peltzer saß auch Despentes an ihrem Roman, als in der Nacht vom 13. November in Paris der Konzertsaal Bataclan, naheliegende Restaurants und Cafés sowie das Stade de France von Terroristen ins Visier genommen wurden. Anders als bei Peltzer waren aber die ersten 800 Seiten bereits gedruckt und Despentes verarbeitete das Attentat nicht zu einem erzählerischen Bruch, sondern (Achtung Spoiler!) in den glaubwürdigen Ausgang ihrer Geschichte, womit die starken Durchhänger des dritten Bandes auch schon fast verziehen wären. Sie arbeitet das Massaker in eine Geschichte ein, die bereits im im Gang war und von der französischen Kritik als Milieubeschreibung und Zeitdiagnose in hohen Tönen gelobt worden war. (Ob Despentes, der feministischen Punk-Schriftstellerin des 21. Jahrhunderts, der Vergleich mit Balzac wirklich schmeichelt, sei übrigens dahingestellt). Dadurch trug Despentes auch stark dazu bei, die Attentate dem Selbstbild der Franzosen (eines Teils der Bevölkerung) und ihrem roman national einzuverleiben. Hier wird keine glatte Ordnung vom Chaos zerstört, hier trifft nicht der dunkle Stumpfsinn eine von den Lichtern der Aufklärung geleitete Gesellschaft ins Herz. Despentes‘ Trilogie spielt sich von Anfang an in der Nacht ab. Ihre Figuren gehörten alle einmal der Punk-Rock-Szene an und mit der rasenden Höllenfahrt ihres gemeinsamen Freundes Vernon, der von heute auf morgen seinen Laden schließen, seine Wohnung aufgeben und auf all sein Hab und Gut verzichten muss, finden sie allmählich wieder zusammen. Sie verlassen die sozialen und familialen Rollen, zu denen sie sich irgendwann entschlossen hatten, und versammeln sich um ihren obdachlosen Guru unter einem Baum im Park der Buttes Chaumont im 18. Arrondissement von Paris, und treffen dort auf zahlreiche neue Figuren, die schon lange am Rande der Gesellschaft leben. Im dritten Band wird es schwieriger, neue Figuren in die Geschichte einzufädeln, was ja eigentlich Despentes‘ große Stärke ist. Der nun häufigere Ortswechsel, den sie stattdessen versucht (Barcelona, Frankfurt, Epinal und andere französische Provinzstädte, in denen man sich zum raven trifft), bringt bei weitem nicht denselben Schwung ins Werk, wie ein Porträt es bislang tat. Bis Susanne auftaucht. Auf Seite 356 (von insgesamt 400) wird noch diese letzte Figur wie der letzte Tupfer am Schaustück eingefügt, bevor dann alles zusammenkracht: Der von oben gesteuerte, unglückliche Pechvogel Susanne kommt als letzter Gast zur Feier und knallt alle Anwesenden (bis auf einen) ab.

Despentes erfindet mit anderen Worten ihr eigenes Attentat auf die von ihr geschaffene Gesellschaft, allerdings in starker Anlehnung an die Wirklichkeit. Und hier fühlt man sich noch einmal an Magros Buch erinnert, in dem die Feuerwehrleute um 5 Uhr morgens nach ihrem stundenlangen Einsatz auf der Promenade sich in der Kaserne vor den Fernseher gesetzt haben, um sich die Bilder des Attentats immer wieder anzusehen. Doch bei Despentes sind es mehr als Bilder, es ist fast schon eine Mastererzählung, in der die Nacht (als sozialer Abstieg, als Umnachtung der Figuren durch Frust und Hass) seit langem eingebrochen ist. Der Angriff auf das Konzert ist kein Donnerschlag aus heiterem Himmel, sondern die Verschärfung der herrschenden Machtverhältnisse und ein weiterer Schritt in Richtung Anarchie und Apokalypse  (Vorbild für Susannes Auftraggeber ist die Serie Walking Dead).

Besonderes Interesse an den Stimmen der Nacht findet auch der zurzeit tonangebende französische Philosoph Michaël Fœssel in seinem schmalen Band La nuit. Vivre sans témoin [Die Nacht. Leben ohne Zeugen]. Bereits sein im Oktober 2015 erschienenes Buch La consolation [Trost] überraschte durch ein für die Philosophie unkonventionelles Thema, wenngleich man meinen könnte, Michel Onfray habe dem mit Fragen wie «Warum onaniere ich nicht auf dem Schulhof? » oder «Was hat Mona Lisa im Esszimmer meiner Großeltern zu suchen? » den Weg geebnet. Doch Onfrays Antimanuel de Philosophie hatte 2001 die Provokation vor allem im Titel, während ansonsten eigentlich die üblichen Auszüge der klassischen Texte angeführt wurden. Fœssel stützt sich hingegen auf weniger bekannte Passagen oder Nebenbemerkungen der Klassiker und zeigt damit, wie sich die Nacht mit Descartes, Kant, Diderot und Rousseau theoretisch fassen lässt. Er bedient sich aber auch des Films (siehe seine ausführliche Analyse der Dolce Vita von Fellini) und der Lyrik (Supervielle, Rilke, Michaux), um seine Betrachtungen voranzutreiben.

Wichtigste Vorlage von La nuit ist implizit natürlich Michel Foucaults Überwachen und Strafen, das um sein Gegenstück ergänzt wird. Fœssel geht zwar auch darauf ein, wie Überwachungsdispositive zunehmend Kontrolle über das Nachtleben übernommen haben (hier übernimmt er vieles von Jonathan Crary), doch es gelingt ihm am Ende doch, „sichere“ Orte aufzuspüren, wo anders und freier gelebt wird. Was genau das „andere“ und das „freiere“ bedeuten, bleibt etwas unscharf, wobei Unschärfe laut Fœssel genau die besondere Qualität der Nacht ist. Anregend ist nichtsdestoweniger der Schluss, zu dem er kommt, die Nacht widersetze sich nicht dem Tag, sondern könne auch der Zufluchtsort mancher Werte, Lebensstile und Aktionen sein, die aus dem Tag verdrängt wurden. Damit wären wir auch wieder bei Despentes, deren Figuren in die Nacht geflüchtet sind und durch Rave-Partys, die sich „Konvergenzen“ nennen, neue gesellschaftliche Bande zu knüpfen hoffen, indem die TeilnehmerInnen ihre „Wellenlängen“ aufeinander abstimmen.

Alle drei besprochenen Texte durchzieht die Nacht als roter Faden. Es ist eine realistische Nacht, die den Umständen der Attentate, wie sie erzählt werden, entspricht. Für Despentes und Fœssel ist die Nacht auch eine symbolische, deren Deutung und Ausgang für die LeserInnen nicht ganz leicht ist. Beide haben sich wohl von der sozialen Bewegung „Nuit debout“ [„die Nacht über wach[sam] bleiben“, „aufrecht in der Nacht“] beeinflussen lassen, bei der sich ab Ende Mai 2016 und für ein paar Monate lang, AktivistInnen, GewerkschafterInnen und PassantInnen nächtlich auf der Place de la République in Paris versammelten. Sie protestierten gegen die unter François Hollandes Regierung eingeleitete Reform des Arbeitsrechts, doch war, wie demnächst im Dokumentarfilm von Mariana Otero L’Assemblée [die Versammlung] zu sehen, es auch ein Ort, an dem vor allem geredet und ausgetauscht wurde, in einer Art, wie sie vielleicht nirgendwo anders zu der Zeit möglich war (es herrschte in Frankreich seit November 2016 Ausnahmezustand). Dass die Unschärfe der Nacht zugleich auch mehr soziale Gerechtigkeit bedeute, nach dem Motto „nachts sind alle Katzen grau“, überzeugt wenig.

Genauso mag es nachdenklich stimmen, dass die Franzosen Ernest Hemingways A Moveable Feast zum Gegengift gegen Extremismus und Gewalt gekürt haben. Die Rechtsanwältin Danielle Mérian hatte in den Abendnachrichten, für die sie auf der Straße vor dem Bataclan interviewt worden war, zum Lesen dieses Buches aufgerufen. Daraufhin wurden über hunderttausend Exemplare der französischen Übersetzung Paris est une fête verkauft. Die Originalausgabe erschien 1964 posthum, nachdem der Autor sich das Leben genommen hatte. Er berichtete darin über sein Leben im Paris der 1920er Jahren, als armer doch glücklicher angehender Schriftsteller, der viel Zeit im Café, bei Gertrude Stein und mit Scott Fitzgerald verbrachte und sein Geld vor allem beim Pferderennen verdiente. Die typische Pariser Bohème (urige Lokale, wenig Essen doch dann plötzlich frisches Bier mit Austern) dient dem Werk als Kulisse und scheint den heutigen LeserInnen zu bedeuten, Paris solle doch trotz gewaltiger Anschläge und steigender Arbeitslosigkeit bitte so schön bleiben.

Doch dann ist im zweiten Kapitel die Rede von der „verlorenen Generation“. Nachdem Gertrude Stein eines Tages ihr Auto zum Mechaniker gebracht hat und Anlass sieht, sich über den jungen Mann bei seinem Chef zu beschweren, nennt dieser seinen Angestellten und alle seinesgleichen eine „verlorene Generation“. Den Ausdruck verwendet Stein später für Hemingways Generation (er war fünfzehn Jahre jünger als sie), indem sie meint, „Ihr jungen Männer, die Ihr im Krieg ward, seid eine verlorene Generation […] Ihr habt vor nichts Respekt und betrinkt Euch noch zu Tode“. Worauf Hemingway auf dem Nachhauseweg etwas vergrämt überlegt, wer von seiner oder Steins Generation, die verlorenste sei. Das steht wiederrum im Einklang mit der Erfahrung von mindestens zwei Generationen auf dem französischen Arbeitsmarkt. Auch Hemingways Paris est une fête (im oben beschriebenen Kontext gelesen) gibt also keine klare Angabe, wie die Nacht enden wird. Die Nacht und das Nachtleben werden von Teilen der Bevölkerung als Reaktion auf die Attentate als höchstes Gut gespriesen – gerade auch weil die Attentate Feste gestört und tragisch beendet haben (Nationalfeier, Konzert, Fußballspiel). Das ergibt durchaus lesenswerte Werke in Literatur und Philosophie, vielleicht sogar ein neues Paradigma. Doch 1799 malte Francisco Goya ein Gemälde mit dem Titel Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, und genauso scheint es heute: Noch kann keiner sagen, was da genau im Dunkeln lauert.

Literatur

Marc Magro (Hg.): Soigner. Nice, le 14 juillet 2016, First Editions, Paris 2017.

Virginie Despentes: Vernon Subutex. Tome 3, Bernard Grasset, Paris 2017.

Michaël Fœssel: La nuit. Vivre sans témoin, Editions Autrement, Paris 2017.

Ernest Hemingway: Paris est une fête (übers. aus dem Amerikanischen von Claude Demanuelli und Marc Saporta), Gallimard, Paris 2016.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen