Bach ist wieder da!
Thomas Josef Wehlim lässt im Roman „Sebastian oder die Kunst des Linienziehens“ den Musikmeister aller Meister wiederauferstehen
Von Willi Huntemann
Während Fachliteratur und Publizistik zum Komponisten Bach schier unermesslich sind, ist er von der schönen Literatur stiefmütterlich behandelt worden – beim Film sieht es schon wieder ganz anders aus (wie der soeben erschienene Band Bach bewegt von Knut Elstermann zeigt). Das hat sicher auch damit zu tun, dass über das Leben des Thomaskantors im Vergleich zu ähnlich berühmten Komponisten vergleichsweise wenig bekannt ist, was überdies zum Romanstoff taugte. Umso neugieriger wird man angesichts des vorliegenden Romans des 59-jährigen Autors Thomas Josef Wehlim: Der schmale Umfang lässt ahnen, dass es sich nicht um einen Musikerroman im geläufigen Sinne handelt. Der Autor schickt den Barockmusiker – oder vorsichtiger: eine Person namens Sebastian, die J.S. Bach zu sein scheint – auf eine Zeitreise in unsere Gegenwart. Zeitreise-Romane, in denen die Zukunft besucht wird, sind ein fest etabliertes Genre, zum überwiegenden Teil der Science-Fiction-Literatur. Reisen in die Vergangenheit sind schon seltener, man denke an Mark Twains Klassiker Ein Yankee am Hofe des König Artus. Noch seltener sind umgekehrt Reisen von Personen der Vergangenheit in unsere Zeit. Die Konfrontation zweier historisch verschiedener Lebens- und Denkwelten führt zu komischen Missverständnissen und hat einen hohen Unterhaltungswert, wie das jüngste Roman-Beispiel Er ist wieder da von Timur Vermes (2012) mit Adolf Hitler als Zeitreisendem samt erfolgreicher Verfilmung zeigt. Bei Wehlim jedoch – und das lässt wiederum aufhorchen – wird das Agieren des historischen Protagonisten in der heutigen Lebenswelt keineswegs komisch-humoristisch ausgespielt, sondern als ernste Beziehungsgeschichte erzählt.
Sebastian, der von sich sagt: „Ich habe seine (Bachs) Erinnerungen. Nicht seine Fähigkeiten“, was leitmotivisch wiederholt wird, versucht im Musikbetrieb von heute als Bestattungsorganist Fuß zu fassen. Auf einem Kirchenkonzert lernt er die gescheiterte Altistin Tatjana kennen und zeigt ihr später, als sich beide nähergekommen sind, die Fortsetzung des letzten Kanons seiner „Kunst der Fuge“ (ein Faksimile schmückt vielversprechend das Buchcover dieses Romans), einem auratischen Spätwerk Bachs, über dem „der Verfasser gestorben“ (C.Ph.E. Bach) sein soll – so der (mittlerweile widerlegte) Mythos. Ein herangezogener Musikologe, dem die neu ergänzten 30 Takte Sebastians vorgelegt werden, hegt indes Zweifel an deren Echtheit. Viel später wird Sebastian des sexuellen Missbrauchs am zehnjährigen Sohn seiner alleinerziehenden Freundin Tatjana bezichtigt – er hält jedoch das Kind für seinen Sohn und ist sich keiner Schuld bewusst – und in eine Strafanstalt eingewiesen. Nach zwei Jahren wird er entlassen.
All das wird nicht durchgängig-linear erzählt, sondern alternierend mit einer zweiten Textebene, die aus zum Teil satirisch getönten Exkursen zum Musikbetrieb und zur Musikgeschichte sowie vor allem aus bekannten Episoden aus Bachs Biografie besteht. Wehlim lässt dabei beflissen nichts aus: vom Besuch des jungen Komponisten beim Orgelmeister Buxtehude in Lübeck über das legendäre Treffen mit Friedrich dem Großen in Sanssouci, aus dem das „Musikalische Opfer“ hervorging, bis hin zur erfolglosen Augenoperation durch einen britischen Augenarzt kurz vor Bachs Tod. Der Bach-Kenner kann sich bei der Lektüre jedesmal bestätigt fühlen, mit Ungewohntem wird er nicht konfrontiert. Ohne jegliche Beziehung zum Übrigen wird sogar eine Episode aus dem Leben von Bachs Bruder Johann Jacob, eines in Kriegsdiensten stehenden Oboisten, eingestreut.
Es ist ein offenes, collageartiges Erzählen in kurzen Abschnitten, das sich nach musikalischen Formkategorien wie „Ars Fugae“, „Intermezzo“ oder „Libretto“ gliedert. Dieses letzte Kapitel „Libretto“ ist es, ebenso gewichtig wie die mit „Ars Fugae“ überschriebene Exposition, das beide Textstränge zusammenführt. Unter den zahlreichen Topoi der Bach-Biografik, kolportierten Anekdoten sowie Urteilen Anderer über Bach, die Wehlim aufgreift und verarbeitet, ist auch einer, der ihm quasi als Leerstelle dient: der Umstand, dass Bach in allen musikalischen Gattungen komponiert hat, die Oper jedoch aussparte. Aus dieser Leerstelle entwickelt der Autor die Idee, auf die alles im Buch zuläuft. Sebastian komponiert eine Oper, in der er die unglückselige Dreiecksgeschichte zwischen ihm, Tatjana und ihrem Sohn verarbeitet. Doch wie wird dieses mit „Libretto“ betitelte Schlussstück erzählerisch motiviert? Gab es schon in der Exposition anachronistische Brüche – Sebastian telefoniert mit Goldberg, dem Erstinterpreten der nach ihm benannten Klaviervariationen, und begegnet nach einem Konzert Glenn Gould – so wird wiederum eine neue Zeit- und Realitätsebene eingeführt. Die Erzählung setzt in einer atemberaubenden Volte neu an und lässt den spätromantischen Komponisten Hugo Wolf im Stadium seiner geistigen Umnachtung in der Anstalt träumen, in einem Altersheim, in dem alle berühmten Komponisten von Händel bis Mahler residieren, sei Bach zum Plan einer Oper angeregt worden. Der völlige Bruch mit den bisherigen Textebenen kann nicht überzeugen, zumal hier ein eigenes Genre im Hintergrund steht: das der (antiken) Totengespräche. Diese Konstruktion erlaubt es, Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Zeiten miteinander ins Gespräch zu bringen. Für ein Schlusskapitel ist dieses, noch dazu durch nichts vorbereitete, Setting viel zu weit hergeholt; es hätte ein eigenes Buch verdient. Reizvoll wäre es gewiss, historische Komponisten über die Oper und ihre Ästhetik streiten zu lassen.
Spätestens hier wird deutlich, dass Wehlim seine Einfälle nicht unter Kontrolle halten kann und dem ganzen Roman letztlich der Fokus fehlt. Die zweite Textebene setzt zwar einen gewissen Kontrapunkt zum Sebastian-Tatjana-Plot, da hier auch Satirisches seinen Platz hat und die schwülstige Liebesgeschichte wie den erhaben-salbungsvollen Musikdiskurs abwechslungsreich konterkariert, doch beides ist letztlich nicht tiefer aufeinander bezogen.
Dies tritt nur deswegen nicht hervor, weil die Textoberfläche, quer zu den Textebenen, äußerst vielstimmig gestaltet ist: es gibt kurze Selbstgespräche Sebastians, dialogische Szenen, immer wieder (kursiv markierte) Originalquellen sowie hineinmontierte Listen und Tabellen. So findet sich eine Aufstellung von Bachs sämtlichen Kindern, eine skurrile Sammlung von Urteilen von Komponisten über andere Komponisten sowie eine Bibliografie der Sekundärliteratur, die Wehlim bei seiner Recherche benutzt haben mag. Früher, als man noch an die Postmoderne glaubte, wäre eine solche Collage-Schreibweise eine witzige Auflockerung konventioneller Erzählnormen – heute ruft sie nur ein müdes Lächeln hervor.
Das Zeitreise-Konzept hätte Potenzial gehabt, jenseits aller komisierenden Effekte, historische Unterschiede im Verständnis von Komponieren, Musizieren, Werkästhetik sowie der Rolle des Komponisten erzählerisch ins Bild zu setzen. Stattdessen versucht der Autor, mit seiner verquasten Liebesgeschichte musikalische und erotische Erfahrung zu verschmelzen. Während Tatjana Erfüllung in der Begegnung mit dem aus der Zeit gefallenen Genius und seiner Musik sucht, strebt Sebastian nach Erfüllung in der imaginären Vaterschaft. Das wird noch abrupt und plakativ gesteigert durch die Missbrauchsgeschichte, die für das Musikthema gar nicht nötig gewesen wäre. Das endet im Kitsch:
Das Konzert d-Moll für zwei Violinen. Jenes Mysterium zweier sich vereinigender Menschen. Die erste Violine: Eine junge Frau voll lateinisch-arabischer Schönheit. Die zweite Violine: Ein Mann, jung, mit traurigen Augen aus Sehnsucht. Liebtet Ihr Euch? Ist Musik nur ein Vorspiel? Die Begleitung? Oder doch der Liebesakt selbst?
Oder – beim erstmaligen Spielen der von Sebastian nachkomponierten Fugentakte:
Es ist (…) kein Stück für Pianisten. Du schriebst es für ein Instrument, das es nie geben wird. Das niemand je spielen kann. Es sei denn die Engel, die an Gottes Leichnam weinen.
Als Kitsch noch eine gängige Kategorie in der Literaturkritik war, hätte dies als Musterbeispiel für „sauren Kitsch“ gegolten.
Trotz der verfremdenden Zeitreise-Konstruktion wird ein tradiertes, kunstmythisch aufgeladenes Bach-Bild in keiner Weise gebrochen oder neu perspektiviert, sondern nur bestätigt. Für einen konventionell erzählten Musikerroman mag das hingehen, aber Wehlim hat ja literarisch weitaus höhere Ambitionen. Wie so etwas bei diesem Stoff aussehen könnte, hat Dieter Kühn in seinem preisgekrönten Hörspiel Goldberg-Variationen von 1973 gezeigt, wo am Beispiel des Cembalisten Goldberg und seines Dienstherren, des Grafen von Keyserlingk, der Hintergrund der berühmten Auftragskomposition sozialgeschichtlich beleuchtet wird.
Noch unüberschaubarer als die Fachliteratur zu Bach sind die musikalischen Bearbeitungen seiner Werke. Diese jedoch haben auch ästhetisch fragwürdige Adaptionen unbeschadet überstanden. Es bleibt daher zu hoffen, dass das auch für Bach gilt, angesichts dieses missglückten Versuchs einer literarischen Adaption seiner Biografie.
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