Eine Pionierleistung
Gina Weinkauff legt ein Standardwerk über Tami Oelfken vor
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGina Weinkauff ist vor allem mit Arbeiten zur Kinder- und Jugendliteratur des (frühen) 20. Jahrhunderts hervorgetreten. Das erklärt ihr Interesse an der heute weitgehend vergessenen Schriftstellerin und ReformpädagoginTami Oelfken. Deren bekanntestes Werk dürfte der Kinderroman Nickelmann erlebt Berlin (1931/2020) sein, dieser „exzeptionelle[] Beitrag zum kinderliterarischen Großstadtdiskurs“, wie es in der „Einleitung“ heißt.
Weinkauffs umfangreiche Studie untergliedert sich neben „Vorwort“, „Einleitung“, „Fazit“ und „Anhang“ in vier Kapitel. Das immerhin ca. 120 Seiten lange, siebzehn Personen vorstellende vierte Kapitel „Weggefährten“ ist dabei dankbar aufzunehmen. Es ist aber für das Kennenlernen von Tami Oelfken und deren Werk nicht unmittelbar erforderlich. Von daher wird es an dieser Stelle nicht eigens betrachtet.
„Wer sich“, so Weinkauff, „auf das Abenteuer einer genaueren Betrachtung“ des Werks von Tami Oelfken einlasse, stoße „nicht nur auf literarische Trouvaillen“, sondern erhalte „zudem zahlreiche Einblicke in die Kultur- und Mentalitätsgeschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“. Es sei zudem so, dass sich an der Rezeptionsgeschichte Tami Oelfkens „Mechanismen der Kanonisierung und des Vergessens innerhalb von literarischen Kulturen studieren und interessante Beobachtungen mit Blick auf regionale literarische Milieus treffen“ lassen.
Das erste, ca. 80 Seiten lange Kapitel „Stationen der Lebensgeschichte“, das im Vorgriff auf Folgekapitel auch schon zahlreiche Hinweise auf das literarische und pädagogische Werk Oelfkens vorhält, orientiert sich an den „verschiedenen Wirkungsstätten und Wohnorten“ der Autorin. Allerdings ist „die Quellenlage für die Biografie […] ziemlich uneinheitlich“. Das führt dazu, dass die ersten fünf Lebensjahrzehnte im Wesentlichen „auf der Grundlage von überwiegend erst Jahrzehnte später aufgeschriebenen autobiographischen Erinnerungen rekonstruiert werden“ müssen.
Für die Zeit bis in die 1930er Jahre hinein – Privates, von dem Weinkauff ausführlich berichtet, bleibt aus Raumgründen an dieser Stelle ausgespart – sind neben den sie auch politisch prägenden Begegnungen mit Heinrich Vogler und seinem Kreis in Worpswede ihre Zeit in Dresden-Hellerau, ihre Teilnahme am „Thüringer Arbeiterwiderstand gegen den Kapp-Putsch“ sowie die Jahre in der von ihr so bezeichneten „,Stadt der Liebe und der Arbeit‘“ Berlin hervorzuheben. In diesen Jahren nimmt sie u.a. aktiv am sogenannten „Schulkampf in Spandau“ (1920-1923) teil und unterrichtet in privaten schulischen Einrichtungen wie der „Gemeinschaftsschule Dahlem“.
In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erhält sie dann selbst die Lizenz für eine „eigene private Reformschule“. Die zeichnet sich u.a. durch eine internationale Schülerschaft, „altersheterogene[] Lerngruppen“, eigenverantwortliches Arbeiten, „Verzicht auf die klassische Fächereinteilung und auf Noten“, „durchgängige Umsetzung von Verfahren des Arbeitsunterrichts“ sowie „Abendkurse für Eltern“ aus. Sie wird im Herbst 1934 „wegen pazifistischer, projüdischer und revolutionärer Tendenz“, so eine entsprechende Empfehlung, geschlossen.
Die Jahre 1934 bis 1939 sind von Oelfkens Versuchen gekennzeichnet, „NS-Deutschland zu verlassen und sich eine Existenz in Paris oder London aufzubauen.“ All diese Versuche scheitern. Das führt letztendlich dazu, dass Oelfken 1941 Berlin endgültig Richtung Südbaden verlässt, wo sie sich in verschiedenen Orten meist mehr schlecht als recht durchschlägt.
Schließlich zieht Oelfken 1943 auf 13 Jahre nach Überlingen am Bodensee, einer Station, an der sie sich zumindest anfangs wie auch anderenorts (Badenweiler) aufgrund über die Kriegszeit hinausreichender rechtslastiger Umtriebe auch auf dem kulturellen Sektor „unwohl und deplatziert fühlt“. Weinkauff räumt dieser Station relativ viel Raum ein. Hier wie an etlichen anderen Stellen der Studie entsteht dabei der Eindruck, dass es leserfreundlicher gewesen wäre, den Fließtext zugunsten einer strafferen Erzählung von einer Überfülle an gut in Fußnoten aufgehobenen Detailinformationen und von einer ganzen Anzahl von ‚Abschweifungen‘ zu entlasten. Das hätte vermutlich auch dazu beigetragen, eine Vielzahl von Wiederholungen zu vermeiden, die die Studie ebenso belasten wie die eine oder andere begriffliche Unschärfe und eine Anzahl von Inkonsistenzen, was Fakten anbelangt.
Als sich gesundheitliche Probleme häufen, gibt Oelfken ihr Haus in Überlingen auf und zieht nach München. Dort gehören Mitglieder der Familie Regnier/Wedekind „[h]öchstwahrscheinlich“ zu ihren „wenigen Ansprechpersonen“. Sie stirbt, von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet, am 7. April 1957.
Das zweite, gut 80 Seiten lange Kapitel geht der „Werkentwicklung“ und, sehr differenziert, den hier ebenfalls ausgesparten „Publikationskontexte[n]“ nach. Es lassen sich vier Werkphasen unterscheiden, wobei die zweite Phase „in den 1920er Jahren bis zum Verbot ihrer Schule im Jahr 1934“ von schulpolitischer und „(reform-)pädagogischer Arbeit in Theorie und Praxis“ bestimmt ist. Es erscheinen aber auch zwei Kinderromane, der bereits genannte Nickelmann erlebt Berlin sowie die phantastische Erzählung Peter kann zaubern. Schon in die Zeit davor, in die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, fallen Versuche mit Gedichten und Novellen. Der Großteil ihres häufig durch tendenziell verklärende „autobiografische[] Kindheitserinnerungen“ bestimmten literarischen bzw. schriftstellerischen Werks entsteht hingegen zwischen 1935 und 1945: u.a. die auch „polnische Fabrikarbeiter, Familienkonflikte, Sexualität [und] lesbische Liebe“ thematisierenden Romane Tine und Die Persianermütze, der „märchenhaft-fantastische[]“ Roman Die Kuckucksspucke, zahlreiche sogenannte Blumenthaler Novellen und etliche um „Liebe, Eifersucht und soziale Ungleichheit“ kreisende sogenannte italienische Novellen; weiterhin um die 50 Gedichte, ab 1938 dann ein von „vornherein auf eine spätere Publikation als Dokument des Alltags im Nationalsozialismus ausgerichtet[es]“ Tagebuch (Fahrt durch das Chaos. Logbuch von Mai 1939 bis Mai 1945) und schließlich eine Vielzahl an Ratgebertexten in der Illustrierten Mode und Heim. Dieses literarische beziehungsweise schriftstellerische Werk wird aber mehrheitlich erst nach 1945 publiziert.
Zu den Werken nach 1945, die neu sind oder auch das eine oder andere Neue enthalten, gehören der eine „stark veränderte Neubearbeitung“ von Die Persianermütze darstellende Roman Traum am Morgen, der Gedichtband Zauber der Artemis, die Novellenanthologie beziehungsweise Erzählungensammlung Die Sonnenuhr, das „in der Art eines Volkskalenders aufgemachte Buch Die Penaten. Eine tröstliche Hauspostille und das (merkwürdigerweise im Literaturverzeichnis nicht auftauchende) Kinderbuch Onkel Moll. Darüber hinaus erscheinen in Zeitschriften „zahlreiche kurze Erzählungen und Prosaskizzen“ sowie eine ganze Anzahl an Buchempfehlungen, Literaturkritiken und Essays. Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass Oelfken in diesen Jahren auch für den Rundfunk aus dem Französischen und Englischen übersetzt und „durch Vorträge und Rundfunkbeiträge zu pädagogischen Themen“ versucht, „ein wenig Geld zu verdienen“.
Dem knapp 200 Seiten langen dritten Kapitel „Spektrum der Formen und Inhalte“ kann an dieser Stelle seinen vielen Ergebnissen nach auch nicht annähernd Gerechtigkeit widerfahren – allein die Beschäftigung mit dem Romanwerk und mit den Tagebüchern nimmt jeweils circa 70 Seiten ein. Dabei fallen die Ausführungen zu den Tagebüchern besonders differenziert und informativ aus. Nachfolgend einige übergreifende Thesen Weinkauffs:
Das „narrative Element“ trete „in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit nach 1945 in den Hintergrund.“ Die in Gänze vor 1945 entstandene, von Naturalismus und Impressionismus beeinflusste Novellistik – als Beispiele analysiert werden die Novellen Die drei Fräulein von Thess (1940), Die ewige Braut Ariella (1955) und Stine vom Löh (1953) – sei unter anderem durch Dialoge, eine „szenisch-neutrale Erzählweise“, „statisch angelegt[e], aber psychologisch konzipiert[e]“ Figuren und ausgiebige Landschafts- und Naturbeschreibungen charakterisiert. In „Prosaskizzen“ wie Schönheit ohne Gleichgewicht (1950), Ich spiele Karten (1947) oder Entthronte Hauptstadt (1946) gehe es weniger um Handlung und mehr um die „Formulierung philosophischer, ästhetischer oder auch politischer Themen in uneigentlicher Rede.“ Tami Oelfkens häufig um „Verlusterfahrungen, Gefühle der Trauer, der Verzweiflung und die Mühen der Suche nach einer Identität“ kreisende Lyrik diene in ungleich stärkerem Maße als die Prosa der „Selbstaussprache“.
Der sorgfältig gearbeitete, die beeindruckende, mit viel Archivarbeit verbundene Forschungsleistung Gina Weinkauffs noch einmal sinnfällig machende 70seitige Anhang untergliedert sich in ein „Abkürzungsverzeichnis und Erläuterungen zum Literaturnachweis“, ein (nicht immer ganz stimmiges) Literaturverzeichnis, ein die 34 Abbildungen des Bandes nachweisendes Verzeichnis und ein circa 125 Namen umfassendes Personenregister. Das insbesondere interessierende Literaturverzeichnis listet zum einen 14 eigenständige Publikationen, ca. 640 „[u]nselbstständig erschienene Publikationen und unveröffentlichte Manuskripte“ sowie 2 „Medienadaptionen“ Tami Oelfkens auf. Zum anderen werden circa 80 „[l]iterarische Werke anderer Verfasser, ca. 130 „[u]ngedruckte Quellen und Archivalien (jedoch keine Manuskripte von TO)“ und circa 370 Sekundärtitel aufgeführt.
Fazit und Ausblick: Gina Weinkauff ist mit ihrer Studie zu Tami Oelfken Detailkritik zum Trotz ein ‚Wurf‘ gelungen. Da Werke Oelfkens zudem antiquarisch leicht zu beziehen sind, ist guten Grundes zu hoffen, dass die Autorin künftig im literarhistorischen Bewusstsein wieder präsenter sein und ihr Werk mehr Leserinnen und Leser finden wird.
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