Die Brennweite der Tanzforschung verkleinern

Katharina Weisheit stellt in „Tanz in Produktion“ am Beispiel des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch drei Produktionsmodi und deren Implikationen vor

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch

Pina Bausch ist ein Name, den alle kennen, die den Tanz lieben, und ein Name, der das graue Wuppertal vielleicht schillernder veredelt hat als Friedrich Engels, Else Lasker-Schüler, Rezo, Christian Lindner oder Johannes Rau. Pina Bausch ist, wie Katharina Weisheit in Tanz in Produktion schreibt, damit eine „Diskursivitätsbegründerin“, sie hat unter ihrem Namen nicht nur ein Werk und einen Stücktypus geschaffen, sondern ein eigenes Genre von internationaler Bedeutung, an dem mehrere Medien auch nach Bauschs Tod noch vielfach beteiligt sind, ein offenes Genre, das sich ständig weiterentwickelt und an dem Künstlerinnen und Künstler auch nach Pina Bauschs Tod noch arbeiten.

Nachdem die Wuppertaler Bühnen sich 1996 gemeinsam mit dem sogenannten Musiktheater im Revier am Kennedyplatz in Gelsenkirchen zum Schillertheater NRW zusammenschlossen und die Sparte „Tanz“ nicht mehr existierte, gründete die Choreographin aus Solingen 1999 mit ihrer Kompanie – die Mitglieder kommen heute aus 18 verschiedenen Ländern und sind zwischen 25 und ungewöhnlichen 66 Jahren alt – als Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH ihr eigenständiges Projekt. Das Tanzensemble des Tanztheaters Wuppertal wurde jedoch bereits im Jahre 1973 gegründet und seitdem bis 2009, dem Todesjahr der weltberühmten Tänzerin und Choreographin, von Pina Bausch geleitet, die zuvor selbst bereits als Tänzerin erfolgreich gewesen war und eine klassische Ballettausbildung erhalten hatte. Insgesamt 36 Jahre lang bildete das Tanztheater unter Pina Bausch das kulturelle Zentrum der Stadt. Übernommen wurde die Leitung im Jahre 2013 von Lutz Förster.

Zunächst einmal ist der Ort des Geschehens – und damit der Ort der Entwicklung des Theaters – Teil des Rahmens, in dem das Tanztheater so, wie es später berühmt wurde, möglich wurde. Die Spielstätten wechselten zwischen dem Opernhaus in Barmen, das zwischen 2003 und 2009 aus sicherheitstechnischen Gründen nicht mehr geeignet war, und dem Elberfelder Schauspielhaus, das auch von den Wuppertaler Bühnen bespielt wurde und in dem nun auch die Werke aufgeführt wurden, die zuvor im Opernhaus uraufgeführt worden waren. Dennoch musste das Schauspielhaus 2013 aufgrund der finanziellen Disposition der Stadt geschlossen werden, sodass bis heute in Wuppertal lediglich das Opernhaus vom Tanzensemble Pina Bauschs bespielt wird.

Auf zahlreichen Gastspielreisen und Tourneen werden immer noch international Pina Bauschs Werke Choreografien präsentiert, deren Zahl mittlerweile bei 44 Stücken liegt. Das Theater ist jedoch nicht nur aufgrund seiner Tourneen und der unterschiedlichen Herkunft der Ensemblemitglieder international, sondern profitierte in seiner künstlerischen Entwicklung zudem stets von den mehrwöchigen Aufenthalten etwa in Italien, Japan, Brasilien, Hong Kong und der Türkei. Es entstanden aus den Erfahrungen in den verschiedenen Ländern Koproduktionen, die auf die spezifische und aus vielen kulturellen Quellen schöpfende Ästhetik des Tanztheaters über die Grenzen der tradierten Tanzästhetik hinweg einwirkten, was auch im Rahmen seiner zeitlichen Entstehung ein stimmiges Bild ergibt. Seit den 1970er-Jahren hat sich vieles auf den Bühnen verändert: Immer stärker liegt der Fokus auf der körperlichen Erfahrungswelt der Tanzenden, weniger auf der Vorführung technischer Vollkommenheit. Der Finger wird in die Wunde gelegt, brillieren heißt nicht mehr makellos tanzen wie im klassischen Ballett, sondern den eigenen Körper, die eigene, intimste Geschichte mit in den Tanz tragen. An Bauschs Tanztheater lässt sich diese Entwicklung beobachten – die Tänzer und Tänzerinnen sind klassisch ausgebildet und trainieren täglich, doch es geht um mehr als technische Perfektion. Oft wird dem Tanztheater Wuppertal in der populären sowie tanz- und theaterwissenschaftlichen Meinung ein gesellschaftspolitischer, mithin feministischer Impetus unterstellt, dessen Möglichkeit und Potential durchaus hinterfragt werden kann.

Neue Perspektiven auf Bausch Werk und dessen Entwicklung, Bedingungen und Rezeption

Eine grundsätzliche, kritische Hinterfragung von Bauschs Werk dieser Art findet allerdings nicht statt bei Katharina Weisheit – was zunächst einmal nicht schlimm sein muss. Das Tanztheater wird von Weisheit in Tanz in Produktion als das genommen, was es ist, und direkt auf seine institutionelle Funktionsweise und produktive Entwicklung hin analysiert. Im Zentrum steht dabei die These von der Unabgeschlossenheit und Prozessualität, die produktionstheoretische Bedeutung für die Geschichte, Rezeption und posthume Weiterentwicklung von Pina Bauschs Tanzästhetik haben. Es geht nicht um Pina Bausch selbst, sondern um „eine neue Perspektive auf das Produktionsnetzwerk des Tanztheater Wuppertal“, die beachtet, dass Bauschs Tanztheater nicht mit Pina Bauschs Tod und auch nicht am Bühnenrand endet. Diese Beobachtung wird von Weisheit zurecht in das Zentrum der eigenen Thesenbildung gestellt. 

Durch einen alternativen Blick auf den bisherigen Forschungsstand und eine Anwendung ihrer drei Modi „Verdichten, Transformieren, Institutionalisieren“ zielt die Autorin auf eine Erweiterung bestehender Konzepte hinsichtlich der „Komplexität, Prozessualität und Relationalität der Produktion von Tanz“ ab. Der Ansatz ist kreativ, nützlich und auf dem Stand der aktuellen Entwicklung in der Tanzforschung. Doch unter den zahlreichen geisteswissenschaftlichen Worthülsen, die hierbei verwendet werden, leidet zuweilen die Qualität der Arbeit: Die drei Begriffe für die Modi, die Weisheit definiert und verwendet, seien „zwar heuristisch getrennt, jedoch grundsätzlich als Teile eines gemeinsamen Prozesses“ zu verstehen – so wie auch „ästhetische und institutionelle Prozesse wechselseitig miteinander verflochten sind.“ 

Dass die Dinge irgendwie getrennt sind, aber sich dann doch beeinflussen und als relational betrachtet werden müssen, ist eigentlich die Natur aller Dinge, Begriffe und Entitäten und erst einmal keine hohe Erkenntnis. Das relationale Verständnis von Kunst, Raum und Diskursen ist zudem nicht neu in der geisteswissenschaftlichen Forschung. Dass also Institutionen, Materialien und Medien ebenso zum Tanztheater gehören wie die Körper der Tänzerinnen und Tänzer, ist erst einmal evident und bedürfte nicht der ständigen Erwähnung. 

Die Arbeit ist allerdings so intelligent strukturiert und mit einleuchtenden Beispielen aus Bauschs Werk versehen, dass das Festhalten der Autorin an einem leicht inflationär gewordenen Wissenschaftsjargon und dem etwas gezwungen wirkenden, teils dekonstruktivistischen Gestus verzeihlich sind. Die Kapitel beginnen mit Beschreibung und Analyse eines Beispiels aus dem Werk Pina Bauschs oder aus dessen Rezeption (z. B. in Wim Wenders Film Pina), wobei nicht die Aufführung im Zentrum der Analyse steht, sondern auch Bedingungen und Materialien der Produktion: Programmhefte, technische Mittel, persönliche Beziehungen, Archive, private Fotografien, Ausstellungen und Vermittlungsprojekte etwa. Es geht also sowohl um die Produktions- als auch um Reproduktionspraxis von Tanz, wie Weisheit unter anderem auch am Beispiel anderer Choreographen wie Jérôme Bel diskutiert.

Einerseits wirkt all das augenscheinlich, andererseits bedarf es in der Tanzforschung durchaus einer klaren Theoretisierung dieser Offensichtlichkeit, auch in Ergänzung zu der performativen Wende in der Theaterwissenschaft: Der breite Ansatz, den Weisheit wählt, ist einleuchtend, da er die Existenzweise(n) von Tanz sinnvoll erweitert, indem er ein nahezu vollständiges Bild von Tanz (und Autorschaft) als Projekt, Prozess und vermittelter Kunst liefert. Tanz ist dann nicht mehr nur Stück und Aufführung, nicht mehr nur Technik und Körper, sondern ein Gebilde, das bei der Idee beginnt, jedoch nicht bei dem „letzten“ Wort, dem „letzten“ Film, dem „letzten“ Interview über den Tanz enden kann. 

Was dazwischen – oder vielmehr, wie dieses Dazwischen – passiert, steht im Zentrum von Weisheits Arbeit: Prozessualität bedeutet, hier gezeigt am Beispiel von Pina Bauschs Tanztheater, dass der Tanz nicht als ein mögliches Endprodukt gedacht wird, sondern die ganze Zeit im Entstehen ist. Wo sich Tanz „verdichtet“, ist trotz aller Dichte kein Ende in Aussicht – im Gegenteil. In einer kenntnisreichen Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Übersetzungsbegriff und Bruno Latours Konzept der zirkulierenden Referenz arbeitet Weisheit detailliert heraus, dass es das „Stück an sich“ nicht gibt, oder, wenn man den Begriff beibehalten will, dass man das Stück als „die Gesamtheit der produktiven Prozesse“ verstehen muss. 

Ein Stück, ein Tanz wird, so konstatiert Weisheit, immer vorbereitet, institutionell verortet, ausgestellt, medial übersetzt und damit mehrfach und nicht nur in der „eigentlichen Aufführung“ präsentiert und verändert. Gerade bei Pina Bausch steht diese ständige Transformation im Zentrum – deshalb wechselt Weisheit auch nicht vom Begriff der „Produktion“ zur „Praxis“, sondern bleibt bei der Produktion, erweitert diesen Begriff jedoch um Elemente, die in ihm zuvor nicht unbedingt enthalten waren. Vor dem Hintergrund der praxeologischen Produktionsanalyse zeigt Weisheit auf, dass Bauschs Tanztheater von der Ereignishaftigkeit lebt, von der Nicht-Wiederholbarkeit und von produktiver Offenheit. Dies belegt sie durchgehend am Material. Weisheit arbeitet damit nicht irgendeinen, sondern tatsächlich einen zentralen Erfolgsfaktor heraus, der Pina Bauschs Ästhetik zugrunde liegt und weltberühmt gemacht hat. Dies lässt sich, wie Weisheit aufzeigt, nicht nur bei Pina Bausch und nicht nur im Tanz beobachten, sondern auf viele Funktionsweisen von Autorschaft übertragen.

Andererseits setzte ihr das Dispositiv, in dem Pina Bausch sich als Künstlerin bewegte, Grenzen des tänzerisch Abnormalen. Diese Grenzen haben sich in Produktion und Reproduktion der Bauschschen Arbeiten zumindest auf ästhetischer Ebene bis heute beibehalten, da diese sonst nicht mehr als das erkennbar blieben, für das die Rezipienten es lieben und feiern – hier hat sich eine Einpassung in das ökonomische Dispositiv bewährt. Wer jetzt noch ins Tanztheater Wuppertal geht, macht dies, weil er oder sie bereits die unbedingt zu befriedigende Seherwartung eines Stammpublikums an das Tanztheater besitzt. Pina Bausch ist vielleicht nicht unendlich erweiterbar.

Es stellt sich daher die Frage, ob Weisheits Ansatz deshalb nicht zu hohe Erwartungen an die Prozessualität der Tanzproduktion und -rezeption stellt. Pina Bausch wird nicht immer nur neu entdeckt und verarbeitet und das Tanztheater Wuppertal unterliegt nicht unbedingt auf jedem Gebiet Transformationen. Die Tänzerinnen und Tänzer sind weiterhin perfekt ausgebildet und körperlich vollkommen, ob nun alt oder jung. Es kann in der logischen Konsequenz seiner Beschaffenheit nicht immer wieder neue Revolutionierung sein, nicht immer wieder und noch einmal alles verändern oder verändert werden.

Was bisher geschah: Die Beschränkung der Tanzforschung auf Stück und Aufführung

Trotz einer diesbezüglich teils unkritischen Herangehensweise leistet die Publikation einen kenntnisreichen Beitrag zur produktionstheoretischen Perspektivierung der Tanzforschung, die sowohl den Tanz- als auch den Produktionsbegriff erweitert – ganz so, wie es Pina Bausch in Interviews selbst leistete. Indem Weisheit sich nicht nur auf das Bühnengeschehen der inszenierten Stücke konzentriert, sondern Institutionen, Diskurse, Räume, Ordnungen, Praktiken und Akteure mit in ihre Analysen einbezieht, demonstriert die Autorin, dass nicht allein ästhetische Dimensionen für die Analyse von „Tanzproduktion“ eine Rolle spielen, sondern man für deren vollständigen Nachvollzug auch institutionelle und genealogische Zusammenhänge und Verfahren berücksichtigen muss. 

Dass es bisher oft eine Tendenz gab, Pina Bauschs Werke auf das zu reduzieren, was auf der Bühne passiert, ist verständlich: Ihr Tanztheater stellt ästhetisch unverkennbare Symbiosen aus Tanz- und Theaterszenen her – surreale, traumhafte Tanzszenen im Wasser stehen gleichberechtigt neben sprachlich ausgestalteten, oft witzigen, manchmal traurigen Alltagsszenen, die wiederum teils getanzt, teils gespielt werden, bis die Definitionen verwischen. Die Tänzer und Tänzerinnen schauspielern, gehen, rennen, sitzen, richten sich an das Publikum, singen und sprechen in vielen Sprachen. Oft wirken die Szenen magisch bis humoresk, da Alltagsgegenstände verfremdet werden, etwa ein Eimer als vermeintlich elegante Hutbedeckung oder auch der Einsatz des eigenen Körpers als Wasserspeier. Diese Originalität, die sich mit dem Absurden als Verneinung normativ verfestigter Körperhandlung paart, ist jedoch Teil eines Dispositivs der Repräsentation des Tanztheaters. 

Immer wieder wird in der Tanzforschung bis heute darauf insistiert, bei Pina Bausch fließe die Persönlichkeit der Tanzenden in die Choreographie ein. Während in die gesamte Tanzästhetik des Tanztheaters Wuppertal kraft der Selbstinszenierung der Tanzenden und Pina Bauschs berühmteren Aussagen von der Idee durchzogen ist, besonders gefühlsecht, subjektiv oder persönlich zu sein, gibt es allerdings gleichzeitig durchaus ein grobes motorisches Regelwerk, das mit großer Eindeutigkeit von den ersten Stücken bis zu den aktuellen Stücken die Bewegungen aller Tänzer und Tänzerinnen gleichermaßen bestimmt.

Pina Bausch entwickelte einen eigenen Tanzstil, der zwar mit anderen Stilen brach, aber in seiner stilistischen Eigentümlichkeit durchaus als eigenes Dispositiv zu bezeichnen ist, das wiederum Vorstellungen von Normalität auf der Tanztheaterbühne Pina Bauschs produziert und auch so kommuniziert, „übersetzt“ wird. Mit diesem Stil zu brechen würde das Tanztheater Wuppertal verfremden und letztlich vernichten – weshalb man übrigens auch den Eindruck gewinnen kann, dass die Ästhetik der letzten Stücke repetitiv wird.1 

Andererseits ist das Thema des Alterns, der Wandelbarkeit und der Imperfektion des menschlichen (Geschlechts-)Körpers im Dispositiv des Tanztheaters Wuppertal bereits selbst angelegt – bis auf wenige neue Tänzer und Tänzerinnen ist die Besetzung über mehrere Jahrzehnte hinweg die gleiche geblieben, sie altern und ihre Körper tanzen weiter. Im Stück Viktor etwa steht eine ältere Tänzerin auf der Bühne, beleibt und leicht gebeugt; ein Mann versucht, ihr den Träger des Kleides immer wieder am Bustier zu befestigen, doch unter dem Gewicht ihrer Brust reißt er ab. Die Schwere des Fleisches tritt hier zutage, gezeigt wird nicht mehr die körperlose Leichtigkeit und Perfektion des klassischen Balletts. Es handelt sich um einen Körper, der geworden ist, genauso wie das „Stück“ ist er im Werden. In ihrer Fokussierung auf die gesamten Produktionsprozesse verliert Weisheit teilweise diese Körperlichkeit aus den Augen, eine Form von Körperlichkeit, welche die These der Autorin tatsächlich sogar unterstützen würde.

Auch in Arien spielt das Dispositiv der Guckkastenbühne mit dieser Diskrepanz: Hier ist die Bühne von zwei Schminktischen eingerahmt, zwischen denen die Tänzer sich auf ihren Auftritt vorbereiten – was zugleich Teil des Auftritts ist –, im Spiegel ihren Bauchansatz bemerken und sich ihre Makel aus den Gesichtern wegschminken. Es geht auf den ersten Blick also nicht um Virtuosität und Perfektion, sondern um etwas anderes – um Produktion, um das Verdichten, Transformieren und Institutionalisieren, wie Katharina Weisheit darlegt. Diese Aspekte beschränken sich – wie Weisheit argumentieren würde – gerade nicht auf die Körper der Tanzenden, nicht bloß auf die Materialen auf der Bühne, auf die Zeit, die man im Tanztheater zuschauend verbringt, sondern sind im gesamten Produktions- und Reproduktionsprozess des Tanzes anzufinden.

Zur Auslassung kritischer Perspektiven

Dennoch gibt es Widersprüche: Sich die meisten Tänzerinnen des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch ohne langes Haar, ohne wehende Kleider vorzustellen, die Tänzer ohne weiße Hemden und Anzughosen, ist in manchen Stücken praktisch unmöglich. Film und Merch reproduzieren diese Binarität des Geschlechtskörpers in Bauschs Tanztheater. Hier wäre zu fragen, wie viel Transformation das Tanztheater nicht nur auf medientheoretischer Ebene, sondern auch politisch bieten kann. Wie prozessual ist ein Produktionsprozess, wenn die in ihm tradierten Körperbilder teils statisch oder zumindest binär bleiben, selbst in den Versuchen, die Dichotomien zu markieren und durchbrechen? Wie prozessual offen darf man ein Tanztheater nennen, dessen hochpreisige Eintrittskarten bestimmen, wer im Publikum sitzen darf? 

Geschlecht – eine der dominanten Dichotomien in Bauschs Werk – ist eine sich intersektionell manifestierende Strukturkategorie, die nicht vollständig von Produzenten und Rezipienten reflektiert werden kann, wenn nicht auch Aspekte wie Armut, Reichtum, kulturelle Herkunft, politische Lebensbedingungen und gesellschaftliche Stellung ihre deutliche Thematisierung finden. Bei Pina Bausch ist es von den ersten bis zu den letzten Stücken mit wenigen möglichen Ausnahmen hingegen das Opernpublikum, das adressiert ist; ein Opernpublikum, das die Karten zahlen kann, die Vorverkaufstermine kennt und in der eigenen Struktur des Lebens genügend Platz für kulturelle Vergnügungen in der glänzenden Welt der abseits von Hungersnöten, Krieg und existenzieller Not gelegenen Theaterkultur findet. 

Weisheit arbeitet aus einer hauptsächlich auf die Produktion und Prozessualität selbst beschränkte Perspektive auf Pina Bauschs Werk und dessen Fortsetzung. Dieser Ansatz ist insbesondere insofern problematisch, als dass auch Tanz in Produktion sich an ein geisteswissenschaftliches Publikum richtet, das es sich leisten kann, jeden Aspekt der Produktion von Tanz zu durchdenken. Platz für ein kritisches Bewusstsein von Körperbildern im Tanz bleibt dort trotz allem nicht, und auch das Verständnis von Tanz als eines kritischen Apparats bleibt zumindest weitestgehend aus. Natürlich beschränken sich die oben beschriebenen Momente der Aufführung nicht nur auf Bühne, Körper, Stück und Aufführung – Weisheit macht diese These zurecht stark. Doch ihre Annahme von Relationalität und Prozessualität bleibt eigenartig technisch, geht wenig auf das politische und kritische Potential in und mögliche Scheitern von Bauschs Werk ein.

So etwa wäre zu fragen, ob die Körper in Pina Bauschs „Werk“ und dessen transmedialer Fortsetzung nicht doch zu binär gedacht sind. Michael Kirby stellte erstmals, abgeleitet von seinen Erläuterungen zu acting und non-acting, Definitionen des Nichttanzes in Abgrenzung und in Differenz zum Tanz auf. Tanz als autonome Kunst musste sich erst vom Primat der Musik und der symbolischen Geste abkoppeln, bevor er überhaupt in einen eigenen Diskurs treten und innere Differenzen bilden konnte. Man stellt sich zunehmend die Frage, ob zeitgenössischer Tanz eigentlich Tanz ist oder nicht. Bei Pina Bausch stellt sich die Frage nicht mehr in dieser Schärfe, im Gegenteil kann alles Tanz sein. Allerdings handelt es sich bei den Ausführenden um professionelle Tänzer und Tänzerinnen. Wie passt das zusammen? Weisheit antwortet darauf nicht direkt.

Die Differenz von Tanz- und Sozialkörper wird bei Pina Bausch stärker perpetuiert als bei Jérôme Bel, der ebenfalls Thema in Weisheits Publikation ist. So holt Bel beispielsweise in seiner im Jahre 2016 inszenierten Gala sogenannte Tanzprofis und Laien, Erwachsene und Kinder, Menschen mit Behinderung oder sonstigen Einschränkungen oder Besonderheiten auf die Bühne und präsentiert auf zunächst eher unkonventionelle Weise deren Umgang mit Tanzstilen, indem die Darsteller wahlweise nacheinander oder miteinander auf der Bühne einzelne Tanzschritte, Choreographien oder Bewegungen – manchmal auch voneinander gelernt – vorführen. Dies geschieht immer im Kontext expliziter Bezeichnungen der einzelnen Tänze beziehungsweise Bewegungsmuster, während im Hintergrund Musik dazu abgespielt wird. Bei Bel sind die Tänzer nicht nur im Geschlecht unterschieden, sondern anders als bei Pina Bausch sehr viel deutlicher in Körperform, -größe und -leistung sowie in Alter, Herkunft und Milieuzugehörigkeit. Die Choreographien gehören, da selbst ausgewählt und frei im Kontext ihrer jeweiligen Herkunft und Lebensumstände entstanden, tatsächlich zu ihnen und nicht zu einem übergeordneten, institutionalisierten Tanztheater-Zusammenhang wie dem Pina Bauschs. 

Weisheit geht jedoch nicht detailliert auf die Möglichkeit von Gesellschaftskritik im Tanz ein – und die starken Unterschiede bei einigen Choreographinnen und Choreographien –, sondern verbleibt auf einem meist wertneutralen und damit seltsam unpolitischen Beschreibungslevel.

Verhältnis von Untersuchungs- und Gegenstandsebene

Pina Bausch hat sich zeitlebens in einfachen, doch klaren Worten ausgedrückt, nicht hinter geisteswissenschaftlichen Worthülsen versteckt. Für die Beantwortung von Fragen nahm sie sich meist Zeit, nur um dann am Ende jede komplexere Theoretisierung abzuwehren und ihren Tanz selbst antworten zu lassen. Dieser fragile, verletzliche, offene, oft dezidiert liebevoll ausgeführte Tanz trägt etwas fast Urmenschliches in sich, transferiert zugleich eine altvertraute, klassische, kanonische Tanzkultur und bringt sie verzerrt wieder auf die Theaterbühne – nicht, ohne die Grenzen von Sinn und Unsinn zu erproben und damit nicht Dynamiken einer akuten Gesellschaftssituation, sondern vor allem deren Rolle im Tanz zu erforschen. 

Bauschs Probennotizen legen Zeugnis davon ab, dass ihr Denken in assoziativer, kreativer Weise funktionierte, die sich nicht mit Begriffen wie zum Beispiel „Ko-Präsenz“, „Relationalität“, „Dispositiv“, „Institutionalisierung“, „Transformation“ und „Kontextabhängigkeit“ zusammenfassen und theoretisieren lässt, sondern in konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen – statt in wissenschaftlichen Begriffen – am Leben teilhat. Die berühmtesten Szenen des Tanztheaters Wuppertal erfordern ein Innehalten in der eigenen Begrenztheit verstandesmäßiger Erkenntnis und das bewusste Ablassen von der Deutung; gerade bestehend in der aktiven, mithin verständigen Verweigerung der Sinnproduktion, damit das Geschehen auf der Bühne nicht trivial bleibt, sondern in seiner scheinbaren Sinnlosigkeit Bedeutung erhält. Inwiefern Weisheits auf Produktionseigenschaften und -funktionen beschränkter Argumentationsstil von diesem Aspekt nicht eher ablenkt, bliebe zu fragen.

Doch das Hauptanliegen in Weisheits Publikation ist eines, das mit dem Zeitgeist in der Tanzforschung mithalten kann und diesem sogar teilweise vorausgeht: Pina Bauschs Terrain ist nicht auf die Körper, Aufführungen und Bühnen beschränkt. Wie Weisheit feststellt, bedeutet der Tanz mehr als das. Tanz in Produktion bietet insgesamt einen spannenden, gut dokumentierten Einblick in die Produktionsprozesse des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch und in die Fortsetzung der Bausch‘schen Tanzästhetik bis in die Gegenwart in verschiedensten Medien. 

Pina Bausch ist nur einer von vielen in der Publikation genannten Namen, doch er steht im Zentrum. Der Umgang mit diesem Namen nicht als personale Zuordnung, sondern als produktive Voraussetzung, Marke und diskursiver Zusammenhang, ist Weisheit mehr als gelungen. Die Erkenntnisse, die man aus der Publikation gewinnen kann, spielen sich allerdings eher auf Untersuchungs- als auf Gegenstandsebene ab, obwohl diese geisteswissenschaftliche Metaebene fraglos Konsequenzen für die Analyse des Materials hat. Weisheit referiert Materialzusammenhänge, die in der Pina-Bausch-Forschung bereits bekannt sind. Die Eigenleistung der Publikation besteht eher in einer alternativen Theoretisierung des Gegenstandes, weniger in der Erschließung und Analyse neuen Materials. 

Insgesamt ist Weisheits Arbeit trotz der wenigen genannten Schwachpunkte jenen zu empfehlen, die sich für einen alternativen, netzwerktheoretischen und medienkulturwissenschaftlichen Ansatz in der Tanzforschung interessieren und ihr Verständnis von Tanz und Produktion ausweiten möchten. Die Bindeglieder zwischen Theoriekomplex und Material bleiben bis zum Schluss verständlich und deutlich. Indem Weisheit auf mehr als nur einen Aspekt des Tanzes fokussiert – und umgekehrt mehr unter Tanz versteht als körperliche Bewegung –, verkleinert sie zudem die Brennweite der Tanzforschung und vergrößert damit das Bild. 

Anmerkungen

1Vgl. auch die Kritik am aktuellen Zustand des Tanztheaters Wuppertal in Jeitschko, Marieluise: Das Pina-Problem, in: Die deutsche Bühne. Schauspiel Tanz Musiktheater, 87. Jg, 02/16, Schwerpunkt: Tanz am Stadttheater, hrsg. v. Deutscher Bühnenverein/Bundesverband der Theater und Orchester, Köln 2015. S. 46f.

Titelbild

Katharina Weisheit: Tanz in Produktion. Verdichten | Transformieren | Institutionalisieren. Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.
epodium Verlag, München 2021.
516 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783940388834

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