Der Autor ins Recht gesetzt

Jürgen Schutte hat die „definitive“ Ausgabe der „Ästhetik des Widerstands“ herausgegeben

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Landauf und landab wurde 2016 der hundertste Geburtstag von Peter Weiss mit zahlreichen Lesungen, Aufführungen, Performances, Tagungen und sonstigen Events gefeiert. Mindestens Der Schatten des Körpers des Kutschers, Abschied von den Eltern, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats…, Die Ermittlung und Die Ästhetik des Widerstands haben ihn zu einem Klassiker der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur gemacht.

Den Titel seines letzten Romans kann man sogar ‚sprichwörtlich‘ nennen, wenn man die zahllosen Zitate, Anverwandlungen, Anspielungen, Verfremdungen und Kontrafakturen betrachtet. Umso mehr mag verwundern, dass es bis dato keine ‚gültige‘ Ausgabe der Ästhetik des Widerstands gab. Diese publizierte der Suhrkamp-Verlag nunmehr – eher beiläufig.

An dem Roman Die Ästhetik des Widerstands arbeitete Weiss zwischen 1972 und 1981. Erzählt wird die Geschichte eines 1917 geborenen Arbeiters in den Jahren 1937 bis 1945, der sich später zu einem literarischen Chronisten der Niederlage des Widerstands gegen den Faschismus entwickeln würde. Was in diesem summierenden Satz etwas dürftig klingt, ist in Wahrheit eine spannende Tour durch tausend Jahre Geschichte, Kunst und Literatur auf rund tausend Seiten. Konsequent las Weiss die Überlieferung gegen den Strich, wie es Walter Benjamin empfahl. Kein Wunder, dass der Roman ein „Kultbuch“ wurde, wie der Klappentext der Neuausgabe vermeldet.

Aber dieses „Kultbuch“ las man bisher in zwei Varianten. Die erste war die des Suhrkamp-Verlags, publiziert in drei Bänden 1975, 1978 und 1981 (alle späteren Ausgaben des Suhrkamp-Verlags, auch die im Taschenbuch, folgen bis auf punktuelle Korrekturen den Erstausgaben). Die zweite Variante war die des Henschel-Verlags, die in erster Auflage 1983 und in zweiter Auflage 1987 in der DDR erschien. Sie galt bisher als „Ausgabe letzter Hand“, da Weiss hier zahlreiche ‚Verbesserungen‘ seiner Lektorin im Suhrkamp-Verlag wieder rückgängig machte und sie die chronologisch letzte von Peter Weiss autorisierte Ausgabe war, deren Text er noch 1981 mithergestellt hatte.

Weiss war im Herbst 1980, als er das Manuskript des dritten Bands in Frankfurt am Main abgab, gesundheitlich in schlechter Verfassung. Außer den bekannten Herz- und Nieren-Problemen hatte man zusätzlich noch Diabetes diagnostiziert. Er gab seiner Lektorin einen Freibrief für das Lektorat. Als es ihm wieder etwas besser ging, war er über den Umfang der Veränderungen im Text entsetzt; „Umschreibe-Eingriffe“ nannte Weiss sie. Er habe bei einigen Lesungen gestutzt, weil er seine „eigene Sprache“ nicht wiedererkannte, schrieb er 1981 an Unseld.

Sein Verleger war seinerseits entsetzt, dass Weiss dem Henschel-Verlag in Ost-Berlin eine „andere Textgrundlage“ anbot, als 1981 klar wurde, dass das Buch in der DDR erscheinen durfte. Weiss hatte dem Herausgeber der Henschel-Ausgabe, dem Rostocker Germanisten Manfred Haiduk, sowohl das ursprüngliche Manuskript zugänglich gemacht als auch zwei Mal (im Mai und September 1981) Exemplare des dritten Bands mit seinen Korrekturen zugestellt. Ihm erteilte Weiss die Lizenz, auf das Manuskript zurückzugreifen, wo es ihm nötig schien (darüber berichtete Haiduk in Das Argument 2016/2, Heft 316).

Anders als die Lektorin des Suhrkamp-Verlags hat Haiduk keine eigenen Formulierungen in den Text eingebracht, sondern sich an die vorliegenden Textzeugnisse gehalten. Daraus resultierte ein im ersten und zweiten Band geringfügig, im dritten Band aber öfters abweichender Wortlaut. Trotz eines ähnlichen Satzspiegels differierten die Seitenzahlen des ersten Bands bei Henschel und Suhrkamp nur um anderthalb, im zweiten um etwa fünf, im dritten Band aber um fast zehn Seiten. Erstmals bemerkt und bedacht wurden diese Veränderungen von Hannes Goebel in einer Marburger Magister-Arbeit aus dem Jahr 1984.

Bis Oktober 2016 blieb es dabei, dass der Suhrkamp-Verlag seine Textversion nachdruckte, in dem 1981 nur einige wenige Korrekturen durchgeführt wurden, die den Seitenumbruch nicht gefährden durften. Auch wenn alle drei Bände in einem Buch aufgelegt wurden (1983, 1985, 1988, 1991), behielt man den ursprünglichen Umbruch, die dreifache Paginierung und den Text, für das Taschenbuch fotomechanisch verkleinert, bei.

Erstmals ergab sich 1998 die Gelegenheit, den Text zu revidieren, als Suhrkamp Die Ästhetik des Widerstands in der Reihe „Romane des Jahrhunderts“ in neuem Format und mit einem neuen Seitenumbruch sowie einer über alle Teile durchlaufenden Paginierung wieder herausbrachte (als suhrkamp taschenbuch 2777). Darauf hatte Weiss gebaut: Er tröste sich „damit, dass man vielleicht einmal, wenn die billige Taschenbuch-Ausgabe erscheinen soll, auf den Urtext zurückkommen kann“, schrieb er am 6. Januar 1981 an Haiduk. Die Chance wurde aber 1998 nicht genutzt; stattdessen gab es neue Satzfehler, die auch in die letzte Neuausgabe aus dem Jahr 2005 (suhrkamp taschenbuch 3688) übernommen wurden.

Nun endlich erschien zu Weiss’ hundertstem Geburtstag im November 2016 eine wirkliche Neuausgabe bei Suhrkamp, die uns den „definitiven“, d.h. nach Lage der Dinge, den vorerst besten Text dieses „Jahrhundertbuchs“ (Walter Jens) gibt. Der Herausgeber Jürgen Schutte kollationierte dafür die im Henschel-Verlag erschienene Ausgabe letzter Hand mit einem Korrekturexemplar des ersten Bands, drei Korrekturexemplaren des dritten Bands sowie brieflich oder mündlich übermittelten Korrekturen von Weiss aus den Jahren 1976 bis 1982. Wie er an „mündlich übermittelte Korrekturen“ herangekommen sein will, verrät uns der Herausgeber allerdings nicht; auch nicht, wie zuverlässig solche Übermittlungen sind. Außerdem ist im „editorischen Nachwort“ noch die Rede von „anderen Quellen“, die man auch lieber konkret benannt wüsste. Man muss also dem Herausgeber glauben, dass es mit den textkritischen Entscheidungen seine Richtigkeit hat. Stichproben meinerseits ergaben allerdings, dass man ihm wohl in der Tat vertrauen kann.

Nicht zu berücksichtigen war das Typoskript, denn Weiss hatte beide davon abweichende Druckfassungen autorisiert – wenn auch den dritten Band der Suhrkamp-Ausgabe nur mit „schweren, moralischen Bedenken“. Natürlich fördert der Vergleich der Druckfassungen mit dem Typoskript im Peter-Weiss-Archiv der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin auch interessante Beobachtungen zu Tage, wie Dieter Strützel 1993 in einer vergleichenden Textpräsentation des Abschnitts „Heilmann an Unbekannt“ zeigen konnte.

Erstens zum Beispiel, dass der Peter-Weiss-Sound manchmal erst durch die gescholtene Lektorin hergestellt wurde: „kann sich das Gefühl der Erwartung einstellen“, stand im Typoskript; die Lektorin machte daraus: „kann das Gefühl der Erwartung sich einstellen“, was mehr nach Weiss klingt und so auch in der Henschel-Ausgabe stehen blieb.

Zweitens, dass manche verunglückte Formulierung von der Lektorin tatsächlich verbessert wurde, wenn sie zum Beispiel statt: „es konnte doch keine Bürde legen zu unserm Tod“, setzte: „es konnte doch unserm Tod keine Bürde sein“, was so auch in der Henschel-Ausgabe stehen blieb.

Drittens, dass Weiss und Haiduk für die Henschel-Ausgabe auch bei der Wiederherstellung von Stellen, die die Lektorin allzu sehr geglättet hatte, nicht jedes Wort restituierten; wie beispielsweise in der folgenden Passage.

Typoskript:

welch ein Aufwand, welche Verschwendung wir da im Traum betrieben [sic], riesenhafte Städte und Landschaften werden reproduziert, manchmal von gespenstischer Schönheit, manchmal nur urzeitliches Grauen in sich tragend, ja, die Welt des Kots, der Eingeweide, der stinkenden Säuren, der von Blut durchpumpten Schläuche, der überall zuckenden Nervenfasern, von ihr war ich erfüllt, dies war der Schleim, der Schlamm, in dem ich mich wälzte, aus dem verfilzten Gesicht aber, dessen Mund mich anhauchte, liessen sich keine Züge herausschälen. Und warum wurde ein solcher Kosmos geboren, flackernd, glucksend, sich verschiebend einige Augenblicke lang, warum schossen Blüten draus hervor, warum verzauberte er sich, überbot sich in Erfindungen, Blendungen, zu welchem Zweck, doch nur, dass alles sich gleich verflüchtige, aber, frag du weiter, ist es nicht beim Schreiben das gleiche, reissen dich die Sekrete nicht in einen Strudel, in dem du dich eher verlierst, als dort die Klarheit zu finden, die zu suchen du vorgibst.

Suhrkamp-Ausgabe:

welch ein Aufwand, welche Verschwendung wir da im Traum betreiben, riesenhafte Städte und Landschaften werden reproduziert, manchmal von gespenstischer Schönheit, manchmal in urzeitlichem Grauen, ja, die Welt der Exkremente, der übelriechenden Säuren, des Bluts, der Nervenzuckungen, von ihr war ich erfüllt, dort lag ich, das Gesicht aber, dessen Mund mich anhauchte, erkannte ich nicht. Und warum wurde ein solcher Kosmos geboren, warum schossen Blüten draus hervor, warum verzauberte er sich, zu welchem Zweck, doch nur, damit alles sich gleich verflüchtige, aber, frag du weiter, ist es nicht beim Schreiben das gleiche, reißt dich, was du entläßt, nicht in einen Strudel, in dem du dich eher verlierst, als dort die Klarheit zu finden, die zu suchen du vorgibst.

Henschel-Ausgabe:

welch ein Aufwand, welche Verschwendung wir da im Traum betreiben, riesenhafte Städte und Landschaften werden reproduziert, manchmal von gespenstischer Schönheit, manchmal in urzeitlichem Grauen, ja, die Welt des Kots, der Eingeweide, der stinkenden Säuren, der von Blut durchpumpten Schläuche, der zuckenden Nerven, von ihr war ich erfüllt, dort lag ich im Schleim, im Schlamm, das Gesicht aber, dessen Mund mich anhauchte, erkannte ich nicht. Und warum wurde ein solcher Kosmos geboren, flackernd, glucksend, warum schossen Blüten draus hervor, warum verzauberte er sich, überbot sich in Erfindungen, Blendungen, zu welchem Zweck, doch nur, damit alles sich gleich verflüchtige, aber, frag du weiter, ist es nicht beim Schreiben das gleiche, reißt dich, was du entläßt, nicht in einen Strudel, in dem du dich eher verlierst, als dort die Klarheit zu finden, die zu suchen du vorgibst.

Ein genauer Vergleich der drei Passagen lehrt uns, dass das Lektorat im Suhrkamp-Verlag 1980 vor allem an ‚geschmeidigeren‘ Formulierungen und Dezenz in Fragen der „körperlichen Welt“, in der sich Weiss schon in den 1960er-Jahre als „zuhause“ erklärte (in „Fluchtpunkt“), interessiert war, nicht aber an einer Abschwächung der politischen Kritik, die durch die Bearbeitung auch in keiner Weise tangiert wurde.

Dies bestätigt auch Weiss’ Klage über das Lektorat. Nie beklagte er sich über irgendeine weltanschauliche Zensur. Ihn erschreckte nur die sprachliche Entmündigung:

Ein Leser wird die Bearbeitung des Textes vielleicht gar nicht merken, vielleicht wird sogar der Eindruck entstehn, dass der Text in diesem Band besser und leichter läuft – viele Eigenarten, Wendungen, ‚Widerborstigkeiten‘ aber fallen mir in meinem Manuskript immer wieder auf, die jetzt behoben sind, literaturhistorisch aber von einer ‚Entmachtung‘ meinerseits zeugen werden. (31. Januar 1981 an Siegfried Unseld)

Weiss gab gegenüber Haiduk sogar zu, dass viele Änderungen seiner Lektorin am Wortlaut des Typoskripts „sehr gut“ waren, weil sie nicht in den Duktus des Texts eingegriffen habe, trotzdem aber manches klarer machte. Zwar seien einige „‚Eigentümlichkeiten‘ […] verlorengegangen“, da aber „jedenfalls nichts so geändert worden war, dass es mir – oder dem Text – irgendwie widersprach“, habe er zugestimmt (6. Januar 1981 an Haiduk).

Trotzdem wuchs sein Unbehagen an dem Text so sehr, dass er bis September 1981 eine neue Fassung für den Henschel-Verlag herstellte respektive durch Haiduk herstellen ließ. Dabei ließen beide in dem zuletzt angeführten Beispiel merkwürdigerweise eine Formulierung der Lektorin stehen („was du entläßt“ für „Sekrete“), die nahezu unverständlich ist, wenn man nicht den „Urtext“ kennt. Doch dieser Umstand lässt sich nicht beheben, wenn man der guten und richtigen Editionspraxis der Gegenwart, Textzeugnisse nicht zu mischen, folgt.

Immerhin wagt Schuttes „Neue Berliner Ausgabe“ einige wenige Konjekturen, die nur sachlich, nicht textkritisch gedeckt sind. So wird im Typoskript, in allen früheren Suhrkamp-Ausgaben und in der Henschel-Ausgabe ein gewisser „Fournier“ im Zusammenhang mit Louis Blanc und Blanqui erwähnt. Es ist klar, dass Charles Fourier gemeint ist, und so steht in der neuen Ausgabe auch: „Fourier“.

Alle Änderungen wurden in den Satz der letzten Taschenbuchausgabe von 2005 (st 3688) eingetragen. Deren Fehler wurden korrigiert, und nun wurde alles in einem sehr schönen Leinenband, der im Format etwa die Mitte zwischen Taschenbuch und Erstausgabe hält, publiziert.

Müssen Peter-Weiss-Fans diese neue Ausgabe erwerben? Ja, wenn sie eine ältere Suhrkamp-Ausgabe besitzen. Nein, wenn sie eine Henschel-Ausgabe besitzen und nicht literaturwissenschaftlich mitdiskutieren wollen. Die Forschung wird sich aber nolens volens auf diese ‚definitive‘ Ausgabe einstellen und danach zitieren müssen.

Titelbild

Peter Weiss: Ästhetik des Widerstands. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
1199 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425510

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