Könnte sich diese Funkfassung allen Bühnenversionen als überlegen erweisen?
„Die Ermittlung“ von Peter Weiss: die Radiobearbeitung von 1965 als Hörbuch in einer Neuauflage
Von Arnd Beise
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer zwischen Dezember 1963 und August 1965 an 183 Verhandlungstagen in Frankfurt am Main geführte erste „Auschwitz-Prozess“ war eine Zäsur in der sogenannten Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der nicht mehr ganz jungen Bundesrepublik Deutschland. Erstmals standen „Handlanger“ der Vernichtungslager vor Gericht: Wachpersonal, Lagerärzte und ein Funktionshäftling. Es wurde unmissverständlich klar, dass es nicht irgendwelche „Teufel“ waren, die „auf uns eingehauen und uns mitgerissen haben in einer Verwirrung, daß uns Sehen und Hören verging“, wie es Karl Jaspers formulierte, sondern dass es Menschen aus der Mitte der Gesellschaft waren, die diese Verbrechen verübt hatten.
Von Anfang an verfolgte Peter Weiss (1916-1982) diesen Prozess, mitunter selber anwesend und Notizen machend, beständig aber durch die Lektüre der von ihm als „vorbildlich“ empfundenen Berichterstattung Bernd Naumanns (1922-1971) in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Parallel las er alles ihm erreichbare Material über die nationalsozialistischen Vernichtungslager und den Prozess. Ende 1964 hatte er das Material zusammen, aus dem er in nur zwei Monaten eines der beeindruckendsten Stücke des deutschen Nachkriegstheaters machte.
Als sein Lektor das Manuskript der Ermittlung das erste Mal gelesen hatte, schrieb er an Peter Weiss: „es hat mich ganz krank gemacht. […] Es ist ein ungeheuerlicher Text, der mich bei der ersten Lektüre völlig erschlagen hatte, sodaß ich keinerlei Gedanken an die Aufführbarkeit, an das Theater etc., fassen konnte. Kein Gedanke über aesthetische Kategorien“.
Diesen Eindruck werden viele, wenn nicht alle Leser und Leserinnen nachvollziehen können. Im Spiegel der „Strafsache gegen Mulka und andere“ (dem sogenannten ersten Auschwitz-Prozess) wird die Dimension des nationalsozialistischen Systems der Vernichtungslager auf eine Weise reflektiert, die in der deutschen Literatur bisher noch kein gleichrangiges Gegenstück fand. Die Ermittlung gilt als „konsequentestes Stück Literatur über den Holocaust“ überhaupt und behauptet sich, wie Alfons Söllner formulierte, als „erratischer, aus Sprache geformter Block der Erinnerung […] gegenüber einem modischen Gedächtniskult.“
Noch vor den Urteilssprüchen im damaligen Prozess erschien das Stück Anfang August 1965 in einem Vorabdruck der Zeitschrift „Theater heute“. Es war sofort klar, dass dies eine ungeheure Provokation nicht nur des Theaterpublikums, sondern der deutschen Öffentlichkeit insgesamt war. So viele Bühnen interessierten sich für das Stück, dass man sich im Suhrkamp-Verlag entschloss, die Uraufführung freizugeben. Am 19. Oktober 1965 wurde das Stück an 14 ost- und westdeutschen Bühnen (und sogar in London) gleichzeitig inszeniert oder szenisch gelesen.
Gut eine Woche nach der aufsehenerregenden Ring-Uraufführung wurde die von elf Rundfunkanstalten unter Federführung des Hessischen Rundfunks produzierte Hörspielfassung der „Ermittlung“ zwischen dem 25. und 31. Oktober 1965 mehrfach ausgestrahlt. Wie noch bei fast jeder Aufführung der „Ermittlung“ wurde der Text um etwa ein Drittel eingestrichen, jedoch ohne dass das Stück in seiner inhaltlichen Substanz angegriffen wurde. Für die sehr gute Bearbeitung war der Dramaturg Hermann Naber (1933-2012) verantwortlich.
Insgesamt befanden sich die Striche eher in der zweiten Hälfte des Stücks, das dadurch dynamisiert wurde. Sie betrafen zum Beispiel bestimmte Wiederholungen, die allerdings zu Weiss‘ ästhetischer Absicht gehörten, wie er an den Verlag schrieb: das Stück nämlich überlang zu machen, „so mahlend in der immerwährenden Fragestellung“, damit es „unerträglich“ werde. „Der ganze Sinn liegt hier in dem Ausgedehnten, kein Ende Nehmenden.“ Außerdem wurden Beschreibungen der Örtlichkeiten sowie der grässlichsten Szenen, etwa im Gesang von der Schaukel oder in den Gesängen vom Phenol und vom Bunkerblock, gestrichen, ohne aber dass darin irgendeine politische Absicht erkennbar wäre. Ein bisschen leichter verdaulich als die Lektüre des gesamten Texts ist die Hörspielfassung aber schon.
Akustisch ist das Stück außerordentlich reduziert. Lediglich zwischen den einzelnen Teilen der Gesänge gibt es ganz kurze Einblendungen von Geräuschkulisse aus dem Gerichtssaal (Stühlerücken, Stimmengewirr); ansonsten vertraut die Inszenierung von Peter Schulze-Rohr (1926-2007) auf das nackte Wort. Dies war ganz in Weiss‘ Sinn: Exzessive Theatralik hatte er sich verbeten; sein Stück sei ganz auf den Zusammenprall von Worten, von Frage und Antwort gebaut, darin müsse auch in einer Aufführung die ganze Dramatik liegen, äußerte er 1965.
In der Hörspielfassung waren sogar die in Weiss‘ Text schon seltenen emotionalen Reaktionen (seitens der Zeugen und der Angeklagten) fast ganz zurückgenommen. Die Radioaufführung charakterisiere „eine Sachlichkeit und Nüchternheit, die das Grauen im Alltäglichen belässt, um es gerade dadurch in seinem Wesen zu kennzeichnen“, stellte Gerd Fuchs (1932-2016) in der „Welt“ seinerzeit fest und fragte sich, ob diese Funkfassung sich möglicherweise „allen Bühnenversionen als überlegen erweisen sollte“, und zwar gerade, weil sie sich „allein auf das Wort stellt“; dadurch zeige sie, „was das Wort noch zu leisten imstande ist: Imagination wird nicht gefordert, sie wird erzwungen.“
Diese besondere Qualität ist vermutlich der Grund dafür, dass diese erste Hörspielbearbeitung von 1965 bis heute die einzige Hörbuchfassung ist, die es von der „Ermittlung“ gibt.
Zum ersten Mal war diese erste Radioinszenierung 1988 vom Klett-Verlag herausgegeben worden. 2001 übernahm der hörverlag in München diese Bearbeitung in sein Programm. Nicht ohne die Hoffnung, „dass alle die, die Ohren haben zu hören“, die Botschaft des Stücks vernehmen werden: Das Entsetzen darüber, „dass die ‚große Idee‘ des Rassenhasses noch immer bei einem Teil der bundesrepublikanischen Bevölkerung Anklang fand, und – wie man aus heutiger Sicht konstatieren muss – noch immer findet“, wie Elsbeth Wolffheim (1934-2002) – „eine altmodisch gebildete und belesene Frau, die ihr eigenes exquisites Urteil hatte, unbeeindruckt von den Moden des Betriebs“, wie es im Nachruf der „Zeit“ hieß – im Booklet zu dieser zweiten Hörbuch-Ausgabe schrieb. Diese Publikation solle, wie von Weiss intendiert, „einen Erkenntnisprozess einleiten, […] damit nicht allgemeiner Konsens wird, was in der ‚Ermittlung‘ der Angeklagte Mulka in seinem Schlusswort fordert: ‚Heute / da unsere Nation sich wieder / zu einer führenden Stellung / emporgearbeitet hat / sollten wir uns mit anderen Dingen befassen / als mit Vorwürfen / die längst als verjährt / angesehen werden müssten‘.“
Solch offensive Bekenntnisse zu politischem Engagement und gesellschaftlicher Verantwortung waren in der deutschen Verlagslandschaft schon vor 15 Jahren nur noch selten zu vernehmen. Inzwischen sind sie verschwunden, obwohl Fremdenfeindlichkeit in der deutschen Bevölkerung eher zu- als abgenommen hat. 2007 brachte der hörverlag diese Radiobearbeitung erneut als „Hörspiel“ auf 3 CDs heraus (die Edition von 2001 war wie die von 1988 auf zwei Kassetten erschienen). Das Geleitwort von Wolffheim wurde durch eines des seinerzeit noch an der Universität Essen lehrenden Germanisten Jochen Vogt (geb. 1943) ersetzt, in dem es weniger um die aktuelle Bedeutung des Stücks als rückblickend um die historische Bedeutung des Auschwitz-Prozesses und dessen Dramatisierung von Peter Weiss ging.
2016 legt der inzwischen zur Verlagsgruppe Random House gehörende und sich im Signet nunmehr großschreibende Hörverlag die Fassung erneut auf (wieder auf 3 CDs). Das Layout wurde ein bisschen, aber nicht besonders auffallend geändert. Es blieb beim Begleittext von Jochen Vogt. Auslassungen in einem anderen Zitat aus dem oben zitierten Text von Gerd Fuchs wurden 2007 im Klappentext noch mit „…“ markiert; 2016 scheint das nicht mehr nötig zu sein. Auch hat sich niemand die Mühe gemacht, die Kurzbiographien beteiligter Künstler und Künstlerinnen zu überprüfen. Naher „lebt“ nicht mehr „heute in Baden-Baden“, sondern verstarb dort 2012. Schulze-Rohr ist schon seit 2007 tot, Hanne Hiob seit 2009. Stattdessen wird aber präzise festgehalten, dass die seinerzeit an der Produktion beteiligten Rundfunkanstalten SFB und SWF inzwischen RBB und SWR heißen! Die Aufmerksamkeit gilt heutzutage offenbar eher dem Signet und den Financiers als den kunstschaffenden Individuen.
Die Hörbuch-Publikation von Klett 1988 brachte „Die Ermittlung“ als reines Hörspiel. Die hörverlag-Publikation von 2001 brachte zusätzlich die unretuschierte Radio-Anmoderation von 1965. Es war vor 15 Jahren ein aufregendes Erlebnis, als Nachgeborener die Aufregung über dieses Stück in einem Tondokument hören zu können. Die Chance haben die Käufer des Hörspiels seit 2007 nicht mehr. Aus dem historischen Dokument wurde wieder die ahistorische Vertonung eines Klassikers gemacht.
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