Wenn die Psychiatrie zum Ort der Eintracht wird
Kurt Fleisch entwickelt in seinem Briefroman „Aibohphobia“ eine außergewöhnliche Arzt-Patienten-Beziehung voller Paradoxa, die zum Entwirren einladen
Von Kira Desiree Ehlis
Dr. H. ist ein renommierter Psychiater und selbsternannter Vorsitzender des „Instituts zur Förderung des universellen Neuropathologismus“, der sich vorwiegend der Heilung seines Patienten und Intimus, Herrn S., verschrieben hat. Dieser leidet unter verschiedensten geistigen Erkrankungen, wie Angststörungen, Wahnvorstellungen und Zwängen, was ihn für H. als optimales Objekt seiner therapeutischen Bemühungen qualifiziert. Die Therapie findet in Form einer postalischen Korrespondenz statt, der Leserschaft liegen ausschließlich die Briefe H.s vor. Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung besteht in der Einnahme einer umfassenden Menge an Pharmazeutika, denn: „Die richtige Dosis ist stets die Überdosis!“
Auch die Lobotomie stellt für H. eine angemessene Therapieform dar. Die Notwendigkeit sieht er darin, dass es andernfalls kaum möglich sei, sich als vernunftbegabter Mensch in die heutige Gesellschaft – oder „das Marionettentheater“, so H. – einzugliedern. Folgerichtig stellt die Psychiatrie für H. den einzigen Ort dar, in welchem das Individuum vor den absurden Anforderungen der Außenwelt geschützt ist und sein natürliches Menschsein ausleben kann. Darüber hinaus unterstützt H. seinen Patienten in dem Bestreben, einen Bunker zu errichten, welcher ihn ein für alle Mal von der schädlichen Außenwelt abschirmen soll.
Nun, ich möchte Sie nicht zu lange von Ihren Vorbereitungen für Ihren ersten Arbeitstag abhalten, gebe Ihnen jedoch den Rat, ausreichend Psychopharmaka zu sich zu nehmen, damit Sie Ihrem Arbeitgeber Ihre Leistung erbringen können, schließlich hat dieser nicht nur Ihre Zeit, Ihren Geist und Ihren Willen gekauft, sondern auch Ihr Arschloch, wie wir seit meiner Habilitationsschrift über Proportionalität zwischen ökonomischen Verhältnissen und Pornografie wissen. Schlucken Sie dies am besten mit der Dosis, die ich bereits mit Ihren Ärzten abgesprochen habe, wie üblich hinunter.
Allerdings scheint nicht nur der Bedarf des Patienten an Medikamenten stetig zu steigen. H.s Briefen zeigen, dass auch der behandelnde Arzt zunehmend Probleme damit hat, sich in die Gesellschaft zu integrieren, sodass in seinen Augen eine medikamentöse Selbsttherapie und ein eigener stationärer Aufenthalt erforderlich werden – die Psychiatrie gerät zum Sehnsuchtsort.
Mit einem gewissen Zynismus und seinem Protagonisten als Sprachrohr parodiert Fleisch ökonomische Entwicklungen, die das Individuum – so es sich denn in die Gesellschaft einfinden möchte – unter Absage an die eigenen Bedürfnisse zu einem funktionierenden „Automaten“ degradieren. Zugleich wird auf überspitzte Weise ein starres Hierarchiegefälle der medizinischen Welt entlarvt, indem H. sich als „Gott in Weiß“ präsentiert, welcher nicht müde wird, seinen Patienten an dessen Unterlegenheit zu erinnern. Gleichzeitig weist Dr. H. mindestens ebenso ausgeprägte psychische und mentale Beeinträchtigungen auf wie S., sodass seine Bewertungen zur geistigen Gesundheit anderer quasi unbrauchbar werden. Das Zusammenspiel von medizinischer Behandlung und dem Versuch gesellschaftlicher Wiedereingliederung gipfelt oftmals in Passagen von makabrem Humor: Als S. seine im Bunker installierte Sprachsteuerung – von „Alexa“ in „Trotzki“ umbenannt – anweist, für ihn all seine Zwangshandlungen auszuführen, stößt das bei H. auf Begeisterung. Auch das Abhängigkeitsverhältnis von Arzt und Patient wird in Frage gestellt. Ist es nicht eher H., der seinen Patienten S. braucht, um sich seiner eigenen, großartigen Existenz zu versichern?
Wären Sie Ihr eigener Arzt, geehrter Herr, könnten Sie sich nun aussuchen, ob Sie nur deshalb geisteskrank wären, weil Ihre geisteskranke Realität zufällig tatsächlich real wäre, womit Sie aber zugleich beschließen müssten, sich selbst für gesund, aber damit zwingend alle anderen Menschen für geisteskrank zu erklären. Erkennen Sie das Dilemma, geschätzter Herr?
Das titelgebende Element Aibohphobia (dt. „Eibohphobie“), also die Angst vor Palindromen, ist nicht nur eine der selbstgestellten Diagnosen von S., sondern fasst auch das dem Roman zugrundeliegende Spiel mit dem Unwohlsein aufgrund von fehlender Linearität auf: Zeitliche Abläufe, räumliche Aufenthalte und die Funktionen wiederkehrender Figuren sind zunächst unklar und lassen sich erst mit fortschreitender Lektüre entschlüsseln. Nur allzu ironisch ist, dass das Wort selbst ein Palindrom ist, ebenso wie der Roman ein Verwirrspiel aus Gegensätzen zu sein scheint, welche nach und nach ineinandergreifen.
Unter dem Pseudonym Kurt Fleisch kreiert ein österreichischer Germanist und Philosoph, der auch in der IT-Branche tätig ist und sich auf die Produktion politischer Deepfakes spezialisiert hat, einen Briefroman voller gesellschaftskritischer Anspielungen. Nennungen historischer Figuren, darunter etwa Bismarck oder Lenin, scheinen zunächst willkürlich in H.s Briefe eingestreut zu sein und werden nur durch zusätzliche Informationen nachvollziehbar. Auch intertextuelle Bezüge, beispielsweise zu Nietzsches autobiografischem Werk Ecce Homo. Wie man wird, was man ist, kristallisieren sich im Laufe der Lektüre heraus. Obwohl die hohe Anzahl an Gedankenspielen sowie die Wirrungen auf der Handlungsebene anfangs überwältigend wirken und die Erzählperspektive zusätzlich dazu auf H.s Ausführungen beschränkt ist, trägt gerade dessen Unzuverlässigkeit zur Neugierde auf das tatsächliche Geschehen bei. Da H.s Schilderungen kaum mit der Realität vereinbar sind, liegt es an der Leserschaft, zwischen den Zeilen einen stimmigen Plot zu extrahieren. Dem Lesefluss förderlich ist außerdem der ansprechende und kurzweilige Schreibstil, welcher themenbedingt zwar einige medizinische Fachbegriffe, mindestens aber ebenso viel umgangssprachliches und derbes Vokabular enthält. Auf diese Weise ist es Fleisch gelungen, trotz der größtenteils abstrakten Handlung einen unterhaltsamen und formal ausgefallenen Roman hervorzubringen, dessen Auflösung zur Relektüre anregt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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