Wer liest wen?
Inwiefern Geschlecht bei der Vermittlung und Rezeption von Literatur noch immer allgegenwärtig ist
Von Morgane Hinz
Als Bernardine Evaristo vor wenigen Wochen im Literaturhaus Frankfurt vor ihrem Publikum Platz nimmt, sieht sie vor sich ein Meer aus Frauen. 199 Sitzplätze umfasst der große Lesesaal im Erdgeschoss, der an diesem Märzabend restlos ausverkauft ist. Evaristo ist Professorin und Schriftstellerin, sie schreibt Dramen, Essays, Gedichte und Romane, sie wurde von der Queen mit zwei Verdienstorden geadelt, ist Präsidentin der Royal Society of Literature und Gewinnerin des Booker Prize. Hier und heute ist sie jedoch vor allem eines: Eine Frau, die zu anderen Frauen spricht. Wer sich aufmerksam umblickt, erkennt unter den Anwesenden höchstens vier oder fünf Männer. Lesungen scheinen nicht zu bevorzugten männlichen Freizeitbeschäftigungen zu zählen. Zumindest nicht, wenn es sich nicht gerade um Paul Auster oder Ian McEwan handelt, die über ihre neuesten Werke sprechen. Wer oder was also fehlt an diesem Abend? Wohl ein männlicher Autor.
Grace Paley sagte es einst so: „Frauen haben Männern schon immer den Gefallen getan, ihre Werke zu lesen, und Männer haben diesen Gefallen nicht erwidert.“ Zahlen vermögen dies abzubilden: In Großbritannien etwa werden die zehn meistverkauften Autorinnen – wie Jane Austen, Margaret Atwood und Jojo Moyes – nur zu 19 Prozent von Männern gelesen. Bei den zehn meistverkauften männlichen Autoren hingegen, zu denen Charles Dickens und Stephen King gehören, ist die Verteilung deutlich ausgeglichener: 55 Prozent der Leser:innen sind Männer, 45 Prozent Frauen. Mit anderen Worten: Frauen sind durchaus geneigt, Bücher von Männern zu lesen, aber deutlich weniger Männer sind bereit, Bücher von Frauen zu lesen. In Anbetracht der nicht zu überschätzenden Bedeutung des englischsprachigen Buchmarkts ist dies eine entscheidende und durchaus verheerende Feststellung. Noch verheerender erscheint sie, wenn man bedenkt, inwiefern sich dies auf Inhalte, Perspektiven und Themen von Texten auswirkt. Schon ein einziger Blick auf die Gewinner:innen großer Literaturpreise ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: Zwischen 2000 und 2015 stammten mehr als die Hälfte der Pulitzer-prämierten Bücher von Männern und handelten von Männern. Von den weiblichen Gewinnerinnen, sechs an der Zahl, handelte die Hälfte der Romane von Männern und die Hälfte sowohl von Männern als auch von Frauen. Keine der Preisträger:innen, weder männlich noch weiblich, hat auch nur ein einziges Buch geschrieben, in dem Frauen oder Mädchen allein die Protagonistin(nen) stellen. Ist es jedoch nicht eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass Literatur das menschliche Dasein spiegeln soll und nicht bloß das männliche?
Beinahe überall, wo Literatur ist, findet – zumindest im 21. Jahrhundert – Literaturvermittlung statt. Dies gilt insbesondere in Zeiten von Bookstagram, BookTube und, ganz wichtig, BookTok, also den Buch- und Literaturcommunities, die sich in den letzten Jahren auf den großen und diesbezüglich namensgebenden Social Media-Plattformen Instagram, Youtube und TikTok formiert haben. Der Einfluss jener sozialen Netzwerke geht mittlerweile so weit, dass sowohl im Verlagswesen als auch im Buchhandel mit dort produzierten Erwartungserwartungen gearbeitet wird. Etwa dann, wenn die Leser:innen nach Nachschub von Figuren verlangen, die man heutzutage gerne als „morally grey“ bezeichnet (Auftritt: Leigh Bardugo’s Darkling aus der im Internet gehypten Shadow & Bone-Trilogie, in der Netflix-Verfilmung verkörpert von Ben Barnes). Viral gehende (Buch-)Trends führen allerdings nicht bloß dazu, dass Jugendliche jäh wissen, was Begrifflichkeiten wie ‚Trope‘ bedeuten. Bücher, die favorisierte, sogar geforderte Tropes (im vorherigen Jahr besonders erfolgreich: Enemies to Lovers und Fake Dating) beinhalten, werden unmittelbar von Verlagshäusern eingekauft und in Höchstgeschwindigkeit publiziert. In großen Buchhandlungen befinden sich ganze Regale, in denen bunte Taschenbücher mit dem Aufdruck „BookTok made me buy it“ warten. So wird die traditionelle Buchbranche nicht nur aufgemischt, sondern vollkommen neu strukturiert. Immerhin geht es hier um Geld. Um viel Geld. Und wer steckt hinter diesen neuartigen Bewegungen, die so viel Macht ausüben? Vor allem junge Frauen, die in kurzen, mit greller Musik untermalten Videos anpreisen, welche Bücher sie zuletzt zum Weinen gebracht haben – oder die in ausführlichen Vlogs ganze Literaturklassiker von Middlemarch bis Krieg und Frieden analysieren, interpretieren und bewerten.
Es ist allerdings keine allzu große Überraschung, dass Literaturvermittlung weiblich geprägt ist. Schon die Bibelgruppen im 17. oder die im 18. Jahrhundert aufkommenden Literatursalons wurden nicht selten von Frauen initiiert und besucht. Im Jahr 2023 ist die nächste Lektüreempfehlung eben nur eine App entfernt. Kommuniziert wird nicht mehr über einem Tee oder Kaffee, sondern über Kommentarspalten. Auch hier sprechen primär Frauen zu Frauen. Was wiederum zur Leserschaft passt, denn Frauen sind und bleiben das Lebenserhaltungssystem der Buchbranche: In den USA, Kanada und Großbritannien sind mehr als 80% aller Käufer:innen von Romanen weiblich. Oder, um es mit den Worten Ian McEwans zu sagen: „Wenn Frauen nicht mehr lesen, ist der Roman tot.“
Durchaus verständlich erscheint es also zunächst, dass eine gezielte Ausrichtung von literarischen Marketingkampagnen auf Frauen stattfindet. Denn Frauen generieren mehr Umsatz, weil sie – faktisch – in Summe mehr Bücher kaufen als Männer. Literaturvermittlung, die heutzutage schon deutlich früher beginnt – etwa bei der Gestaltung von Buchumschlägen –, zielt so bereits auf ein bestimmtes Geschlecht bzw. Gender ab. Ob sanfte Pastelltöne oder Frauen, die rücklings zur Kamera in einem sich wiegenden Weizenfeld stehen: Gattungsübergreifend wird jedes noch so banale Stereotyp genutzt, um den weiblichen Blick auf das zu verkaufende Buch zu lenken. Bücher von männlichen Autoren hingegen werden, wie bereits Meg Wolitzer feststellte, mit großen Lettern und oftmals grellen Farben als Event angekündigt (man muss bloß an die Werke eines Salman Rushdie oder Jonathan Franzen denken). Schon aus diesen Differenzen geht der oftmals belächelte Begriff der ‚Women’s Fiction‘ hervor, zu dem es kein männliches Äquivalent gibt. Und das, obwohl männliche Autoren wie Nick Hornby und David Nicholls ebenso kommerziell erfolgreiche Bücher über Liebe, Beziehungen und Familie schreiben – und im Gegensatz zu den meisten Autorinnen dafür gepriesen werden. „Ein männlicher Schriftsteller ist vor allem ein Schriftsteller“, merkte Elif Shafak einst an. „Niemand spricht über sein Geschlecht. Eine weibliche Schriftstellerin aber ist vor allem eine Frau.“
Ebenso ist es kein Zufall, dass Autorinnen von den Brontë-Schwestern bis zu J.K. Rowling ihre Namen veränderten oder verschleierten, um Männer davon zu überzeugen, sie dennoch zu lesen. „Dennoch“, das bedeutet in diesem Fall: Trotz des Umstands, dass es sich bei ihnen um Frauen handelt. Frauen machen die große Mehrheit der Autor:innen und Leser:innen aus, doch entscheidende Berichterstattung über Bücher – das, was wir meist im klassischen Sinne als Literaturvermittlung verstehen, also beispielsweise die großen Feuilletons oder Fernsehsendungen – wird oft noch immer mehrheitlich von männlichen Autoren und Rezensenten dominiert. Männer, so scheint es, können für alle sprechen; Frauen hingegen sprechen nur für sich selbst. Ob sie wollen oder nicht.
Wenn eine Lesung Bernardine Evaristos von nur fünf Männern besucht wird, so ist dies ein Verlust für männliche Leser und keinesfalls für die Autorin. Sie ist sich dieses Umstands sogar durchaus bewusst, wie sie in einem Interview sagte: „Ich weiß schon lange, dass Männer schlichtweg nicht daran interessiert sind, unsere Literatur zu lesen.“ In einer Welt jedoch, in der die An- oder Abwesenheit von Männern oftmals mit einer impliziten Wertung einhergeht, wird ein Umstand wie dieser eben doch zum Problem. Die Geschlechterverteilung im Publikum der Lesung einer Booker Prize-Gewinnerin erscheint damit als Symptom, als Spitze eines Eisbergs.
Was tun gegen diesen unübersehbaren Gender-Gap? Vielleicht halten wir es mit Evaristo selbst: „Wenn ich gebeten werde, Bücher zu empfehlen, wähle ich beinahe immer [Bücher von] Frauen.“ Die literarischen Influencerinnen von BookTok & Co. verweisen im Übrigen ebenfalls nur allzu gerne auf Autorinnen.