„Wer mit den Verhältnissen brechen möchte, darf sich nicht an Regeln halten“
Ein Gespräch mit der Autorin Shida Bazyar über das Schreiben, die Literatur und Politik
Von Anna-Lena Eick
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
literaturkritik.de: Die Ergebnisse der Europawahl 2024 haben in Deutschland für Erschrecken gesorgt. Der öffentliche Diskurs schwankt in seiner Reaktion: Einerseits wird die Frage gestellt, wie es sein kann, dass 16% der Wähler bereit sind, eine antidemokratische Partei zu wählen, die rechtes Gedankengut salonfähig machen will. Auf der anderen Seite wird ein resignierendes: „Das-ist-jetzt-nicht-mehr-überraschend“ oder gar ein: „Davor-warnen-wir-seit-Jahren“ formuliert. Was machen die Wahlergebnisse mit Dir – insbesondere mit Blick auf das Wahlverhalten der jüngeren Generation?
Shida Bazyar: Ich bin keine Freundin von diesem merkwürdigen Vorwurf à la: „Jetzt seid ihr alle überrascht, oder was?“ Ich war nicht überrascht, ich war entsetzt. Diese Vorwurfshaltung, die typisch für die Sozialen Medien ist, finde ich vollkommen apolitisch. Wir wussten schon vorher, welches rechtsextreme Gedankengut vollkommen selbstverständlich in Menschen vorhanden ist. Das ist nichts Neues. Wir haben dennoch die Hoffnung gehabt, sie würden es nicht auch in die Tat umsetzen. Und das ist eine merkwürdige Gemengelage: Einerseits von Ideologien zu wissen, aber gleichzeitig zu hoffen, dass sie eben nicht ihr demokratisches Recht in Anspruch nehmen.
Vielleicht ist es für uns alle an der Zeit, einzusehen, dass wir nicht am Anfang dieser Entwicklungen stehen. Es geht nicht (mehr) darum, etwas aufzuhalten – es ist schon da. Wir sind seit Jahren am Warnen und das, wovor wir warnen, davon wissen alle. Jetzt müsste die nächste Phase kommen, nämlich dagegen zu kämpfen und die Demokratie zu verteidigen. Ich weiß nur nicht genau, wie diese Phase aussehen müsste. Aber ich fürchte, dass wir es uns in unseren Warnungen zu gemütlich gemacht haben. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass bei dieser Wahl 16-Jährige zum ersten Mal gewählt haben, und für die ist die AfD nichts Neues, für die ist die AfD auch nichts erschreckend Schlimmes, sondern es ist eine ‚demokratische‘ Partei, die im Bundestag sitzt. Und die machen nichts, was so anders ist als das, was Olaf Scholz auf dem Spiegelcover posaunt, wenn er sagt, man müsse im großen Stil abschieben. Die machen auch nichts anderes als Friedrich Merz, wenn er von „kleinen Paschas“ redet. Warum sollten die eine Hemmschwelle haben, die AfD zu wählen?
Du meinst, der Moment des „Überrascht-Seins“ sollte eigentlich vorbei sein? Die Argumentation, dass man die Entwicklungen – trotz der vielen einschlägigen Skandale und Vorfälle – nicht bemerkt haben will, kann kaum überzeugend vertreten werden. Wurden die Vorzeichen nicht richtig gedeutet?
Ja. Und trotzdem hatten wir Anfang des Jahres diese unglaublich vielen Demonstrationen gegen rechten Hass. Erschreckend ist in jedem Fall, dass die AfD-Ergebnisse so gut waren, obwohl es so viele Skandale gab. Die wären noch besser gewesen, wenn es die Skandale nicht gegeben hätte! Ich möchte diese Proteste nicht als Nichts abtun, denn das sind ja die Leute, die wir brauchen, weil sie im schlimmsten Falle die schweigende Mehrheit werden. Und ich glaube, wenn die Demokratie gefährdet wird, muss der Fokus gar nicht mal so sehr auf denen liegen, die sie angreifen, sondern auf denen, die genauso gefährlich werden, wenn sie das nicht abwehren. Das sind die Leute, die wir gesehen haben: Sie waren auf den Straßen, sie waren empört.
Das Verhältnis von Literatur und Politik ist seit jeher umstritten: Platon entwirft in seiner Politeia einen idealen Staat. In diesem Staat hat seiner Ansicht nach die Dichtung keinen Platz und wird als eminente ‚Gefahr‘ – vor allem für die Jugend – stilisiert. Platon schlägt daher eine staatliche Kontrolle der Künste vor. In dieser stark vereinfachten Argumentation kommt eine ‚Angst‘ vor dem möglichen Einfluss der Dichtung auf die politischen Geschicke eines Staates zum Ausdruck. Positiv gewendet verweist diese Warnung aber auch auf das immense Wirkungspotenzial der Literatur. Was würdest Du Platon heute auf seine Befürchtungen antworten?
Ich glaube, dass seine Befürchtung vollkommen berechtigt ist. Nicht wegen potenziell manipulativer Literatur. Wenn man von politischer Literatur spricht, muss man gerade in Deutschland aufpassen, dass es zu keiner Gleichsetzung mit dem Schmuddelkind der Literatur, der Propaganda-Literatur, kommt. Aber ich würde ja meine eigene Literatur nicht ernst nehmen, wenn ich nicht davon ausgehen würde, dass sie gefährlich für bestimmte Systeme oder Strukturen sein kann. Wir sehen es an den Diktaturen der Welt, die haben nicht umsonst die Presse- und Kunstfreiheit eingeschränkt.
Widersprechen würde ich natürlich, wenn es um die Sinnhaftigkeit von staatlicher Kontrolle von Literatur und Kunst geht. Wir führen im Moment viele Diskussionen und versuchen, den Antisemitismus in Deutschland aufzuhalten. Es ist ein unglaublich zermürbender, schwieriger Kampf. Er wird aber nicht leichter, indem Fördergelder gestrichen oder einzelne Künstler/innen, Wissenschaftler/innen diskreditiert werden. Das passiert im Moment aber. Und das ist sehr gefährlich, da wir eigentlich unsere Energien bündeln müssten, um andere Gefahren abzuwehren. Ich glaube, dass auch Platon, wenn er heute hier wäre, sehen würde, dass das keine gute Idee wäre, die Literatur zu kontrollieren.
Glaubst Du, dass Literatur in ihrer Grundanlage immer politisch ist? Und inwiefern trifft das auf Dein Schreiben zu?
Ja, das geht gar nicht anders. Als politisch denkender Mensch kann man auch ein Wasserglas anschauen und die politische Dimension davon erkennen. Weil man sich überlegt, wo kommt das Wasser her, wer hat das Glas gespült, was kostet so ein Glas? Als politisch denkender Mensch kommst Du gar nicht um eine politische Interpretation herum, egal, ob Du ein Wasserglas betrachtest, oder ob Du einen Text liest. In dem Moment, in dem man als politischer Mensch schreibt, ist es dann auch so, dass die Bilder, die man verwendet, die Figuren, für die man sich entscheidet, die Beziehungen, die die Figuren führen, immer auf dem Prüfstand stehen. Man muss sich immer fragen: Was hat das jetzt mit dem großen Ganzen zu tun. Man trifft beim Schreiben viele Entscheidungen aus erzählerischen Gründen und man trifft aber auch viele Entscheidungen aus politischem Gründen. Ich glaube, das ist es zumindest bei meinem Schreiben so.
In welchem Verhältnis stehen literarische Ästhetik und die politische Komponente in Deinen Texten?
Für mein Schreiben hat das Erzählerische oder, wenn man so will, das Ästhetische, immer Priorität. Priorität hat immer die Erzählung, ob sie plausibel ist, ob sie einen Puls hat, ob sie Spaß macht, ob sie spannend ist, all diese erzählerischen Fragen. Während des Schreibens trifft man Entscheidungen – deswegen ist Schreiben auch so anstrengend, weil man permanent Entscheidungen treffen muss. Und bei diesen Entscheidungen kommt es vor, dass das Politische mitentscheidet. Manchmal merkt man, dass die Erzählung stockt, das hängt häufig damit zusammen, wie Gesellschaftsstrukturen sind. Das heißt, an manchen Stellen kreuzen sich die beiden Ebenen automatisch. Und das ist vielleicht auch gleichzeitig der Unterschied zu Propaganda. Propaganda beginnt nicht mit der Erzählung, sondern mit dem Politischen.
Das bedeutet das Politische in Literatur kann immer nur so gut transportiert werden, wie die Erzählung es trägt?
Alles kann nur so gut transportiert werden, wie die Erzählung es trägt. Wenn die Erzählung nicht trägt, dann ist ja auch der Rest hinfällig. Ab irgendeinem Punkt funktioniert das wie eine Spirale, denn die erzählerischen und ästhetischen Entscheidungen führen auch zur Frage, welche Form ich wähle. Und die Form ist politisch.
Nachts ist es leise in Teheran thematisiert die politische Situation in Iran seit der Revolution und die Auswirkungen des autoritären Regimes auf die Bevölkerung und die Exiliraner/-innen. Drei Kameradinnen setzt sich mit rechtem Terror und Diskriminierungserfahrungen (Rassismus und Sexismus) in Deutschland aus einer intersektionalen Perspektive auseinander. Was ist für Dich der größte Unterschied zwischen den beiden Texten?
Die Drei Kameradinnen definieren sich nicht über etwas, was in ihrer Vergangenheit passiert ist. Die Familie in Nachts ist es leise in Teheran hat ein Trauma und das ist die gescheiterte Revolution in Iran. Das ist auch das Trauma der Flucht. Und alles, was wir von ihnen mitbekommen, hängt mit diesem Trauma zusammen. Und die Drei Kameradinnen haben das nicht. Die haben mit Sicherheit auch Traumata. Jede ihr eigenes. Die teilen ja sogar den Aspekt der Flucht bzw. der Migration. Das ist für diese Charaktere und wie sie durch die Welt gehen aber kein Identifikationsmoment. Und ich glaube, das ist der große Unterschied. Sie sind sehr im Hier und Jetzt.
Wir haben uns zuletzt im Januar 2024 beim „Iran-Abend“ im Literaturhaus Wiesbaden getroffen. Der kulturelle Hintergrund Deiner Eltern in Kombination mit Deiner schriftstellerischen Tätigkeit beschert Dir bisweilen eine große Nachfrage zum Thema Iran. Fluch oder Segen?
Also Fluch wäre vermessen, denn das würde heißen, dass ich entweder den Einfluss, den ich auch politisch haben kann, unterschätze oder ihn diskreditiere. Es ist ein Segen, aber halt ein bitterer Segen. Mein Buch ist 2016 erschienen und wurde als Buch zur sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 interpretiert. Das hat natürlich dafür gesorgt, dass es mehr Aufmerksamkeit bekommen hat. Aber man will ja nicht von einer Situation profitieren, die für Menschen ein Problem ist. Und gleichzeitig passiert das aber. Ich denke darüber möglichst wenig nach, denn sonst könnte man ja gar nichts mehr schreiben. Also, ich glaube, es ist eine Frage des Maßes und ich habe lange damit gerungen, wie ich als Autorin selbst auftrete. Ich habe mich gefragt, ob ich die Anfragen annehme, die ich bekomme, sobald in Iran irgendwas passiert.
Hast Du als deutsche Autorin manchmal das Gefühl, aufgrund Deines familiären Hintergrunds – und damit der Erfahrungen Deiner Eltern – als Token für bestimmte Themen eingesetzt zu werden? Als jemand, der für Personengruppen sprechen soll, die selbst nicht sprechen können oder nicht gefragt werden? Wie gehst Du mit dieser Problematik um, die natürlich in ihrer Dynamik auch wieder auf strukturelle Ungerechtigkeiten verweist?
Ich habe 2016 erste Interviews gegeben und Journalisten/-innen haben mich wirklich gefragt: „Wie würden Ihre Eltern das und das sehen, was würden Ihre Eltern da und da darauf antworten?“ Ich habe dann immer gesagt, dass wir gerne meine Eltern anrufen und sie selbst fragen können und bemerkt, dass es interessant ist, dass sie das trotzdem gerade nicht Leute wie meine Eltern fragen. Es scheint also Berührungsängste zu geben und eine Haltung, die vorgibt, wer es mehr verdient, zu sprechen und gehört zu werden. Es ist offensichtlich erst die Generation, die gewisse biografische Stationen erfüllt hat, die man befragt. Wenn ich auf Bühnen sitze und zu Iran rede, ist es an mir und auch an den Veranstalter/-innen, klarzumachen, welche Perspektive ich habe, und welche ich nicht habe. In solchen Situationen kann einem das eigene Ego im Weg stehen, weil man natürlich eigentlich sehr gerne gerade die wichtigste Person im Raum sein möchte. Da muss ich mir klar machen, dass ich hier nicht als die Hauptperson spreche. Aber ich kann Schallverstärkerin sein. Sobald es mal zu einer Revolution in Iran kommt, habe ich vielleicht auch einfach nichts mehr zu sagen, dann habe ich diese Rolle nicht mehr einzunehmen.
Bei Deinen öffentlichen Auftritten zu Iran wird genau das deutlich: Du sorgst dafür, dass die Personengruppe, um die es eigentlich geht, nämlich die Aktivisten/-innen in Iran, genügend Raum bekommt. Dennoch ist der Vorwurf: „Ihr sprecht für Leute, für die ihr nicht sprechen könnt“, in der Rezeption und im Feuilleton immer wieder präsent.
Bestimmt gibt es Menschen, die uns am Ende vorwerfen, dass wir uns diese Bühnen nehmen. Das kann ich denen, glaube ich, auch gar nicht verübeln, weil ich glaube, dass der Vorwurf immer auch eine Berechtigung hat. Gleichzeitig denke ich: Was wäre denn die Alternative? Wäre es nicht noch schlimmer, wenn wir es nicht machen? Es gibt interessanterweise aber auch die Kehrseite: nämlich uns so sehr über Iran zu identifizieren, dass nicht mehr deutlich wird, dass wir für Leute sprechen, für die wir nicht sprechen können. Also ich finde das sind zwei Extreme, die beide nicht gut sind.
Wie stehst Du dazu, dass Du teilweise bei Veranstaltungen als ‚iranische Autorin‘ vorgestellt wirst?
Ja, genau. Und das ist ja auch einfach falsch. Was sollen denn die Leute in Iran denken, wenn ich eine iranische Autorin bin? Iranische Autorinnen haben gigantische Probleme, iranische Autorinnen zu sein. Ihnen droht nicht nur Zensur und Arbeitsverbot, denen droht Folter und Gefängnis. Ich hier in Deutschland – das ist definitiv nicht: ‚iranische Autorin‘ sein. Abgesehen davon sind Nationalitäten nichts, worüber ich mich definiere.
Du hast Dich – neben Deinen Romanen auch in essayistischen Texten wie z.B. in dem Band anders bleiben: Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten (2023) oder in Briefform „Frau. Leben. Freiheit. Ein offener Brief an die im Iran ermordete Jina Amini“ in der SZ (2022) zu politisch relevanten Themen und Ereignissen geäußert. Ist die Kurzform für Dich ein Refugium, um politische Unwägbarkeiten zu verhandeln? Gibt es für Dich einen Unterschied in der Wahrnehmung ‚Deiner Stimme als Autorin‘ zwischen den Romanen und kürzeren Formen?
Ich glaube, für mich ist der gravierendste Unterschied, dass ich selbst in der kürzeren Form auftauche, auch, wenn es natürlich ein literarisiertes Ich ist. Das lasse ich in Romanen nicht zu, mich selbst muss ich innerhalb des Romans eher loswerden. Aber in kürzeren Texten hilft mir das „Ich“, meine Gedanken zu strukturieren. Auf viele Klarheiten kommt man auch erst beim Schreiben oder beim Reden. Das kennt ja jeder von sich, dass man in einer Diskussion plötzlich Dinge klar formuliert, die man vorher nur gefühlt hat. Das ist beim Schreiben ganz genauso. Und ich habe jetzt in den letzten Jahren eigentlich erst gemerkt, wie sehr ich die kurze Form mag, und wie viel mir das gibt, einen kurzen Text zu bauen. Das ist eine eigene Form von Kreativität. Und die ist bei kurzen Texten einfach anders als bei langen.
Hat das auch mit einer größeren Unmittelbarkeit kürzerer Formen zu tun?
Ja, denn die Reaktionen der Rezipienten/-innen sind in dem Fall meistens für den Moment. Kurze Texte überleben oft nicht so lange, weil ja die Welt sich weiterentwickelt. Die haben einfach einen anderen Effekt: auf die Rezipienten/-innen und auch auf einen selbst.
Es gibt einen großen Unterschied in der Schärfe und im Ton zwischen Deinen beiden Romanen. Sind die Drei Kameradinnen Ausdruck Deines Entwicklungsprozesses als (politische) Autorin?
Tatsächlich nicht. Man könnte denken, Nachts ist es leise in Teheran ist gemäßigt und dann kommt die Wut und man schreibt Drei Kameradinnen. Wenn ich jetzt auf mich in meiner Entwicklung gucke, ist es eigentlich umgekehrt. Als ich Nachts ist es leise in Teheran geschrieben habe, war ich der viel wütendere Mensch, und ich hätte zu dem Zeitpunkt darüber kein Buch schreiben können. Drei Kameradinnen ist ein wütendes und auch ein provozierendes Buch, das kann man ihm nicht absprechen. Aber ich als Autorin war beim Schreiben ganz bei mir: Ich habe erzählerische und politische Entscheidungen getroffen und eine dieser Entscheidungen war die, eine wütende Erzählerin zu kreieren und sie erzählen zu lassen. Ich war selbst, glaube ich, an einem Punkt, die Dinge gestaffelter sehen zu können, und das geht nicht, wenn man noch mitten in der Wut drinsteckt. Ich glaube, das ist der Unterschied.
Und was aber auch mit reinspielt, ist, dass Nachts ist es leise in Teheran für mich ein Buch voller Schmerz war. Es wurde wahrgenommen und auch literarisch sehr wertgeschätzt. Gleichzeitig hat es mich irritiert, was für eine Kuschelatmosphäre daraus entstanden ist. Wie wohl sich Menschen doch fühlen, sich ein Schicksal anzuschauen, das nicht Ihres ist. Das werfe ich den Menschen aber nicht vor – so geht es mir auch, wenn ich Bücher lese über ein Schicksal, das nicht meines ist. Das ist was sehr Merkwürdiges, was im Menschen drinsteckt. Für den zweiten Roman wollte ich das aber nicht noch einmal. Denn viele Themen, die auch in Nachts ist es leise in Teheran schon schlummern, tun weh. Ich schütze in den Drei Kameradinnen niemanden mehr davor, am allerwenigsten aber mich selbst.
Und das hat wiederum viel mit der Art zu tun, wie erzählt wird. War es bei den Drei Kameradinnen eine bewusste Entscheidung, konventionelle Erzählformen hinter sich zu lassen, um die Konsumierbarkeit zu durchbrechen? Bequemlichkeiten für die Rezipierenden – wie Chronologie, Homogenität, Kontinuität, standardisierte Spannungsbögen – bietet Dein zweiter Roman nicht. Im Gegenteil: Drei Kameradinnen liest sich wie eine Text gewordene Rebellion gegen leicht konsumierbare Wohlfühlformen.
Ja. Und vielleicht steckt da auch drin, dass ich wusste, gerade als junge Autorin, mit einem gut gelaufenen ersten Buch, ist die Gefahr sehr groß, dass alle aufs zweite warten um draufzuhauen. Die Gefahr ist sehr groß, dass einem dann klargemacht wird, Du bist zwar hier, aber deinen Platz musst Du Dir jetzt erst mal erarbeiten. Ich finde, man beobachtet das in verschiedenen Stellen im Literaturbetrieb, und ich wollte die Flucht nach vorne antreten. Deswegen ist die konventionelle Form auch etwas, was ich nicht einhalten wollte. Ich wollte mich nicht an Regeln halten – ich wollte die eigenen Regeln machen. Andererseits treffen sich bei der Frage, welche Form dieser Roman haben soll, die erzählerische und die politische Komponente: Ein Roman, der in jedem Wort, in jedem Satz, bestehende Verhältnisse auseinanderbrechen möchte, der darf sich nicht selbst an Regeln halten. Also der muss auch in der Form, in der Ästhetik ein Regelbruch sein, sonst wäre er inkonsequent.
Neben konventionellen Erzählverfahren stoßen auch gewohnte Rezeptionsstrategien bei der Auseinandersetzung mit Deinem Text explizit an ihre Grenzen. Dein Text ist keine leichte Lektüre, er ist nicht bequem, macht an manchen Stellen keinen Spaß und ist schmerzhaft. Wie können Deine Leser/-innen mit diesem zugegebenermaßen ‚erzwungenen‘ Aufgeben des Gewohnten und mit diesem Schritt heraus aus ihrer Lese-Comfort-Zone umgehen?
Wenn wir von (nicht-weißen?) Rezipienten/-innen ausgehen, die die Erfahrungen, die im Buch beschrieben sind, kennen, hoffe ich, dass es etwas Befreiendes hat, die eigenen Erfahrungen gespiegelt zu bekommen, auch wenn sie schlimm sind. Ich glaube, denen würde ich raten, nicht allein zu sein mit so einem Buch und sich an die Strategien zu halten, die einem helfen, wenn man mit Diskriminierung konfrontiert wird, denn das wird man in dem Buch. Man wird zwar auch getröstet, aber ich glaube, vor allen Dingen wird man an den eigenen Schmerz erinnert.
Und ich glaube, weiße Rezipienten/-innen oder diejenigen, die es noch nicht reflektiert haben, dass sie weiß sind, die mit der Lektüre wirklich aus ihrer Komfortzone raus müssen, bei denen würde ich mich fragen, was die denn von einem Buch wollen? Wollen sie Literatur? Dann müssen sie trennen, was Privatsache und Befindlichkeit ist und wo ein Text noch ein Text ist. Sonst macht es keinen Sinn, so ein Buch zu lesen. Wenn sie aber merken, dass sie über diese ‚Befindlichkeiten‘ nicht hinauskommen, dann müssen sie an anderen Stellen arbeiten. Es gibt zum Beispiel Bücher, die kann ich nicht lesen, weil ich nicht das Wissen habe – beispielsweise über Zustände im 18. Jahrhundert. Dann muss ich zuvor dafür sorgen, dass ich das Handwerkzeug habe, um zu verstehen. Wenn man merkt, man selbst und die eigenen Widerstände stehen einem Text im Wege, dann wird der Text einem vielleicht auch einfach gar nicht helfen können, denn dafür ist er auch nicht da. Es ist kein „Entdecke den-Rassisten-in-dir-und-arbeite-gegen-ihn-Buch,“ sondern es ist ein Roman. Ich glaube, dass es wahrscheinlich viele Leute gibt, die erst mal an sich arbeiten müssen, bevor sie ihn verstehen, so leid mir das tut.
Liest man die Drei Kameradinnen im Kontext der jüngsten politischen Entwicklungen, so wird deutlich, dass der Literatur durchaus eine gewisse ‚seismographische‘ Funktion in Bezug auf gesellschaftspolitische Gefahren oder Tendenzen zugeschrieben werden kann. Literarische Texte fungieren dann als (angeleitetes) „Sich-Gewahr-Werden“, als Verweis auf eminente Gefährdungslagen, die im öffentlichen Diskurs teilweise marginalisiert oder verharmlost werden. Kann Literatur eine seismographische Funktion übernehmen?
Ja, das denke ich schon. Ich habe vor allen Dingen das Vertrauen in Autoren und Autorinnen. Ich glaube, dass Autoren/-innen oft dazu in der Lage sind, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen. Ich habe gelernt, dass das auch Autorinnen-Dasein bedeutet, abgesehen vom Romanschreiben. Ich glaube, dass wir mutiger sein müssen, um Dinge benennen zu können, die unbequem sind, die vielleicht auch gar nicht zu benennen sind. Ich fürchte allerdings, dass wir da gerade einen ziemlich miesen Job machen. In der aktuellen politisch-globalen Gemengelage, aber auch in Deutschland, scheint es so, als hätten rechte, bürgerliche und leider auch linke Antisemiten/-innen, sowie Islamisten/-innen die Überhand gewonnen, weil wir uns alle streiten und es nicht richtig hinbekommen, aufeinander aufzupassen. Es sind so hochgradig komplexe Konflikte, um die es hier geht. Eigentlich wäre das der Moment der Literatur. Das wäre die Chance der Autoren und Autorinnen, Grauzonen zu benennen, Ambivalenzen zu benennen, vorzumachen, dass das aushaltbar sein muss. Ich glaube, wir sind noch dabei, Worte zu finden. Aber ich glaube, das ist eigentlich einer der Momente, in denen es auf die Autorinnen und Autoren [besonders?] ankommt.
Wie würdest Du das Verhältnis Deines Romans Drei Kameradinnen zur ‚außerliterarischen Realität‘ beschreiben?
Da sind wir vielleicht wieder bei den weißen Leser/-innen, die ihr Weiß-Sein nicht reflektiert haben. Ich war wirklich überrascht und musste wirklich auch häufig lachen, dass erwachsene Menschen, mehrheitlich erwachsene Männer, ein Buch lesen und wirklich denken, jemand greift sie unmittelbar an. Die Erzählerin ist aber eine fiktive Figur. Niemand hat den Rezipienten/-innen was getan. Man will den Leuten teilweise fast über den Kopf streicheln und sagen: „Es ist nur ein Buch!“ Das gleiche Spiel auch auf Lesungen: Es wurde ganz oft nicht unterschieden zwischen a) die Figur schimpft ihr fiktives Publikum an und b) die Autorin schimpft deutsche Leser und Leserinnern an. Für mich ist das, was zwischen den Buchdeckeln passiert, Fiktion. Das Publikum, das die Erzählerin sich vorstellt, ist Fiktion. Es ist eine Figur des Romans und das ist für mich als Autorin völlig verstörend, wenn ich merke, Menschen denken, Literatur wäre gleich Wirklichkeit. Das erinnert mich an die Geschichten von Leuten, die das erste Mal im Kino saßen und raus gerannt sind, weil der Zug auf sie zufuhr und sie dachten, der Zug überrollt sie. Manchmal denke ich: „Wie süß, ihr denkt das bei Literatur auch?“
Und zum Teil wurde das Deinem Roman in der Rezeption auch ganz explizit zum ‚Vorwurf‘ gemacht: Du würdest die „Deutschlehrer und Deutschlehrerkinder“ belehren und sogar angreifen… Bestätigt Dir dieser Teil der Rezeption die enorme Treffsicherheit Deines Textes?
Als Leserin finde ich es toll, wenn ich ein Buch lese und das macht was mit mir und führt auch noch dazu, dass ich nicht mehr checke, dass es nur ein Buch ist. Bei professionellen Leser/-innen, die ja die Aufgabe haben, sich zu überlegen, was damit gemeint sein könnte, da finde ich es eher irritierend. Ich habe häufig gedacht, wie absurd der Roman sich selbst bestätigt. In der Mathematik schreibt man „q.e.d.“ drunter, wenn der Beweis erbracht ist, das könnte man hier auch tun.
Die Drei Kameradinnen bieten den Lesenden wenig Anleitung und Service – sie fordern vielmehr eine aktive und kritische Rezeption ein. Dennoch gibt es Momente, in denen der Text den Rezipienten/-innen die Hand reicht: So kann man beispielsweise die drei Frauen dabei begleiten, ihre eigenen Positionen und die soziokulturellen Machtstrukturen, in die sie ebenfalls eingebettet sind, in ihrer Prozesshaftigkeit zu erkennen. Wie gestaltet sich aus Deiner Sicht das Verhältnis von Anklage und Aufklärung bzw. Erklärung im Text?
Ich würde behaupten, dass beides da ist und neben vielen anderen Sachen steht. Und ich glaube, dass vieles auch Aufklärung ist, was eher wie eine Neutralität daherkommt. Es gibt eine Stelle, da geht es eigentlich um Wahlergebnisse. Es geht aber auch um Wahlergebnisse im sogenannten ‚Osten‘ Deutschlands. Und es wird sehr deutlich, dass die drei nicht reflektieren, dass sie, wenn es um deutsch-deutsche Themen geht, zum Beispiel eine Mehrheitsperspektive haben als westdeutsche Frauen. Das reflektieren sie nicht, sagen aber relativ krude Dinge dazu. Ich glaube schon, dass an dieser Stelle weder Angriff noch richtig Aufklärung passiert, aber trotzdem eine Art von Gleichgewicht hergestellt wird. Also ich will nicht sagen, dass der Angriff entschuldigt, sondern dass der Angriff ein bisschen abgemildert wird, indem klar wird: Auch die Protagonistinnen sind fehlbar. Oder, dass Saya als Person, die offenbar schon früh einen deutschen Pass hatte, sämtliche Privilegien, die daran hängen, überhaupt nicht hinterfragt und auch nicht nachvollziehen kann, dass man etwa aus Aufenthaltsgründen heiraten könnte. Das sind blinde Flecken, die auch die Figuren haben. Um diese blinden Flecken im Text zu erkennen, muss man ihn allerdings ‚wach‘ lesen.
Deinem Roman gelingt es, eine Situation des doppelten Misstrauens zu schaffen: Einerseits misstraut die Ich-Erzählerin Kasih der Mehrheitsgesellschaft und damit ganz explizit auch den von ihr teilweise direkt adressierten weißen Leser/-innen. Andererseits führt die Dynamik des Textes dazu, dass auch auf Seiten der Rezipierenden eine große Portion Misstrauen entsteht. Die Rezipienten/-innen erwidern das Misstrauen gegenüber der unzuverlässigen Erzählinstanz. Durch dieses doppelte Misstrauen wird eine (aktiv-kritische) Rezeptionsposition möglich, innerhalb derer sich die Rezipienten/-innen beim Lesen selbst beobachten und die eigenen Annahmen auf internalisierte Vorurteile etc. überprüfen können. Ist Misstrauen ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen und den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Machtstrukturen?
Das ist eine schöne Feststellung. Beidseitiges Misstrauen passt wirklich gut. Ich glaube Voraussetzung für das Erzählen ist, dass es einen Zustand gibt, in dem Lesende und Erzählerin quitt sind. Wenn Kasih nicht so wäre, wenn sie einfach erzählen würde (als verletzte, diskriminierte Frau, Hartz-IV-abhängig, ihre Freundin wurde inhaftiert), wenn das ihr Modus wäre, dann hätten wir ein Machtgefälle zwischen Lesenden und Kasih. Und dadurch, dass beide Seiten einfach vollkommen berechtigten Grund haben, einander stark zu misstrauen, sind wir quitt. So ist das Machtgefälle ein bisschen abgebaut. Ich wollte eine Situation von Ebenbürtigkeit schaffen. Trotzdem werden wir keine Variante finden, in der wir uns alle gleich vertrauen. Kasih wird man nicht vertrauen, das bringt sie als Erzählerin nicht mit. Und wenn man ehrlich ist, hat sie auch keinen Grund, Anderen zu vertrauen. Also ich finde es plausibel, dass es so läuft.
Und es ist ebenso plausibel, dass die Rezipienten/-innen auf diese unzuverlässige Erzählinstanz entsprechend reagieren. Es sind im Text viele Fährten gelegt: Kasih widerspricht sich selbst, sie verstrickt sich in ihrer eigenen Geschichte, sie entlarvt ihre eigenen Aussagen als Lügen, und das sehr provokativ und geradezu herausfordernd. Die Lesenden müssen als Reaktion auf ihre Aussagen dann alles bisher Gelesene in Frage stellen. Besonders dann, wenn sie als Ich-Erzählerin die Grenzen der ihr zugänglichen Wahrnehmung überschreitet.
Ja, und im Laufe des Erzählens wird sie immer größenwahnsinniger, was ihre eigene Perspektive angeht. Sie fängt eigentlich, auch wenn sie von Anfang an pöbelt, relativ unschuldig an, Dinge zu erzählen, bei denen noch nachvollziehbar ist, woher sie diese weiß. Ab einem gewissen Punkt wirft sie aber auch diese Etikette über Bord und behauptet Dinge, bei denen sie ja de facto nicht dabei gewesen sein kann. Und diesem Größenwahn gegenüber muss man misstrauisch sein: eine natürliche Reaktion. Aber das ist eben der Moment, in dem sie immer auch mächtig wird. Erzählen ist Macht. Eine marginalisierte Person, die zur erzählenden Instanz wird, ist immer eine mächtige marginalisierte Person. In diesem Fall ist sie eben übermächtig und dem ist man als Leser/-in ausgeliefert. Gewissermaßen kehrt das die Verhältnisse auch um, die kritisiert werden.
Labels oder Etiketten wie ‚postmigrantisch‘, ‚Migrationsliteratur‘, ‚interkulturelle Literatur‘ und ‚Fluchtliteratur‘ geistern sowohl durch das Feuilleton als auch durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit u.a. Deinen Texten. Die biografischen Fakten oder kulturellen Hintergründe Deiner drei Protagonistinnen bleiben im Text jedoch unaufgelöst und unspezifiziert. Sind herkunftsbezogene Etikettierungen notwendige Zuschreibungsmarkierungen oder fördern sie eher ein wenig zielführendes Schubladendenken?
Würden wir in einer Welt leben, in der klar ist, dass alle Leute ihre rassismuskritische Brille tragen, wenn sie Kategorien bauen, dann wäre ich dem überhaupt nicht abgeneigt. Vielleicht würden wir auch tatsächlich auf die gleichen Kategorien kommen, wer weiß. Solange wir aber in einer rassistischen Welt leben und die meisten von uns das nicht reflektieren und nicht mitdenken, sind die Kategorien in Bezug auf bestimmte Autoren/-innen einfach ein weiterer Baustein, innerhalb der Stereotype, die es über sie ohnehin gibt. Und ich hatte bisher meistens nicht den Eindruck, dass die Kategorien, die zum Beispiel das Feuilleton aufmacht, Sinn machen. Sie funktionieren nur als Kategorien, die Biografien miteinander in Verbindung bringen möchten. Und das ist natürlich immer zum Nachteil der Autoren/-innen, weil ihnen dadurch noch mal ein Stück weit mehr die eigene Individualität abgesprochen wird.
Ich weiß nicht, ob ich Kategorien bräuchte, aber wenn, dann glaube ich, Kreativere. Wenn es zum Beispiel darum geht, Romane über Deutschland zu kategorisieren, warum tauchen wir dann meistens nicht oder bisher noch nicht auf? Dabei finde ich, dass Drei Kameradinnen maximal ein Roman über Deutschland ist. Und ich glaube, diese Zuordnung würde nicht passieren. Und dann ist das ja ein Problem für alle, denn dann haben wir Lücken. Aber grundsätzlich brauche ich Kategorien nicht und sie schaden mir auch eher, als dass sie mir helfen.
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