Zwischen Mensch und Tier

Jürgen Wertheimer porträtiert in „Mischwesen“ hybride Gestalten der Kunst- und Kulturgeschichte

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pointiert, sprachlich versiert und historisch kundig präsentiert Jürgen Wertheimer eine eigentümliche, auch eigenartige Menagerie aus dem Kulturleben, essayistisch geformt, platziert mitten in eine Welt, die übervoll erscheint von Identitätsdiskursen. Der Tübinger Literaturwissenschaftler lenkt die Aufmerksamkeit seiner Leserinnen und Leser auf die reichhaltige Geschichte von Kreaturen, die eine zumeist literarische Zwischenwelt bewohnen oder einen Kosmos vielgestaltiger Buntheit, der unserem Alltag ähnlich erscheint und besondere Kolorierungen verleiht.

Wertheimer spricht von „Mischwesen“ und erwägt, wie nahe und wie verwandt jene Lebensformen sind, die für manche – in heutiger Zeit – eine „verwandtschaftliche Abart des Menschen“ seien, nämlich „intime Freunde“. Gleichwohl bleibt fraglich, ob nicht der ungeschmeidige, kalte Begriff der „Abart“ einer herzlichen Sympathie entgegensteht, die Wertheimer offenbar im Sinn hat. Es gebe „undefinierbare hybride Mischlinge“, mit manchen Tieren sei der Mensch „geschwisterlich verwandt“, andere blieben ihm „wesensmäßig fremd“.

Auf eine kritische Diskussion der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts verzichtet der Autor weitgehend, dort hätte der intellektuelle Hochmut vieler Denker wahrgenommen und namentlich kenntlich gemacht werden können – etwa am Beispiel von Max Scheler –, die eine schroffe Scheidelinie zwischen Tier und Mensch unvermindert behaupteten und über eine exponierte Stellung des Menschen in der Natur nachdachten oder diese neu festschreiben wollten. Überkommene kulturphilosophische Vorurteile fasst Wertheimer dann knapp zusammen und erklärt diese für wissenschaftlich untauglich: „Der Mensch verfügt über Reflexions- und Abstraktionsfähigkeit, das Tier nicht. Nur der Mensch vermag ein Bewusstsein seiner selbst zu entwickeln. Tiere haben keine Seele. Keine Sprache.“ Stimmt, so reden die arroganten Kulturwesen, die sich Menschen nennen, manchmal sogar noch heute. Doch eine substanzielle Kritik an diesen Ansichten und Meinungen wird in dem Buch zwar benannt, aber nicht systematisch ausgeführt.

Wertheimer würdigt künstlerische Zugangsweisen und präsentiert eine kleine Religionsgeschichte, in der Mensch und Tier in Beziehung stehen:

Ob Ganesha, der indische Elefantengott, ob Männer oder Frauen, Amphibien, Fischwesen, Vogelmenschen oder Raubtiere – der unendliche Kosmos hybrider Existenzen lebt und belebt, fasziniert und animiert uns immer wieder aufs Neue. Oft auch in Gestalt von Missgeburten und Monstrositäten. […] Nicht nur Kreuzungen von Tieren und Menschen, sondern auch solche von Tieren, Menschen und Göttern – tierischen Göttern, göttlichen Tieren, je nach Blickwinkel. Wenn wir unsere Fantasie ein wenig schweifen lassen, kommen uns umgehend die Gottheiten des alten Ägypten vor Augen – samt und sonders Mischwesen, zumeist mit den Körpern von Menschen und den Köpfen von Tieren.

 In Ägypten sei es darum gegangen, „das Organische der Verschmelzung der beiden Wesenheiten überzeugend zu modellieren“ – von der Sphinx bis zum „ibisköpfigen Mondgott Toth“, der so erscheint, dass der Betrachter glaube, „den Vogelkopf aus dem Menschenleib herauswachsen zu sehen, sodass ein nahezu abstraktes, surrealistisch anmutendes Konstrukt entsteht“. Es gebe, so Wertheimer, ein „mysteriöses Zwischenreich“ der Kultur.

Nun mangelt es in der Religions-, Kunst- und Literaturgeschichte nicht an besonderen Existenzen, in der Welt der „Wasserfrauen“ etwa, von Undine bis hin zu Andersen kleiner Meerjungfrau. Wertheimer spricht von „Nixen unterschiedlichster Bauart“ – und wählt damit einen nicht allzu romantischen Ausdruck. Er deutet die Bedeutung dieser Mischwesen wie folgt:

Ob menschenfreundlich oder dämonisch, fuchsschwänzig oder zweibeinig, märchenhaft, mystisch oder lebensnah – diese Inkarnationen der Uneindeutigkeit frappierten und frappieren noch immer, sind populär bis zum Kitschigen. Diese Nähe zwischen Tod und sprudelnder Vitalität zeichnet das Geschlecht der Nixen von Anfang an aus.

 Zweifelhaft bleibt indessen, ob die „weiblichen Wasserwesen“, wie Wertheimer schreibt, ein „uneindeutiges erotisches Fluidum“ vereine – erwägenswert wäre hier eher der Gedanke, ob es sich hier nicht durchaus um eine eindeutige erotische Anziehungskraft handelt, mit gravierenden Konsequenzen für jene, die ihr erliegen. Wäre etwa Undine bloß uneindeutig erotisch attraktiv, so wäre es mutmaßlich leichter, diese Gestalt zu distanzieren. Wertheimer akzentuiert das „Verdrängte“ und „Unheimliche“, das sich im „Refugium der Unterwasserwelten“ zeige und im „rationalistischen, fortschrittsversessenen 19. Jahrhundert“ sichtbar werde, zumindest in der Literatur und in Karikaturen von Grandville und Wilhelm Busch: „Tiere stürmen das Parkett, erobern die Welt und treten an die Stelle des Menschen.“ Die „Ordnung der Zivilisation“ gerät in Gefahr: „Die Tiere brechen aus ihren goldenen Käfigen aus, überwinden die Gräben der Abschottung und schlagen zurück: Unzählige Horrorfilme, in denen meist als blutrünstig gezeichnete Bestien ausbrechen oder wie aus dem Nichts auftauchen…“

Zugegeben, Jürgen Wertheimers Essay bietet Exkursionen zu höchst eigenen Fantasiegestalten an, die in der Kulturgeschichte sehr präsent sind und anschaulich von ihm präsentiert werden, ohne dass die Leserinnen und Leser den vorgestellten Interpretationen unbedingt in allem zustimmen müssen. Der Literaturwissenschaftler schreibt souverän über die schwierige Beziehung zwischen Mensch und Tier, die er am Beispiel zahlreicher „Mischwesen“ durchaus würdigt, während er den Aspekt der Unterhaltung, den auch und gerade märchenhafte und fantastische Werke der Literatur bieten, stärker hätte würdigen können. So zeigt Wertheimer in knapper, lesbarer Form zahlreiche Mischwesen-Beispiele aus dem weitläufigen Universum der Fantasie – und öffnet neue Perspektiven auf hybride Gestalten der Kunst- und Kulturgeschichte.

Titelbild

Jürgen Wertheimer: Mischwesen. Tiere, Menschen, Emotionen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
141 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783751805568

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