1968 als Familienroman?

Karin Wetteraus Beitrag zum kommenden Jubiläum

Von Julia KlebsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Klebs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karin Wetterau erzählt die Geschichte der 1968er Rebellion als „Familienroman“ und verwendet damit einen Begriff, der in der Psychoanalyse für die (konfliktreiche) Ablösung der Heranwachsenden von der Elterngeneration steht. 1968 sei diese Ablösung besonders schmerzhaft gewesen, da sie unter dem Vorzeichen der NS-Verbrechensgeschichte stand. Wetteraus Monografie über eine politische Generation bündelt mehrere Perspektiven: die individuell-biografische, die intergenerationell-familiäre und die kollektiv-gesellschaftliche. Den Stoff liefern 23 Gespräche, welche die Autorin in den Jahren 2007 bis 2009 mit bekannten und weniger bekannten ProtagonistInnen der Bewegung führte. Gegliedert und interpretiert werden die Interviews in einer chronologischen Abfolge. Einleitend gibt Wetterau unter dem Stichwort „Mythos 68“ einen kurzen Überblick der Epoche, von den Anfängen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, den studentischen Protesten gegen den Krieg in Vietnam und für die antikolonialen Befreiungsbewegungen bis hin zu den K-Gruppen und der zweiten Welle des Feminismus in den 1970er Jahren. Der Fokus der Studie liegt jedoch auf Deutschland und insbesondere auf Berlin, wo die 68er auf ein „feindseliges gesellschaftliches Umfeld“, auf die Kontinuität der NS-Elite in Politik und Wirtschaft sowie auf das Verschweigen und Verdrängen von Schuld seitens der Vorgängergeneration stießen. Das daraus resultierende „Generationendrama“ mit all seinen Brüchen, Kontinuitäten und Krisen dient Wetterau als Folie für die Interpretation der Politisierungsprozesse in den folgenden Kapiteln.

Dem chronologischen Aufbau entsprechend beginnt das zweite Kapitel mit der Kindheit der 1968er, die häufig noch im Krieg oder kurz nach seinem Ende geboren wurden und „unmenschliche Gewalt“ erlebten. Längere, flüssig lesbare Zitate der Interviewten prägen dieses und die folgenden Kapitel. Ergänzt werden sie durch Schilderungen des gesellschaftlichen Kontextes sowie durch Interpretationen und Deutungen der Autorin, zum Beispiel vermutet sie, dass der in den Interviews geschilderte Mangel an persönlichen Beziehungen unter den Politisierten ein Reflex auf die in der Kindheit erfahrene Empathielosigkeit und Gefühlsabwehr sein könnte. So thematisieren denn auch nur wenige der Interviewten die Kriegsschrecken oder erkennen in diesen eine Motivation für das spätere linkspolitische Engagement. Das dritte Kapitel erzählt von der Sprachlosigkeit und der Unfähigkeit zur Trauer im Nachkriegsdeutschland. Die heranwachsende Generation ist dabei in lauter Ambivalenzen verstrickt, die zwischen „Wissen und gleichzeitigem Nicht-Wahrhaben-Wollen“ changieren. Scham- und Schuldgefühle sowie gesellschaftliche Tabus sind Themen der Interviews, beispielsweise die Frage nach den Tätern und inwiefern die eigene Herkunftsfamilie vom Nationalsozialismus profitiert hat. Dabei kommen unterschiedliche Strategien der persönlichen Verarbeitung zur Sprache. Während den einen die Energie für aufreibende Auseinandersetzungen fehlt, versuchen andere, ihre Eltern zu entlasten oder brechen mit ihnen. Dabei gibt Wetterau der weitgehend unstrittigen These, dass 68 unter anderem ein Resultat der aufgeschobenen NS-Aufarbeitung gewesen ist, eine neue Wendung. Zwar habe sich die Generation wesentlich um das Aufdecken der NS-Geschichte verdient gemacht, doch „könnte“ sie dennoch auch an der Verdrängung beteiligt gewesen sein. So jedenfalls deutet die Autorin das Engagement gegen den Vietnamkrieg, der leichter zu thematisieren gewesen sei als die in den Familienarchiven eingeschlossene Last der NS-Verbrechen. Die bei solchen Deutungen evidente Gefahr der psychologisierenden Komplexitätsreduzierung umgeht die Autorin, indem sie sich von rein psychologischen Interpretationen distanziert und objektive Realitäten als Politisierungs- und Subjektivierungsfaktoren benennt.

In den folgenden Kapiteln zeichnet Wetterau die Entwicklung der Neuen Linken nach, die sich von der alten Arbeiterbewegung löst, mit Intellektuellen wie Herbert Marcuse zu „neuen Vätern“ und einem neuen „revolutionären Subjekt“ findet, zunehmend mit der Staatsgewalt konfrontiert wird und sich schliesslich in K-Gruppen, antiautoritäre und feministische Initiativen ausdifferenziert. Man erfährt dabei viel Interessantes: Details wie die Statistik von über 300 Demonstrationen allein in Westberlin für das Jahr 1968, Zusammenfassungen der zeitgenössischen Diskurse – etwa die Interpretation des Nationalsozialismus als Faschismus, Fragen der „Propaganda der Tat“ oder diverser „revolutionärer Strategien“ – und jede Menge Reflexionen der Interviewten. So erzählt etwa Rüdiger Safranski von Momenten der „politischen Aufklärung vom Gründlichsten“, einem emphatischen Wir-Gruppen-Gefühl und vom „Charme des Revolutionären“.

Für den Teil der Studie, der den „Familienroman“ der 68er darstellt, funktioniert das Verstricken der biografischen, historischen und deutenden Ebenen: Es entsteht ein informativer Text, der die innere und äussere Entwicklung einer Generation nachzeichnet. Weniger überzeugend erweist sich die Methode jedoch für die Analyse eines Phänomens, das die Autorin in der Einleitung als ausschlaggebend für ihre Untersuchung bezeichnet und an verschiedenen Stellen aufgreift. Es handelt sich um die gesellschaftspolitisch ebenso brisante wie aktuelle Wanderung verschiedener Intellektueller von links nach rechts, die zu irritierenden Gemengelagen führt. Genannt sei etwa die in diversen (der politischen Rechten nahestehenden) Medien vertretene Denkfigur der „kleinen Leute“, die gegen die „Elite“ in Stellung gebracht wird – eine fatal an das Konzept des Klassenkampfes erinnernde Argumentation, die jedoch keineswegs auf die einst von links angestrebte Transformation der kapitalistischen Produktionsweise zielt. Wetterau nennt Horst Mahler, der sich vom APO-Anwalt zum Mitbegründer der RAF und schliesslich zum Anwalt der NPD entwickelte, und Bernd Rabehl als Beispiele für die politische Wende. Rabehl, der einst an der Seite Rudi Dutschkes im SDS wirkte, und zu den Interviewten gehört, sieht das Erbe von 1968 in einem rechten Nationalismus. Um diese argumentative Volte zu erklären, paraphrasiert Wetterau die auf Hannah Arendt zurückgehende Totalitarismustheorie, wobei aber unklar bleibt, welchen Erkenntniswert sie der Gleichsetzung von Rot und Braun beimisst, zumal sie sich mehrfach von ihr distanziert. Angesichts ihrer These von den „unterirdischen Kanälen“, auf denen von den 68ern überwunden geglaubte „spezifische Mentalitäten und ideologische Traditionslinien“ weitergegeben worden seien, hätte eine eindeutigere Bezugnahme klärend gewirkt. Es wird nämlich nie ganz deutlich, ob die nationale Wende des aus der DDR geflüchteten Rabehl nun totalitarismustheoretisch gedeutet wird oder nicht. Klar nachvollziehbar ist lediglich, dass sie auf eine mangelhafte ostdeutsche NS-Aufarbeitung zurückgeführt wird, die trotz konsequenter Entnazifizierung einen ubiquitären Alltagsantisemitismus konserviert habe, der nun wieder zum Vorschein komme. Ob ein solcher Ansatz, der gegenwärtige politische Verhältnisse weitgehend außer Acht lässt, aber schlüssige Antworten auf die Kehrtwende ehemaliger Linker liefert, sei zumindest in Frage gestellt. Denn anders als der im „Familienroman“ zitierte Soziologe Didier Eribon liefert die Autorin keinen Erklärungsansatz für die Verdrehungen, der über die persönliche Entwicklung einzelner Akteure hinausweisen würde. Zwar fallen die Stichworte „Pegida-Volk“, „vulgärer Chauvinismus“ oder „antikapitalistische Ressentiments“, jedoch ohne Anbindung an Aktualitäten, etwa an die Erosion sozialer Sicherheiten, die der Neuen Rechten augenscheinlich Anlass gibt zur Bearbeitung der – national gewendeten – sozialen Frage.

Dennoch enthält Wetteraus Studie auch aufgrund der Auseinandersetzung mit Rabehl und der Neuen Rechten wertvolle Denkansätze gegen Dogmatismus, „Schwarz-Weiss-Denken und die einfache Dichotomie von Richtig und Falsch“. So arbeitet sie etwa überzeugend heraus, wie eine phrasenhafte, linke Begrifflichkeit aufgrund ihrer semantischen Offenheit von rechts gekapert werden kann. Illustriert wird das anhand einer lesenswerten Analyse der latent antisemitischen Untertöne, die sich in antikapitalistische und -imperialistische Debatten mischen konnten. Die Pointe besteht dabei laut Wetterau darin, dass solche neuen Tabus auch in der Neuen Linken nicht diskutiert werden konnten – wie einst die Nazi-Schuldfrage zwischen den Generationen. Ohne dass es explizit formuliert wird, kann Wetteraus Studie damit auch als Beitrag zur Frage nach den Beziehungen gelesen werden, in denen wir leben wollen.

Titelbild

Karin Wetterau: 68. Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2016.
326 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783849811686

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