Wildes Lieben?
Von Emotionalisierungsprozessen zwischen Tieren und Menschen erzählen
Von Susanne Schul
Als in Nicolette Krebitzʼ Film Wild (2016) die junge Frau Ania auf ihrem Weg plötzlich auf einen Wolf trifft, ist sie von seinem Anblick wie gebannt. Die verwilderte Grünanlage am Rand einer Plattenbausiedlung wird nun zur außergewöhnlichen Kontaktzone, weil ein Wildtier den urbanen Raum für sich in Anspruch nimmt. Der Moment der ersten Begegnung zwischen Frau und Wolf wird zeitlich gedehnt, um die ambivalenten Gefühlsregungen einzufangen, die sich mit ihr verknüpfen – Angstschauer, Erstaunen, Faszination und Erregung liegen hier eng beieinander. Wie paralysiert verharrt Ania in ihrer Bewegung, während der Wolf mit einem leisen Winseln sogar noch einen Schritt auf sie zukommt. Er zeigt keinerlei Aggression, aber auch keinerlei Scheu und es kommt zu einem intensiven Blickkontakt.
Es entsteht ein Moment intimer Nähe, wenn der Wolf und die Frau in einem Schuss-Gegenschuss-Verfahren immer weiter aneinander herangerückt werden, bis sie sich in einer Nahaufnahme tief in die Augen zu blicken scheinen. Gleichzeitig wird eine hohe Spannung erzeugt, indem die Atmo zurückgenommen und das beschleunigte Atmen von Tier und Mensch hervorgehoben wird. Kameraführung, Klangwirkung und Schnitttechnik erzählen somit eine gefühlsbetonte Verbindung über die Speziesgrenzen hinweg – und zwar indem sich an die Suggestion von körperlicher Nähe zugleich eine emotionale Nähe knüpft. Ein gemeinsames Innehalten und eine gesteigerte Bewusstheit füreinander werden inszeniert. Doch diese Nähe ist nicht von Dauer, denn gleich darauf verschwindet der Wolf wieder im Wald.
Dieser kurze Augenblick reicht schon aus, um in Ania ein tiefes Begehren zu wecken. Eine Liebe auf den ersten Blick möchte man meinen – was zumindest aus Anias Sicht stimmt. Denn sie will den Wolf wiederfinden, ihn an sich binden und sich nicht mehr von ihm trennen. Das bedeutet allerdings, aus ihren alltäglichen Routinen auszubrechen, und so bekommt Ania etwas Rastloses, das sich gänzlich auf ein wildes Gegenüber ausrichtet. Erzählt wird also ein ‚Wildes Lieben‘ im mehrfachen Sinn: Eine affektive Hinwendung zu einem Wildtier einerseits, das sowohl zum Adressaten menschlicher Gefühle als auch zum Akteur einer intimen Beziehung gemacht wird. Und eine wilde, das heißt normüberschreitende Art zu lieben anderseits, ein emotionales Interaktionsmuster, das sich als machtvoll, hemmungslos und entgrenzend herausstellen wird. Diesem Doppelsinn möchte ich im Folgenden anhand zweier Beispiele – dem spätmittelalterlichen Versroman Friedrich von Schwaben und dem Gegenwartsfilm Wild – ‚nachspüren‘. Dabei soll das Zusammenspiel von individueller Autonomie und Fremdbestimmung, Heimlichkeit und Öffentlichkeit, Einzigartigkeit und Normalisierung im ‚Wilden Lieben‘ zwischen Tieren und Menschen genauer betrachtet werden, wobei sich diese Pole je nach kultur- und medienhistorischem Kontext unterschiedlich verorten lassen.
Von Emotionalisierungsprozessen zwischen Tieren und Menschen erzählen – was heißt das?
Mit der Liebe ist das so eine Sache: Sie setzt sich als komplexer Handlungsvollzug nicht nur aus verschiedenen emotionalen Facetten zusammen, sondern sie wechselt auch ihr sprachliches und außersprachliches In-Erscheinung-Treten im Laufe der Zeiten, Räume und Medien. Demzufolge lässt sich Liebe nicht als eine Konstante und schwerlich als eine Einzelemotion fassen. Stattdessen möchte ich sie als ein Emotionscluster verstanden wissen, bei dem sich unterschiedliche psychische und physische Prozesse sowie Wahrnehmungs- und Handlungsmuster überlagern. In Literatur und Filmen sind Emotionen allerdings stets erzählte Emotionen, die als subjektiv erlebt inszeniert werden, und deren Darstellung von der kulturellen Vermittlung durch das jeweilige Medium abhängig ist. Der historische und soziale Kontext bildet dabei den Rahmen, in dem Emotionen wahrgenommen, gestaltet, artikuliert und mit Sinn versehen werden können.
Während uns eine nähere Bestimmung von Liebe also bereits in menschlichen Beziehungsgefügen herausfordert und diese in Literatur und Film noch zusätzlich immer auf ihre Gestaltung hin zu befragen ist, so erweist sich Liebe in einem Beziehungsgefüge zwischen Tieren und Menschen noch einmal als neu akzentuiert. Zwar erscheint sie auf den ersten Blick als deutlich positiv konnotierte emotionale Hinwendung, tatsächlich knüpfen sich an sie aber ambivalente Gefühlszuschreibungen, die eine genauere Verortung regelrecht einfordern. Denn die Antwort auf die Frage, inwieweit Menschen bestimmten Tieren erstens emphatisch präsentierte Gefühle entgegenbringen und wie diese zweitens in unterschiedlichen Kontexten und medialen Formaten zum Ausdruck gebracht werden, hängt auch davon ab, ob und in welchem Maße sie diesen Tieren ihrerseits eine Empfindungs- und Gefühlsfähigkeit zuschreiben. Tritt ein Tier im Erzählen also nur als Gefühlsventil oder als Effekt um- und abgeleiteter Eigen- oder Ersatzliebe in Erscheinung oder kann es sich auch selbst als Akteur emotionaler Praktiken zeigen? Folgt man John Bergers einschlägigem Essay Warum sehen wir Tiere an?, dann reflektieren sich Menschen im Anblick von Tieren immer auch selbst. Deshalb gilt es im Folgenden zu prüfen, in welchen konkreten Beziehungen Liebe im literarischen und filmischen Erzählen situiert und wie sie zum Ausdruck gebracht wird. Dies geschieht in Literatur in erster Linie durch Sprache, aber auch dort spielt körperliche Expression von Mimik und Gestik eine wichtige Rolle, allerdings auf andere Weise als in der audiovisuellen Vermittlung des filmischen Erzählens.
Die noch jungen Cultural and Literary Animal Studies setzen sich mit derartigen Fragen zur Kontextualität, Historizität und Medialität von Tier-Mensch-Relationen kritisch auseinander. Aus dieser Perspektive sind Tiere stets auch als mediale Tiere zu verstehen, da sie immer in Ordnungen eingebunden sind, welche die Blicke, Wahrnehmungen und Interaktionen organisieren und auf diese Weise auch die Erzählungen um sie und mit ihnen strukturieren. Dabei tritt besonders die Rolle menschlicher und tierlicher Körper als Empfindungs- und Handlungsträger in den Fokus. Auch das fiktionale Erzählen von Liebe zum und/oder vom Tier ist ebenso wie deren individuelle Erfahrung in gesellschaftlich-kulturelle Wertvorstellungen eingebunden. Die Auswahl, Verhandlung und Bewertung von medial vermittelten Tier-Mensch-Beziehungen folgt gesellschaftlich verankerten Präferenzen. Während sich die Liebe zum und/oder vom Tier in modernen Diskursen eng mit Ideen emotionaler Individualisierung verbindet, überwiegt in der Vormoderne ein segmentär-stratifikatorisches Ordnungsmodell, das sich auch in Liebes-Diskursen der Zeit spiegelt. Das bedeutet, Verwandtschaft und Genealogie sowie die Stellung innerhalb der Ständegesellschaft und innerhalb eines christlich geprägten Weltbilds bestimmen die sozialen Wertungen. Diese Ordnungen finden als Erzählmuster auch Eingang in die erzählte Welt und können sowohl bestärkt oder kommentiert als auch unterlaufen oder völlig neu entwickelt werden. So entsteht im Erzählen ein spannendes Experimentierfeld, das unterschiedliche Blicklenkungen auf ‚liebvolle‘ Tier-Mensch-Beziehungen ermöglicht.
„Ich hab ’n Wolf gesehen im Park“: Liebesjagd im Gegenwartsfilm
Damit Ania in der Filmerzählung zu dem wilden Tier, das sie im Park gesehen hat, wieder in Beziehung treten kann, muss sie zuerst einmal die räumliche Nähe zu ihm wiederherstellen. Es beginnt ein Prozess des Suchens, Findens und In-Besitz-Nehmens, in dem sich Ania selbst zur Jägerin macht. Die Erzählung folgt ihrem Erleben dieser Liebesjagd, zeichnet Planung, List, Ausdauer, Kühnheit und Verwirrungen nach, während der Gejagte erst einmal nur in ihrer Erinnerung Bestand hat. Sie versucht mit Geheul Kontakt zu dem Wolf aufzunehmen, verfolgt seine Spuren im Wald und legt tote und lebendige Köder aus, die ihn anlocken sollen – doch alles ohne Erfolg, das Tier bleibt verschwunden. Wie in einem Selbstgespräch berichtet Ania schließlich ihrem schwerkranken Großvater von ihrer Begegnung und wirkt zuerst fast unbeteiligt:
Ich hab ’n Wolf gesehen im Park. Keine Ahnung wie der da hingekommen ist. Ich hab’ noch ’n paarmal geguckt, aber nichts. Ich hab’ ihm Fleisch hingelegt, weil ich dachte, der hat bestimmt was zu Essen gesucht. Das hat er aber nicht angerührt – meinst du, der ist überhaupt noch da, hä? (00:17:40-00:18:30)
Doch bereits im kurzen Erzählen des Ausschau-Haltens, der Lockversuche und der Angst, die Gesellschaft des Wolfs vielleicht entbehren zu müssen, wird deutlich, dass all ihre Gedanken um das Tier und ein Wiedersehen kreisen. Zur Anbahnung dieser Beziehung muss Ania folglich erneut die Initiative ergreifen. Deshalb eignet sie sich das nötige Fachwissen an, um den Wolf durch eine Lappjagd zu erobern. Mit großem Aufwand verhängt sie ein Waldstück mit Stoffstreifen, so dass ein Hindernis entsteht, an dem ihre Beute nicht mehr vorbeizugehen wagt. Und so schafft sie es schließlich, den Wolf zu stellen, zu betäuben und zu fangen. Mit einem Transporter befördert Ania den besinnungslosen Wolf in ihre Wohnsiedlung und schließt ihn in einem engen Zimmer ihrer Hochhauswohnung ein – in ein Liebesgefängnis, dessen Schlüssel sie wie eine Kostbarkeit um ihren Hals trägt. Zuerst beobachtet sie ihren Gefangenen durch ein Loch in der Wand, das sie extra zu diesem Zweck hineingeschlagen hat. Das gibt dem filmischen Erzählen die Gelegenheit, von der Blickenden hin zum Objekt ihres Blicks umzuschneiden, so dass deutlich wird, wie der Wolf auf ungewohnt engem Raum ungeduldig hin- und herläuft. Gebannt von dem, was sie sieht und hört, verharrt Ania an dieser Wand, die nun zugleich trennend und verbindend wirkt. Die ZuschauerInnen teilen ihre machtvolle Blickposition, was die Asymmetrie dieser Beziehung noch betont. Es entsteht also ein Miteinander von Dominanz und Affektion, wenn Ania mit ihrem Liebeswerben beginnt.
Zuerst versucht sie das wilde Tier durch Ansprache und Fürsorge für sich zu gewinnen, doch ist sie sich auch der Bedrohung bewusst, die von ihm ausgehen kann. Deshalb trägt sie Schutzkleidung und Helm, als sie sich zur ersten Fütterung in das Zimmer wagt. Doch während sie zwischen vorsichtiger Distanz und begehrter Nähe changiert, gewinnt ihre Sehnsucht nach dem Zusammensein die Oberhand. Ania vergisst jede Achtsamkeit, setzt den Helm ab und begibt sich auf Augenhöhe mit dem wilden Tier, um eine Verbindung aufzubauen. Doch sie unterschätzt seine Schnelligkeit und Kraft. So verletzt sie der Wolf bei einem plötzlichen Fluchtversuch, bringt ihr Kratzer und eine Wunde bei und sie kann ihn nur mit Mühe im Zimmer halten. Von einer Liebe zu erzählen, bringt hier also deutliche Widersprüche ans Licht, während sie gegenwärtig eigentlich als besonderer Ausdruck von Innerlichkeit, Spontanität und Individualität gilt, soll sie hier planvoll und unter Zwang entstehen.
Das Eingesperrt-Sein bedeutet aber nicht nur für das wilde Tier eine Einschränkung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit, sondern auch Ania beginnt sich von der Außenwelt loszusagen. Der Wolf erhält nun zunehmend – Anias Wahrnehmung folgend – einen eigenen Charakter, ihm wird bewusstes Handeln und werden eigene Empfindungen zugeschrieben. Dabei werden mimischer und körperlicher Ausdruck, die dem Wolf als Kommunikationsmerkmale zu eigen sind, durch Montage zusätzlich mit emotionaler Valenz aufgeladen, um seine Erfahrungen und Bedürfnisstrukturen sichtbar zu machen. Doch während Ania von einer leidenschaftlichen, auch körperlichen Hingabe träumt, führt ihr Begehren bei ihrem Gegenüber nicht zu der gewünschten Erwiderung – ganz im Gegenteil. Der Wolf passt sich eben nicht widerstandslos in Anias Lebens- und Gefühlswelt ein. Er widersetzt sich der Gefangenschaft, wirft sich gegen die Wand und durchbricht sie. Mit gefletschten Zähnen, angelegten Ohren, geneigtem Kopf und gekräuselter Schnauze begegnet der Wolf Ania, erneut in einem Schuss-Gegenschuss-Verfahren vermittelt, in deutlicher Droh- und Angriffshaltung, die durch sein Knurren noch unterstrichen wird. Nun nimmt das wilde Tier seinerseits die junge Frau, die in unterwürfiger Pose auf dem Boden liegt, um keinen Anreiz zum Angriff zu bieten, genau in Augenschein. Aus Angst flieht sie aus der Wohnung und kehrt erst am nächsten Morgen zurück. Erst jetzt wird der Wolf, da er sich nun frei in der Wohnung bewegt, zum Mitwirksamen in dieser Beziehung gemacht und die Aufnahme- und Schnitttechniken setzen vermehrt beide Akteure gemeinsam ins Bild. Im Interagieren wird somit ein neuartiges Erleben der Beziehung erzählt, das sich sowohl an Handlungsroutinen zwischenmenschlicher Paarbeziehungen orientiert, diese aber auch zu unterlaufen und zu überschreiten sucht. Es entsteht eine Spannung zwischen Vertraulichkeit und Gefährdung, zwischen Unterordnung und Widerstand sowie zwischen Traum und Wirklichkeit – Positionen, zwischen denen sich Frau und Wolf hin und her bewegen.
Ein neuer Morgen bricht an und die Gefühle aus Ania heraus. Sie wirft sich weinend aufs Bett, Bestürzung und Frustration der unerwiderten Liebe im Schluchzen zum Ausdruck bringend, während der Wolf auf dem Balkon nach der langen Gefangenschaft Sonne und Wind sehnsüchtig in sich aufnimmt. Wieder beobachtet sie ihn und dabei fällt auch auf ihr Gesicht erstmals ein warmer Lichtkegel, der im Kontrast zur tristen und engen Hochhausatmosphäre steht. Freiheit scheint mit Licht und Luft Einzug in die Beziehung zu halten und so ermöglicht der Ausbruch des Wolfs nun die von ihr erhoffte Annäherung. Die Filmerzählung widersetzt sich damit erneut normierten Darstellungskonventionen, indem sie eine leidenschaftliche und sinnliche Begegnung zwischen Tier und Mensch in Szene setzt. Mit einem langsamen Schwenk über die bloßen Beine der jungen Frau im Bett wird ein begehrender Blick nachgezeichnet, während der Wolf zuerst noch zu ihren Füßen ruht und sich ihr dann tatsächlich nähert. Die Auflösung beider Körper in Ausschnitte schafft dabei gemeinsam mit Montagen zum einen Leerräume, die die ZuschauerInnen selbst füllen können, während längere Einstellungen zum anderen eine gewisse Dauerhaftigkeit der Nähe inszenieren. Menschliche und tierliche Körper-Bilder werden somit als Träger und sensibles Medium des Gefühls ausstellt. Dies geschieht nicht nur primär visuell, sondern die Szene erscheint als umfassende Erfahrung der Nahsinne – von Geruch, Geschmack und Berührung. Eine Liebeserklärung bleibt zwar aus, sie wird jedoch durch den einsetzenden Gesang von James Blake übernommen, der im Song Retrograde ihre Zweisamkeit und Unabhängigkeit aufruft: „I’ll wait, so show me why you’re strong/ Ignore everybody else,/ We’re alone.“
Im Folgenden wird eine Verbundenheit erzählt, die sich im Teilen des Lebensraums, im gemeinsamen Essen und Schlafen sowie in wiederholten Berührungen äußert. Doch diese führen nicht zur Domestizierung des wilden Tieres, sondern vielmehr zur Verwilderung der jungen Frau, die aus den ihr bekannten Ordnungsmustern ausbricht. Während einerseits ihre äußere Erscheinung verwahrlost, sie ihren Job vernachlässigt und hierdurch in finanzielle Schwierigkeiten kommt, zeigt sie anderseits eine neue Selbstmächtigkeit, die sie erstmals befähigt, sich und ihre eigene Meinung zu vertreten. Die Abkehr vom Vertrauten, der Verlust und das Neu-Erfinden des Selbst kommen zusammen und Ania betont: „Ich will aber gar nicht mehr so sein, wie ich war!“
Schon bald wecken aber Anias Verwahrlosung, der Gestank und die lauten Geräusche, die aus der Wohnung kommen, das Misstrauen der Kollegen und Nachbarn, so dass sie gemeinsam mit dem Wolf aus dem zu eng gewordenen Hochhausappartement entflieht, zunächst auf das Dach und dann aus der Plattenbausiedlung. Eine menschenleere Industrielandschaft eines stillgelegten Tagebaus wird zum gemeinsamen Rückzugsraum, in dem erneut der Verweis auf ihre Übernahme tierlichen Verhaltens und auf die leibliche Dimension des Fühlens, Berührens und Überlebens als zentrale Emotionszeichen in den Fokus treten. Die Erzählung lässt den weiteren geteilten Lebensentwurf aber bewusst offen.
„ain hierß leit mir ain luoder“: Liebesjagd im spätmittelalterlichen Versroman
Ein derartiges Ausloten von Grenzbereichen von menschlichen und tierlichen Begegnungs- und Beziehungsgefügen kommt auch im spätmittelalterlichen Versroman Friedrich von Schwaben in den Blick. Der Versroman, dessen Entstehungszeit zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert angenommen wird, ist anonym und äußerst variabel in sieben Handschriften aus dem 15. Jahrhundert überliefert. Auch im Versroman werden die erste Begegnung zwischen Tier und Mensch, der Blickkontakt und die daraus resultierende Liebesjagd auf besondere Weise in Szene gesetzt. Gleichzeitig bietet die hier entwickelte Verwandlungsgeschichte noch einmal ganz andere Erzählmuster an. Gleich zu Beginn ist es aber eine Hirschjagd, die den Lebensentwurf des Helden und den Verlauf der Geschichte bestimmen. Friedrich, der jüngste dreier Söhne des kürzlich verstorbenen Herzogs von Schwaben, schildert seine Begegnung mit dem Hirsch so:
„ain hierß leit mir ain luoder/ dâ ich den ward sichtig an,/ dâ bat ich meine dienstman,/ si liessen mich nâch im kêren./ deß tetten si mich geweren./ ich kêrt nâch dem spor.“ („Ein Hirsch hat mich gelockt. Als ich den erblickte, bat ich meine Dienstleute, mich ihm nachfolgen zu lassen. Das gewährten sie mir. Ich folgte der Spur.“ V. 800–805)
In der Art, wie der junge Fürstensohn seinem Bruder von dieser außergewöhnlichen Jagd erzählt, wird bereits deutlich, dass sich das Verhältnis von Mensch und Tier, von Jagendem und Gejagtem sowie von Begehrendem und Begehrtem in dieser Erzählung wiederholt verkehren wird. Denn nicht der Fürstensohn ist der Jäger, sondern das wilde Tier legt ein „luoder“ (V. 800) für eine menschliche Beute. Dabei spart Friedrich in seinem Bericht jedoch bewusst aus, dass sich dieser Hirsch bei näherer Betrachtung als eine verzauberte Prinzessin entpuppte und dass er sich Hals über Kopf in sie verliebt hat – aber das muss ein Geheimnis bleiben. Eigentlich verlief die Geschichte so: Die Verfolgungsjagd, zu der Friedrich durch den Hirsch gereizt wurde, führte ihn nicht nur in die Isolation, denn er bestand ja darauf, ihm allein nachzueilen, sondern er verlor in den Tiefen des Waldes auch schnell jede räumliche und zeitliche Orientierung. Unvermittelt traf er dort auf eine Burg, deren Tore weit offen standen. Er betrat sie auf der Suche nach einer Herberge, fand dort allerdings keinen einzigen Burgbewohner. Der Hof wirkte verlassen, obwohl Friedrich Tisch und Bett so sorgfältig für sich bereitet vorfand, als sei er erwartet worden. Dies erweckte bei ihm zugleich Faszination und Furcht, gleichwohl zog er sich in eine Kemenate zum Schlafen zurück. In der Nacht wurde er aber nun von Prinzessin Angelburg geweckt, die ihm offenbarte, sie habe ihn in Hirschgestalt in die Burg gelockt.
Den Fluch, unter dem sie steht, und die Bedingungen ihrer Tier-Mensch-Verwandlung erzählt die Prinzessin nun ausführlich, um ihn um seine Hilfe bei ihrer Errettung zu bitten. Währenddessen bleibt sie in der Dunkelheit der Kemenate für Friedrichs Blick verborgen. Gemeinsam mit zwei Gefährtinnen wurde die unschuldig verfluchte Königstochter von ihrer Stiefmutter und deren zauberkundigem Liebhaber dazu verurteilt, tagsüber als Hirsche durch den Wald zu streifen und nachts in ihrer menschlichen Gestalt auf ihre Erlösung zu harren. Ihre Stiefmutter Flanea hat die Bedingungen ihres Tier-Werdens genau formuliert:
si sprach: „Angelburg, sô solt du immer sein,/ du und die zwuo junckfrauwen dein,/ drî hierß in ainem wald bei tag/ und luofen holtz, feld und hag,/ untz die vinster nacht ane gaut:/ deß nachtes sölt ir haben raut/ in ainem hûß, trincken und essen,/ und an schlauf nichtz sol werden vergessen./ und eines ieden morgen vil fruo,/ sô solt ir nicht mê haben ruo,/ zuo stund wider kêren zuo holtz/ in drîen hirs weise vil stoltz/ und nimmer mêr erloest werden/ in wälden noch ûf der erden,/ denne von ains rechten fürsten kind.“ (Sie sagte: „Angelburg, dann sollt ihr, du und deine zwei Hoffräulein, tagsüber drei Hirsche in einem Wald sein, und ihr sollt Wald, Feld und Gebüsch durchlaufen, bis die dunkle Nacht beginnt. Nachts sollt ihr davon in einer Burg befreit sein, Trank und Speise sowie Schlaf sollen dort nicht fehlen. Und jeden Morgen in der Frühe sollt ihr keine Ruhe mehr haben und sofort in Gestalt dreier stolzer Hirsche in den Wald zurückkehren. Ihr sollt nie mehr weder in den Wäldern noch irgendwo auf der Erde erlöst werden außer von einem rechtmäßigen Fürstensohn.“ V. 483–497).
Nur in ihrer Hirschgestalt kann Angelburg also die Initiative ergreifen, sich aus der Burg entfernen, einen adeligen Erretter erwählen, ihn zu sich locken und in ihm trotz eines Sehtabus einen Erlösungswillen wecken. Ihre Verwandlung in ein Tier erweist sich damit als ihre zentrale Ressource, denn in ihrer Tiergestalt zeigt sich Angelburg als äußerst agil und handlungsfähig. Gleichzeitig wird der Rahmen ihres Agierens aber immer durch die Bedingungen des Fluchs begrenzt. Diese spätmittelalterliche Verwandlungsgeschichte lotet somit ganz unterschiedliche Erzählmuster von erlebter Emotion, Selbstermächtigung und gesellschaftlichen Normen aus, da die Gestaltwandlung auch immer wieder geltende Spezies- und Geschlechterordnungen ins Wanken bringt.
Als Erlöser kommt, wie es die Stiefmutter festlegt hat, einzig „ains rechten fürsten kind“ (V. 497) in Frage. Angelburgs Wahl fällt auf Friedrich, da er für seine Jagdkünste im ganzen Land bekannt ist, und nun gilt es ihn mit ihrer Erzählung dazu zu bewegen, den Fluch zu brechen. Dieser ist an komplexe Bedingungen gebunden, denn der Held muss dem Hirsch nicht nur immer wieder nachjagen und die Burg erreichen, sondern auch an 30 bestimmten Nächten innerhalb eines Jahres mit der verzauberten Prinzessin beieinanderliegen, ohne ihre Unschuld zu gefährden und ohne sie je zu sehen. Somit bleibt der Blickkontakt auf ihre Hirschgestalt beschränkt. In ihrem Tierkörper ist Angelburg zwar in ihrer verbalen Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt, aber er erlaubt dafür die visuelle Affizierung des Fürstensohns, die ihn zur Liebesjagd verlockt. Der Hirsch gewährt somit den sichtbaren, tätigen und beziehungsschaffenden Leib und wirkt als Bedingung und handlungstreibende Kraft im Tier-Mensch-Kontakt, wie es eine Illustration der Heidelberger Handschrift in Szene setzt:
Der visuellen Gesetzmäßigkeit des Begehrens folgend kreuzt der Hirsch bewusst den Weg der Jäger. Mit dem Blick über die Schulter hält er die Verbindung zum Objekt seines eigenen Begehrens – dem Fürstensohn – aufrecht, während sich das wilde Tier selbst als flüchtende Beute ausgibt. Obgleich die Bildüberschrift noch Friedrichs intentionales Handeln betont, tritt im Zusammenwirken von Text und Bild die Handlungsfähigkeit des Tiers in den Vordergrund. Die tradierten Posen der mittelalterlichen Jagdikonografie werden im Bild genutzt, um eine doppelte Grenzüberschreitung zu inszenieren, die sowohl die Asymmetrie der Machtstrukturen von Mensch und Tier als auch von Mann-Frau-Beziehungen akzentuiert. Denn mit der tierlichen Gestaltwandlung Angelburgs geht gleichzeitig auch ein Geschlechtertausch einher. Der „hierß“ ist eindeutig als ein geweihtragendes, männliches Tier markiert, so dass sich konkurrierende Begehrensformen überlagern. Angelburg wird auf diese Weise kurzzeitig als tierlicher und männlicher sowie als aktiv begehrender und handelnder Part in diesem Beziehungsmodell inszeniert. Emotionale und motorische Ansteckung wirken über die Spezies- und Geschlechtergrenzen hinweg, denn Friedrich kann der Anziehungskraft nicht widerstehen, die der Hirsch auf ihn ausübt. Auch hier reicht ein geteilter Blick aus, um bereits eine Beziehung zu stiften.
Nachdem Angelburg ihre Geschichte zu Ende erzählt hat, erklärt sich Friedrich sofort zur Hilfe bereit, doch die Prinzessin hält inne und betont noch einmal die Schwere der Aufgabe und die Gefahr, die bei einem Scheitern für sie besteht – denn ein noch schlimmerer Fluch wäre die Folge. Trotzdem übernimmt Friedrich den Erlösungsauftrag und sieht sich nun damit konfrontiert, dass die vier wichtigsten Wertungskompetenzen – sehen, hören, sprechen und berühren – in den verschiedenen Begegnungen zwischen ihm und Angelburg voneinander getrennt werden. Friedrichs Liebesjagd nach dem Hirsch macht eine exklusive Nähe erst möglich, die ihren Ausdruck in so vielen „schoenen worten“ (V. 732) findet, dass deren Wiedergabe den Rahmen der Erzählung sprengen würde, wie der Erzähler mehrfach betont. Entgegen der höfischen Konventionen ergreift Angelburg die Beziehungsinitiative und beteuert bereits in der zweiten gemeinsamen Nacht „von hertzen bin ich dir holt“ („Ich habe dich von Herzen lieb!“; V. 766), kurz bevor sich die beiden „mit lieb und mit laide“ („mit Zuneigung und Schmerzen“; V. 790) trennen müssen. Während der nun folgenden gemeinsam verbrachten Nächte bleibt aber auch ein körperliches Begehren trotz des Keuschheitsgebots nicht gänzlich unerfüllt, denn Angelburg und Friedrich verbringen die Nächte „in lieb“ (V. 910) und pflegen „froede“ (V. 957) miteinander. Sie umarmen sich wiederholt und trösten einander mit „ir baider mund“ (V. 959), was sowohl an die ‚liebevollen‘ Gespräche als auch an Küsse denken lässt. Doch diese Einigkeit wird bald gestört, denn Friedrich erliegt der Versuchung. So riskiert er, krank vor Liebe, schließlich einen Blick auf die schlafende Angelburg und so scheitert an seinem Mangel an Beherrschung der erste Erlösungsversuch. Wie Angelburg angekündigt hatte, folgt ein zweiter Fluch, so werden sie und ihre Begleiterinnen in Tauben verwandelt und an einen entlegenen Brunnen entrückt. Um die Frauen nun zu erlösen, muss sich der Held einer langen und an Entbehrungen wie Abenteuern reichen Suchfahrt stellen – und begibt sich dabei „uff der liebe spor“ („auf die Spur der Liebe“; V. 7201).
Der Spur der Liebe bin auch ich gefolgt und der Frage nachgegangen, wie Tiere und Menschen in zwei Beispielen literarisch und filmisch erzählter Kommunikations- und Interaktionsprozesse zu Liebessubjekten und/oder Liebesobjekten ‚gemacht‘ werden. Dabei standen den Ansätzen der Cultural and Literary Animal Studies folgend auch Kontextualität, Historizität und Medialität der jeweiligen Darstellung im Fokus – konkret: Wie verleihen die Erzählungen einer artenübergreifenden Liebe Ausdruck und Sinn? ‚Wildes Lieben‘ war dabei in doppelter Weise zu verstehen, zum einen in Bezug auf die tierlichen Akteure, auf deren Wildheit sich das ‚liebevolle‘ Begehren ihrer menschlichen Jäger zuerst bezieht und die es zu fangen und einzuhegen gilt. Zum anderen verhandeln beide Erzählungen aber auch wilde Formen zu lieben, die ein artübergreifendes In-Beziehung-Treten annehmen kann, so dass sowohl Intimität als auch Verwilderung, Kontrollverlust und Ausbruch aus den gewohnten Ordnungen in den Blick kamen. Das mediale Zusammenspiel von einer zur Schau gestellten ersten Begegnung, Blick- und Körperkontakt sowie geteilten Lebensräumen hat sich als zentraler Bestandteil des zueinander In-Beziehung-Tretens in Literatur und Film herausgestellt. Gleichzeitig sind an dem medialen Prozess der Herstellung von Liebe aber nicht nur die Liebenden selbst beteiligt, sondern auch ein Publikum, das den Spuren der Liebe nacheilt, sich somit selbst auf eine außergewöhnliche Liebesjagd begibt, denn ‚Wildes Lieben‘ kreuzt sich hier mit einem ‚wilden Erzählen‘ und das will verlocken, herausfordern, irritieren und verwandeln.
Die Analysen und Thesen dieses Essays vertieft Susanne Schul in ihrem Habilitationsprojekt „Humanimale Ästhetik. Semantik und Narrativik ästhetischer Tier-Mensch-Relationierungen“.
Literaturverzeichnis
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Wild, Deutschland 2016 – Regie und Buch: Nicolette Krebitz. Kamera: Reinhold Vorschneider. Schnitt: Bettina Böhler. Musik: Terranova, James Blake. Mit Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender, Saskia Rosendahl. Gefördert von Film- und Medienstiftung NRW, Mitteldeutsche Medienförderung, DFFF. Drehbuchentwicklung unterstützt durch die FFA. Produktionsfirma Heimatfilm. Verleih: NFP, 97 Minuten. Ich danke der HEIMATFILM GMBH + CO KG und Christian Hüller für die Bereitstellung der Filmbilder und für die Übertragung der Bildrechte.
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