Von der Geistesgegenwart

Roger Willemsen liest in „Wer wir waren“ unserer Zeit die Leviten

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Dichter, schrieb Elias Canetti am 12. August 1981 an Roger Willemsen, haben die Aufgabe, Zeugen zu sein, die „unseren Unverstand und unser Elend bewahrt haben“ und die sich gegen den Untergang zur Wehr setzen. Roger Willemsen hat sich gewehrt, bis zuletzt, auf seine eigene, einfallsreiche Art. Im Sommer 2015 arbeitete er an einem Essaybuch mit dem Titel Wer wir waren, einer Betrachtung der Gegenwart aus der Sicht der Nachgeborenen. Als er von seiner Krebserkrankung erfuhr, brach er die Arbeit ab. Einblicke in das Schreibvorhaben vermittelten seine letzten öffentlichen Reden, am 28. Juni 2015 in Düsseldorf, am 24. Juli dann auf dem Gutshof Landhof. Aus beiden Reden hat Insa Wilke, die schon ein vorzügliches Werkstattbuch über Willemsen im S. Fischer Verlag herausgegeben hat, ein Nachlassbuch gemacht. Es ist ein melancholisches Vermächtnis, scharfsinnig und zugleich weitsichtig.

Roger Willemsen hat die Lektüre des Buches sozusagen in seinem Titel vorgegeben: „Nachzeitig werde ich schauen, aus der Perspektive dessen, der sich seiner Zukunft berauben will, weil sie ihn schauert, im Vorauslaufen zurückblickend, um sich so besser erkennen zu können, und zwar in den Blicken derer, die man enttäuscht haben wird.“ Auch wir lesen von einem, der leider aus dem Leben verschwunden ist. Von einem, der seine Zeit vielfach durchleuchtet hat. Willemsen ist ein Moralphilosoph, der die Welt beschreibt, wie sie ist – und nicht ein Moralist, der sagt, wie sie sein soll. Er war ein mit allen Wassern gewaschener Germanist, ein multimedialer Zeitkritiker, Autor von Erzählungen und Musikprogrammen, von Fernreisebüchern und politischen Bestsellern sowie Moderator der populären Fernsehsendung „Willemsens Woche“.

Willemsen zählt zu der Generation der Wirtschaftswunderkinder, die mit der Macht der Verhältnisse groß geworden sind und sich dann, nachdem Schluss mit lustig war, über die „Entmündigung“ dieser Verhältnisse wunderten, die noch „Politische Vernunft“ oder „System“ genannt wurden, als es ihnen längst an Imagination und Ideen fehlte. Am Ende der Utopie hat die Zukunft, so argumentiert Willemsen, keine Zukunft mehr, weil sie als Ressource knapp geworden ist.

Trauer müsste diese Zukunft tragen, und das erkennt Willemsen an den Kontaminierungen der medialen Welt-Bilder durch Untergangsszenarien in Politik und Kultur, deren Katastrophalität aber wegretuschiert wird durch die freundlichen Apostel, die uns eine Zukunft versprechen, in der wir „sicherer, gesünder, freier, friedlicher leben werden“ als bisher. Beliebt seien zirkuläre Zukunftsbilder, Wiederholungen von komfortablen Versprechungen von dem, was auf uns zukommt, während lineare Zukunftsbilder uns eher langweilen oder abschrecken würden, seien es Lebensräume, Migrationsbewegungen oder Klimaentwicklungen. Wir sind gut beraten, mit Willemsen die Halbwertszeit prominenter Prognosen zu überprüfen. Beispiele: Kaiser Wilhelm II. gab 1904 keinen Pfifferling auf das Automobil und setzte auf das Pferd. Aufs falsche Pferd setzte auch Harry M. Warner, Chef der Warner Brothers, 1927: „Wer zum Teufel, will denn Schauspieler sprechen hören?“ Oder Thomas Watson, CEO von IBM, 1943, der keinen Grund darin sah, „warum jeder einen Computer zu Hause haben sollte“.

Wenn die so fabrizierte Zukunft immer schneller auf uns zukommt, bedarf es der ruhigen Betrachtung, jenseits von „organisierter Abwesenheit“, abseits vom Selfie, frei von „autoerotischer Vervielfältigung“. Willemsen wirbt für eine Allianz von Wissen und Gefühl, will sich vor überbordender Empathie vorsehen, äußert Unbehagen an Überempfindlichkeit und Political Correctness-Zwängen. Dagegen setzt er eine Geistesgegenwart, die verweilt, auch wenn es nicht mehr schön ist, und den Willen zu einer Vergegenwärtigung, bei der es auf Erkenntnis und Erfahrungswissen statt auf Information und Datenkonfetti ankommt. Kein Zweifel, Roger Willemsen ist ein Zeuge, der den Unverstand unserer Zeit aufzeichnet und der mit Canettis Worten in der Zukunft das sieht, was „wichtiger und würdiger wäre“.

Titelbild

Roger Willemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede.
Hrsg. v. Insa Wilke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
60 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972856

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