Goethe als Mitläufer

W. Daniel Wilson zeigt in „Der Faustische Pakt“, wie die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich gut überleben konnte

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bevor W. Daniel Wilson in seiner Untersuchung zur Geschichte der Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich zum Fazit kommt, wird lediglich an einer Stelle und wie nebenher deutlich, was die moralisch und auch historisch klügste Alternative zum „Faustischen Pakt“ gewesen wäre: die Selbstauflösung der privaten Vereinigung, mithin die konsequente Trennung im Geiste des Namensgebers vom Barbarentum des NS-Regimes, wie es einige (wenige) andere Institutionen vorexerziert hatten.

In immer neuen Entwicklungsstufen führt der in London lehrende Germanist US-amerikanischer Herkunft die Binsenweisheit vor: Wer sich mit dem Teufel einlässt, gerät unwiderruflich in Teufels Küche. Dafür ist Wilson tief in die Archive gestiegen, hat den offiziellen Briefverkehr der Goethe-Gesellschaft und die privaten Briefe der Hauptbeteiligten (hier besonders: Julius Petersen, Hans Wahl und Anton Kippenberg) studiert und ist schließlich zu einem unerbittlichen Urteil gelangt: „Sie verbreiteten einen entstellten Goethe“, begingen eine eklatante „Verletzung der Satzung“ und verrieten als durchaus angesehene Philologen die Prinzipien ihrer Wissenschaft. Ja, Wilson setzt noch eins drauf und rückt „die Amtsträger der Goethe-Gesellschaft in bedenkliche Nähe der allerdings geheimen Vorbereitung zum Völkermord“.

Für alle seine Behauptungen liefert er Belege und Argumente. Ein echtes Entscheidungs-Dilemma, welches darin bestanden hätte, durch eine freiwillige, also „weiche Gleichschaltung“ die Übernahme der Gesellschaft durch NS-Instanzen zu verhindern, lässt er nicht gelten. Vielmehr hätten sich die Spitzenvertreter der Goethe-Gesellschaft, allen voran der Präsident und notorische Antisemit Gustav Roethe (1859-1926), schon in der Weimarer Zeit als republik- und also demokratiefeindlich profiliert und damit eine bedenkliche Nähe zur nationalen Rechten gezeigt. Nach 1933 stellt dann gerade die Beliebtheit Johann Wolfgang Goethes und damit der Gesellschaft unter bildungsbürgerlichen Juden die Goethe-Gesellschaft vor ernste Probleme. Einerseits wollte man die jüdischen Mitglieder, die vor allem auch im Ausland zahlreich waren, als Beitragszahler und Spender nicht verlieren. Andererseits verlangten die teils massiven Gleichschaltungsforderungen des Regimes vom Präsidium der Gesellschaft immer neue Kompromisse, denen der für Goethes Selbstverständnis so fundamentale Humanismus schließlich zum Opfer fallen musste.

Wilson dokumentiert akribisch den Eiertanz der Leitung, die zwar zum einen geschickt das typische Kompetenzwirrwarr der NS-Herrschaft für sich zu nutzen weiß, sie aber zu immer groteskeren Winkelzügen zwingt. Dazu gehört etwa, dass man gegen die absurden Anschuldigungen der Ludendorff-Clique, „Goethe als Freimaurer habe als Mitwissender den ‚Giftmord‘ an Schiller durch den Leibarzt des Herzogs geduldet“, die Unterstützung des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels sucht, der selbst kurz vorher noch in seinem Tagebuch Goethe als „politisch charakterlos“ geschmäht und notiert hatte: „Weg damit“ (5.7.1935), nun aber nach einem deutlichen Kurswechsel in dem internationalen Ansehen des Dichters ein probates Instrument der Außenpolitik sehen will. So rutschte der Verein in ein verhängnisvolles gegenseitiges Geben und Nehmen, bei dem die weltfremden Gelehrten in Weimar glauben mochten, zu den Akteuren einer Kulturpolitik zu gehören, die längst nach den Regeln einer Verbrecherbande funktionierte.

Tatsächlich hatte auch die Goethe-Gesellschaft inzwischen eine weitere Pirouette im „Überlebenskampf“ gedreht und, nachdem sie ihre jüdischen Mitglieder zum Austritt gedrängt und einige Alibi-Nazis zusätzlich aufgenommen hatte, nunmehr aus dem „Weltkind“ einen „Deutschen Goethe“ gezimmert, der zum Vorreiter des Nationalsozialismus und zum Wegbegleiter wurde ausgerechnet jener „schwarzen Gesellen und braunen Kameraden, die für die innere Befreiung Deutschlands sich zu opfern bereit waren“. Diese Parole des Präsidenten Petersen anlässlich der Jubiläumsfeier 1935 nennt Dieter Borchmeyer heute „eine der hanebüchensten Perversionen, die je einem Germanisten in den Sinn“ gekommen ist. Genüsslich zitiert Wilson auch seinen Kollegen Ehrhard Bahr, für den die Rede den Beweis für die „Selbstnazifizierung der Goethe-Gesellschaft“ darstellt.

Im Besonderen nimmt es Wilson dem Insel-Chef Kippenberg, der eng mit Stefan Zweig befreundet war, nicht ab, dass dieser sich bei seinem Lavieren keineswegs wohl gefühlt habe. Bei dieser Einschätzung streift das Buch jedoch bisweilen die Nähe zum Pamphlet. „Das ‚Führerprinzip‘ und den ‚Arierparagraphen‘ realisierte Kippenberg auch ohne Satzungsänderung“, stellt der streitbare Autor apodiktisch fest,  erwähnt aber gleichzeitig, dass Kippenberg in einer Straßburger Festrede 1943 den jüdischen Verleger Salomon Hirzel als „geistigen Ahnherr der Goethe-Gesellschaft“ lobte. An anderer Stelle räumt er ein, dass bei der Auswahl von Texten für die diversen Publikationen der Gesellschaft „für Wahl und Petersen – anders als bei fanatischen Antisemiten – sowieso die Qualität der Arbeit Vorrang vor den (unbekannten) ‚Prozenten‘ jüdischen ‚Blutes‘“ hatte. Auch der zehnwöchigen Gestapo-Haft des Vizepräsidenten Eduard Spranger steht er etwas hilflos gegenüber, wenn er behauptet: „Aus der Gestapo-Haft kann keine Opposition gegen das Regime herausgelesen werden.“ Wo er Schweigen konstatiert, sieht er kein moralisches Versagen, sondern Schuld. Die Lauterkeit der Beteiligten kann er allerdings lediglich aus schriftlichen Quellen erschließen, wobei wir Nachgeborene uns naturgemäß in einer komfortablen Situation befinden.

In seinem Schlussurteil greift Wilson daher auch zu einer etwas vagen Metapher: „Wie ist die Goethe-Gesellschaft in der NS-Zeit zu beurteilen? Helles steht neben Dunklem, ein Janus-Gesicht wie bei Goethe auch. Zwar blieb sie – auch wegen der hinhaltenden Strategien der Präsidenten Petersen und besonders Kippenberg – relativ selbständig. Aber diese verhältnismäßige Autonomie war Teil eines perfiden Faustischen Paktes: Die Gesellschaft wurde in die Ideologie, Kulturpolitik und Propaganda des Regimes eingebunden.“

Auch in seinen gelegentlichen Seitenhieben auf die neuere Forschung bietet das Buch viel Diskussionsstoff und darüber hinaus Anschauungsmaterial für den aktuellen Umgang unserer Gesellschaft mit Unrechtsregimen in aller Welt.

Titelbild

W. Daniel Wilson: Der Faustische Pakt. Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich.
Mit zahlreichen Abbildungen.
dtv Verlag, München 2018.
368 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281669

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