Ein Gedicht in Prosa

Mit Andrea Winkler im Dorf der Poeten

Von Sarah MausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Maus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Die Frau auf meiner Schulter greift Andrea Winkler (*1972) ein Thema auf, das bereits in ihrem 2010 erschienenen Roman Drei, vier Töne, nicht mehr zentral war: Es geht um den Umgang mit Verlust und die Psychologie des Abschieds. Die Österreicherin nähert sich der Thematik mit großer sprachlicher Sensibilität und Poesie, sodass sich ihr neuer Roman fast wie Lyrik liest.

Sich in komplexen sprachlichen Arabesken ergehend, lässt Winkler die Protagonistin, Martha, in tagebuchartigen Episoden ihren Rückweg in den Alltag beziehungsweise ihre Auszeit davon schildern. Nach einem schweren Verlust hat die junge Frau die Fähigkeit verloren, ihr tägliches Leben wie gewohnt zu bestreiten, und flüchtet sich nun in ein abgelegenes Dorf, in dem sie Ruhe und innere Klarheit zu finden hofft. Dort lebt sie, solange ihre Ersparnisse es erlauben, in einem verlassenen Haus in den Tag hinein.

Die fast geisterhafte Präsenz von Friedrich, dem Vorbesitzer des Hauses, bezieht Martha von Anfang an in ihren Alltag im Dorf und ihre eigene Gedankenwelt mit ein. Nach und nach tauchen auch reale Personen auf ihrer selbstgeschaffenen Insel auf, die ihr alle insofern ähnlich sind, als dass auch sie irgendwie den Zugang zu ihrer alltäglichen Lebenswirklichkeit verloren haben:

Katharina, die Schauspielerin, hat nach einer schweren Erkrankung nicht nur ihr Engagement, sondern auch zahlreiche soziale Kontakte verloren. Olenka, die als Kurgast und hoffnungslose Junggesellin ins Dorf gekommen ist, hat nun Angst, es wieder zu verlassen, und der einheimische Georg, in dessen trister Geschäftsauslage einzig ein Sessel aus Papier steht, scheint gemeinsam mit seinem Heimatdorf zum Stillstand gekommen zu sein. Sie alle begegnen einander so, als ob sie sich gesucht hätten, und finden schließlich in Friedrichs Haus zusammen. Dort gehen sie, in Gegenwart ihres unsichtbaren, stummen Gastgebers, ihren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten auf den Grund. Marthas einziger Kontakt zum Leben außerhalb ihrer kleinen Insel der Besinnung ist ihr alter Freund Benjamin, mit dem sie eine Briefkorrespondenz unterhält. Und dann ist da auch noch Josip, der regelmäßig durch ihre Träume geistert und sie inständig bittet, ihn endlich loszulassen.

Mit Die Frau auf meiner Schulter hat Andrea Winkler einen hochgradig artifiziellen Roman geschaffen. Das Dorf am Fluss wirkt wie ein Konstrukt, das eigens für den Stillstand gebaut wurde. Jeder Bewohner scheint ein verkappter Poet zu sein, der sich tiefe Gedanken über das Leben macht, sich gewählt, ja fast schriftsprachlich ausdrückt und die gleiche Art hat, auf Sonderbarkeiten mit einer untypischen Mischung aus wachem Interesse und Verschrobenheit zu reagieren.

„Guten Abend, alle zusammen! Mein Name ist Katharina; offen gesagt, weiß ich nicht, weshalb ich hier bin, aber da es nun einmal geschehen ist, will ich das Beste daraus machen.“ – „Olenka mein Name, Kurgast in der örtlichen Anstalt, unentwegt auf dem Wege der Besserung, darüber hinaus aber in etwas vertrackter Lebenslage.“

Es drängt sich der Verdacht auf, dass Martha in ihrem Dorf der Poeten pausenlos sich selbst begegnet. Alles fügt sich zu gut ineinander, zu vollkommen ist die Freundschaft, die zwischen all den verlorenen Seelen entsteht. Im Laufe der Lektüre wird schnell klar, dass hier keine realistische Geschichte erzählt wird. Es wird viel mehr getanzt. Der Roman ist sprachlich und erzählerisch durchchoreografiert und besticht vor allem durch seine komplexe und differenzierte Ausdrucksweise und seinen poetischen Blick aufs Detail. „Ich spreche Sätze von geringer Bedeutung laut aus, und mir ist, als würden sie im selben Augenblick zu einem Staubkorn, das ganz ergeben durch die Luft treibt.“

Es ist schwer zu sagen, ob Marthas Mitmenschen tatsächlich reden und handeln wie Klone der jungen Frau oder ob Martha selbst ihnen die poetische Ausdrucksweise in ihren Aufzeichnungen in den Mund legt. Fest steht: Die Konstruktion, wie artifiziell sie auch sein mag, funktioniert. Die metaphorische Qualität der Szenen und Bilder erinnert an eine Bühneninszenierung, die zum Teil freistehenden Dialoge mitunter an Dialoge des absurden Theaters – gar nicht so abwegig, wenn man berücksichtigt, dass die Autorin neben Germanistik auch Theaterwissenschaften studiert hat. Das Pathos der Rede steht oft in keinem Verhältnis zur Banalität der Aussage. „Du bist verrückt, Marthi. Verzeih, dass ich dir das nie gesagt habe.“ – „Ich weiß. Ich werde jetzt trotzdem weiter gehen. Fällt dir etwas ein, was wir zum Abschied tun könnten, ohne es als maßlos unpassend zu empfinden?“ Der Leser muss sich auf die Bilder einlassen und die artifizielle Sprache als Kunstgriff anerkennen und schätzen, um an diesem Roman Genuss finden zu können. Leidenschaftliche Emotionen, falls denn überhaupt vorhanden, sind gut versteckt, verborgen durch einen reich verzierten Vorhang anmutiger Eloquenz.

Die Frau auf meiner Schulter lädt zur Entschleunigung und Achtsamkeit nicht nur ein, sondern zwingt die Leser dazu. Der Roman ist mitnichten ein Pageturner und keine leichte Kost für kleine Zeitfenster. Er ist ein Exot, dessen Qualitäten eher in der Form als im Inhalt liegen, und eine Geschichte, um der Sprache Willen erzählt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Andrea Winkler: Die Frau auf meiner Schulter. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018.
190 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059047

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