Außerhalb der bürgerlichen Norm
Großer Wurf: Hans Wißkirchens Doppelbiografie über Heinrich und Thomas Mann
Von Christian Schwandt
In Zeiten der politischen Krise beschäftigen die Russen sich mit Dostojewskij, die Franzosen mit Stendhal oder Balzac und die Deutschen inzwischen mit den Gebrüdern Mann. Fällt die Krise noch in ein Jubiläumsjahr – aktuell der 150. Geburtstag Thomas Manns und sein 70. Todestag –, sind die Publikationen kaum zu überschauen. Eines der bedeutenden Bücher dieses Jahres hat Hans Wißkirchen geschrieben: In der Doppelbiografie Zeit der Magier untersucht er das Verhältnis des berühmten Schriftstellerbrüderpaars zueinander. Bei ihnen wechseln sich Anerkennung, Neid und Unverständnis ab. Als langjähriger Leiter des Buddenbrookhauses, führend in den Heinrich- und Thomas Mann-Gesellschaften, kennt Hans Wißkirchen das umfangreiche literarische Werk der Brüder und die schier unermessliche Sekundärliteratur wie wenige. Aber er bietet auch einiges Neue: Er hat unbekannte Briefe und neue Quellen aus dem Umfeld der Familie insbesondere in den ersten Jahren des Exils entdeckt. Außerdem hat kaum jemand die Lübecker Perspektive so konsequent eingenommen wie er. Lübeck war der kleinste Teilstaat im Deutschen Reich. Bis Ende des Ersten Weltkrieges nicht wirklich demokratisch, sondern von einer patriarchalischen Oberschicht geprägt.
Wißkirchen will Heinrich aus dem Schatten Thomas Manns lösen. Heinrich war der Wegweiser. Er erkämpft die Abwendung der Brüder von der kaufmännischen Familientradition und aus dem Bürgertum. Geboren wurde er 1871 als Sohn eines Lübecker Kaufmanns und Senators für Wirtschaft und Finanzen. Heute entspräche die Position des Vaters der des Ministers eines der kleineren Bundesländer. Heinrich Mann gab sich früh als Außenseiter, der die Schule vor dem Abschluss verließ, herumvagabundierte und Schriftsteller wurde. Bald fiel er durch sexuell explizite, italienisch angehauchte Novellen auf.
Wißkirchens Kernthese: „Am Anfang der literarischen Karriere der Brüder Mann stand das Sexuelle, genauer: eine Sexualität, die nicht der bürgerlichen Norm um 1900 entsprach.“ Wißkirchen stellt das für beide Brüder stärker heraus als bisherige Wissenschaftler. Das Rotlichtmilieu Lübecks und Berlins kannte schon der junge Schüler Heinrich früh aus eigener Anschauung. Er wurde obsessiv. Immer wieder gibt es „Exzesse seines Sexuallebens“, die in Literatur umgewandelt werden. Heinrich Mann war ein ausgemachter Erotomane, suchte auch als berühmter Romancier die Nähe zu Frauen aus der Halbwelt. Im Schreibtisch von Heinrich schließlich fand sich nach seinem Tod ein Stapel erotischer bis pornographischer Zeichnungen, von eigener Hand gefertigt, „mit dicken, nackten Weibern“, wie Thomas Mann leicht indigniert notierte.
Dessen Außenseitertum war anderer Art. Thomas war Homoerotiker. Und er war es nicht nur zeitweise, weder nur in der jugendlichen Phase sexueller Unsicherheit, wie die Literaturwissenschaft eine Zeitlang glaubte, noch nur in der Phase des Alters. Nein, er war es sein Leben lang und im Denken so gut wie ausschließlich. Denn auch das macht Wißkirchen deutlich: Thomas Mann hat seine Sexualität ein Leben lang als Schwäche, Krankheit, Versagen empfunden; nur „Keuschheit“, nahezu vollkommenes Entsagen schien ihm der einzig erträgliche Umgang mit der eigenen Natur. Und der Schriftstellerberuf mit all seinen Verzichten und Entbehrungen war die Antwort, die seine Veranlagung rigoros verlangte. Homoerotische Aspekte kennzeichnen vor allem die Erzählung Tod in Venedig, doch durchziehen sie – wie Wißkirchen zeigt – weite Teile des Werks.
Nicht nur sexuell, auch politisch lassen sich Differenzen feststellen: Heinrich war in der Weimarer Republik der Inbegriff des demokratischen Intellektuellen, nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als Präsident der Akademie der Künste. Der jüngere Thomas war zunächst pro Kaiserreich, während der ältere Bruder sich früh für die Demokratie eingesetzt hat. Heinrich war dann nicht in der Lage, die Gefahren des Stalinismus richtig einzuschätzen. Thomas Mann dagegen ist ein gutes Beispiel dafür, dass man vom romantisch geprägten, raunenden Nicht-Demokraten zum klaren Verteidiger der Republik werden kann. Später bezeichnete er sich mit Selbstironie – und zugleich mit Recht – als „eine Art Wanderredner der Demokratie“.
Die 30er Jahre sind vom Exil in Frankreich, der Schweiz und Spanien geprägt. Thomas hatte – sehr vorrausschauend – die Hälfte des Nobelpreisgeldes schon 1930 in der Schweiz angelegt. Heinrich musste vom Ertrag seiner Feder leben und schrieb etwa 400 Artikel sowie zwei Romane. Beide Brüder sind sich früh über die Gefahr einig, die vom Nationalsozialismus ausgeht. Sie halten Kontakt, wenn auch distanziert. Dann die Ausreise in die USA. Erst Thomas. Er holt Heinrich nach. Im amerikanischen Exil war es Thomas, der den zunehmend erfolg- und mittellosen Heinrich finanziell unterstützt hat. Mit dieser Doppelbiografie hat Hans Wißkirchen seine Position als einer der wichtigsten Mann-Forscher bestätigt. Wer sie gelesen hat und sich dann die Werke der Gebrüder Mann noch einmal vornimmt, sieht vieles in anderen Zusammenhängen. Was Thomas Mann über Musils Mann ohne Eigenschaften bemerkte, gilt auch für Zeit der Magier: Es ist ein „funkelndes Buch, das zwischen Essay und epischem Lustspiel sich in gewagter und reizender Schwebe hält“ – ein großer Wurf!
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