Arno Schmidt glaubt an den bösen Gott

Hendrike Witt analysiert umsichtig die Bibel-Zitate in Schmidts Frühwerk

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hendrike Witts Studie Arno Schmidt und die Heilige Schrift behandelt die Auseinandersetzung Arno Schmidts (1914–1979) mit dem Christentum unter besonderer Berücksichtigung seiner direkten und indirekten Bibelzitate. Ausführlich besprochen werden fünf Erzählungen, von dem 1946 entstandenen Leviathan bis zu Kaff auch Mare Crisium von 1959/60. Einführende Abschnitte informieren über die Rolle der Bibel in der Literatur allgemein sowie über die Theorie der Intertextualität und ihre verschiedenen Konzepte. Weiterhin legt ein Kapitel über Schmidt und Heinrich Böll Gemeinsamkeiten und Gegensätze der beiden Nachkriegsautoren dar. Diese Teile des Buches ordnen Schmidts Positionen historisch ein.

Sowohl die Religion als auch die Literatur sind große Systeme der Weltdeutung, doch seit dem 19. Jahrhundert wird das Weltdeutungssystem Religion zurückgedrängt: Die Literatur wird, um es abschätzig zu sagen, zur Ersatzreligion. Sie wird aber auch frei, sie muss nicht mehr die Welt deuten, sondern darf auch die Undeutbarkeit der Welt erörtern und kann mit religiösen Gedanken und Begriffen kritisch, fragend und sprachspielerisch umgehen – sogar „provokativ, sarkastisch, anklagend“, wie die Autorin im Blick auf Schmidt schreibt. Tatsächlich schätzt Schmidt die Sprache der Bibel und ihre Metaphorik. In der Faun-Erzählung beschreibt er seine Vorlieben mit biblischem Gestus: „Kunstwerke; Naturschönheit; Reine Wissenschaften. In dieser heiligen Trinität.“

In der Kriegsheimkehrer-Erzählung Brand’s Haide erscheint mehrfach dieses Zitat aus der Schöpfungsgeschichte: „Und siehe: es war Alles gut!“, was zumeist ironisch gemeint ist, doch einmal auch, spontan angesichts schönen Herbstlaubes, zustimmend. Das feierliche Wort ebenfalls aus der Genesis „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag“ wird zu: „So ward aus Morgen und Abend der erste Tag“, einer Aussage über das irdisch-banale Sichabrackern. Es fallen Wendungen wie „Gott bewahre“, „God bless her“, und der Ich-Held sagt über sich selbst als Teil der Schöpfung: „das Meisterstück des Demiurgen angeblich – na, ich bins nicht.“ Schmidt ist, das zeigt die Studie, kein Atheist, auch wenn er sich gelegentlich so bezeichnet hat; im Brief an Karlheinz Deschner vom 21. September 1956 (Witt zitiert die Stelle) attestierte er sich einen „religiösen Atheismus“. Vielmehr hält er es für möglich, dass ein Schöpfergott existiert, der freilich kein guter Gott ist, sondern ein „bösartiger“, ein „Halbirrer“.

Im Weltanschaulichen ausführlicher ist die Erzählung Leviathan oder die beste der Welten. Berichtet werden die Kriegserlebnisse einer Gruppe von Menschen, die unter Bomben- und Kugelhagel hoffnungslos in einem Bahnwaggon festsitzen, wobei der Kommentar des Ich-Erzählers den philosophischen Hintergrund liefert, der sich an Arthur Schopenhauer anlehnt: Die Welt ist eine Welt des Leidens, sie wurde geschaffen vom Leviathan, einem im Alten Testament auftretenden Monster, wobei schließlich die Welt mit diesem Leviathan identisch ist. Auf den 20 Seiten dieser Erzählung, stellt Witt fest, treten acht Bibelzitate auf, und zwar als Sarkasmen („Wir sind gerichtet!“), als poetisch-ironische Verzerrungen (ein im eisigen Wind sterbendes Kind blüht „wie eine Rose“) oder auch als ehrlicher Ausruf eines ergebenen Gläubigen („Der Name des Herrn sei gelobt!“). In solcher Ergebenheit sieht der Erzähler menschliche Dummheit, ja Verworfenheit: Dieses „Pack“, hat es „denn nie daran gedacht, daß Gott der Schuldige sein könnte?“ Das Resümee: Erkenntnistheoretisch bietet das Christentum nichts, sein Machtapparat Kirche aber sorgt für „jahrhundertelangen geistigen Terror“.

Die Erzählung Aus dem Leben eines Fauns ist der Bericht des Verwaltungsangestellten Düring, der, als Reaktion auf den Zeitgeist von 1939, ein Doppelleben führt. In Anspielung auf das Matthäusevangelium fällt der Satz „Christus? : hat sich selbst kastriert!“, außerdem kommt die Sexualfeindlichkeit des Christentums zur Sprache. Genau an dieser Stelle hätte die Autorin, die noch viele weitere Bibelanspielungen im Faun behandelt, weitergehen können: Beispielsweise in Bezug auf die Passagen, die beschreiben, wie Dürings Hoden untersucht werden und er in der Hamburger Kunsthalle das Bildnis der biblischen Gestalt Maria Magdalena entdeckt, die, so sein Eindruck, ihn erwartet. Er fantasiert sich nicht nur in die Rolle des Gottes Faun hinein, sondern sogar in die eines (sehr menschlichen) Christus.

An anderer Stelle geht die Autorin auf im Text erwähnte Bilder ein. So erörtert sie beispielsweise eingehend die Dorfkirchen-Szene in Kaff auch Mare Crisium, in der Kirchengemälde betrachtet und auch bewundert werden. Schmidts Personen würdigen sogar jene „Kunst, die Verehrung für den Glauben zeigt“. Interessanterweise ist Schmidt in der Kaff-Erzählung, in der er erzähltechnisch neue experimentelle Wege geht – auch diese beschreibt Witt –, in religiösen Fragen toleranter und weniger rabiat als in den bisherigen Werken. „Wenn es 1 Gott gibt?: zumindest hat er die Übersicht verlorn“, lässt er in aller Gelassenheit eine lebenserfahrene Frau sagen. Dieselbe Gelassenheit zeigt Schmidt schon früher in privaten Briefen. Gegenüber Heinrich Böll erklärt er 1956, an Diskussionen ganz desinteressiert, es gebe nun einmal „von Natur aus religiöse Menschen“.

Hier lässt sich nur andeutungsweise die Fülle der Arno-Schmidt-Zitate samt ihren von der Autorin herausgearbeiteten Querverbindungen und sozialen und weltanschaulichen Aspekten nachzeichnen. Der Stil der Studie ist klar, auch bei komplizierten Argumentationen. Allerdings stören sprachliche Irrtümer wie „der Kraken“ (für: Krake) und „er schaffte“ (für: schuf). Hendrike Witt ist eine gute Bibelkennerin und zugleich eine scharf beobachtende Literaturwissenschaftlerin. Letzteres zeigt sich, wenn sie die Theorie der Intertextualität heranzieht und Schmidts Bibelerwähnungen sorgfältig kategorisiert, und vor allem dort, wo sie mit ihren Bibelstellen-Nachweisen die poetische Kraft Schmidts demonstriert: Dieser lässt im Leviathan den Weltenschöpfer zum Hitlerjungen sagen: „Du bist mein lieber Sohn …“ – kann man das Kaputtsein der Welt eindrucksvoller ausdrücken? Dieter Stündel hat in seinem bekannten Register zu Zettels Traum (1974) viele Bibelstellen aufgezeigt, Heinrich Fischer hat in Band 23 der Reihe Zettelkasten (2004) Schmidts letztes Werk Julia diesbezüglich durchleuchtet, mit Arno Schmidt und die Heilige Schrift liegt eine gelungene Weiterführung der Bibelstellen-Studien über Schmidts wichtigste Frühwerke vor.

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Hendrike Witt: Arno Schmidt und die Heilige Schrift. Bibelrezeption und Religionskritik im Frühwerk.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2018.
241 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783849812942

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