Spielarten weiblicher Resignation

Sascha Wittmann erzählt in „Alles Alltag“ Kurzgeschichten voller Bitternis, aber auch von beherzten Ausbrüchen und Hoffnung

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die meisten der 40 Texte der österreichischen Autorin Sascha Wittmann sind eher Kurzgeschichten als Erzählungen. Keiner ist länger als sieben Seiten, manche könnten als „flash fiction“ durchgehen. Die psychische und soziale Situation, meist von Frauen, wird treffsicher, anschaulich und sprachlich souverän geschildert. Manche Momentaufnahme löst keine Handlung aus, sondern wird nur durch weitere Details ergänzt. Wo aber etwas geschieht, gerät der Alltag ins Taumeln.

Für ihren Roman Wie ich berühmt wurde hatte die Autorin eine grandiose Idee: Ein Maler wurde nicht durch seine Bilder berühmt, sondern durch eine Schlägerei bei der Vernissage. Ähnlich scharfe Pointen finden sich in zwei Geschichten, denen es nicht an dramatischer Handlung mangelt.

Im ersten Absatz von Tainted Love ist unvermittelt von Polizeifotos die Rede, ein spannungsfördernder Aufhänger. Die Ich-Erzählerin blickt auf ihre Leitungsfunktion im Behindertenbereich zurück, wo sie auf die Seite des Bösen wechselte. Die Kollegen waren für sie Waschlappen. Auf Events wollte sie einen richtigen Mann kennenlernen. Dann erbte sie ein Häuschen im Weinviertel. Dort gab es Bernhard, einen Winzer, der guten Wein machte. Nett, aber ein Bauer. Frank jedoch war Sachbuchautor für soziale Themen. Auf einer Weinverkostung bei Bernhard sprach sie ihn an. Die Reaktion: „Sie schon wieder? Verfolgen Sie mich jetzt schon in den letzten Winkel?“ Bernhard hatte plötzlich ein Gewehr in der Hand. Die Erzählerin stellte sich vor Frank. Bernhard traf sie, Frank und sich selbst: von unten durch den Schädel. Alles wird lakonisch erzählt: „Jetzt bringen sie uns weg. In getrennten Autos.“

A star is born: Zur Weihnachtszeit erwartet die Familie das zweite Kind. Emil kommt auf die Welt, und die große Schwester erzählt kindlich-naiv, wie sie vergeblich auf Geschenke wartet, weil Emil dauernd schreit. Sie will dem Christkind den Weg zeigen, mit brennenden Kerzen am Fenster. Ein fremder Mann reißt sie aus dem Bett. Der sieht aus wie ein Außerirdischer, mit Helm und Gesichtsmaske. Die Angehörigen sind wieder im Spital. Aber wann kommt das Christkind?

Und es war doch schön: Nein, nichts war schön. Mutter Martha ist pensioniert worden. Ihr Mann Günter ist weg, zu seiner Sekretärin – soll die sich anschauen, wie er immer fetter wird! Martha ist stolz auf ihre Tochter Ursula mit dem Spitzenjob als Eventmanagerin. In deren Tagebuch steht etwas von einer Therapie als Alkoholikerin. Schnell blättert Martha weiter zu einem Eintrag über den Muttertag. Da lud Ursula sie in ein Café ein, und alle Kolleginnen gratulierten Martha zur aufmerksamen Tochter. Was muss sie lesen? „Ich habe trotz Mutti wieder einen Tag geschafft.“ Und dass die sie auf die Palme bringt. Martha reißt Seite um Seite aus dem Tagebuch und verbrennt die Schnipsel.

Zahlreiche Texte handeln von der Bitternis weiblicher Resignation. Nachtschicht: Eine Frau kocht Marmelade aus Marillen. Christoph, fünf Jahre älter, schnarcht. Er bekennt sich in der Öffentlichkeit ungern zu ihr und schwärmt von einer Kollegin. Die Frau wird ihn verlassen, sobald die Marmelade fertig ist. Das Häuschen gehört ihr. Warum also nicht Christoph hinauswerfen, morgen? Der Mann hat auch seine guten Seiten. „Es würde weitergehen wie bisher. Irgendwann würde sie alt, hässlich und verbittert sein, und Christoph würde sie für eine Jüngere verlassen.“ 

Schöner fremder Mann: Eine junge Ausländerin verkauft sich als Ehefrau an einen ältlichen, aber wohlhabenden Mann in Österreich und kann ihr vor dem Zukünftigen verschwiegenes Kind nur noch alle zwei Monate bei der Oma besuchen.

Vielleicht diesmal: Eine verlassene Frau strukturiert die Tage anhand der Ratschläge ihres Therapeuten. Wichtig ist der Sonntag, da bäckt sie einen Marmorgugelhupf. Um drei kommt der Mann, der eine Neue hat, um seinen Lieblingskuchen zu essen.

Zurichtung: Ohne Personen und Handlung, ein Ratgeber für weibliche Resignation in einem geregelten und unauffälligen Leben mit wenig Kontakten und vorsichtigem Gebrauch des Internets. Vor allem darf man sich niemals verlieben!

Suburbia: Hier tarnt sich die Resignation als Trotz. Eine Frau beharrt gegenüber der skeptischen Freundin auf den angeblichen Vorteilen des Umzugs aufs Land, der sich als Fehlschlag erwiesen hat.

Hoffnung auf einen Ausbruch aus der Resignation gibt es bei beherztem Handeln. Um die Ecke: Katharina musste im Urlaub mit den Eltern um manche Ecke gehen, hin zu Sehenswürdigkeiten. Herumliegen am Strand kam nicht in Frage. Auch danach wurde ihr der Weg gewiesen: Gymnasium, Matura, Studium der Betriebswirtschaft. Nun soll sie Bernhard heiraten, der einen guten Job hat. „Aber um diese Ecke werde ich nicht mehr gehen.“ Eher schon nach Australien oder Südamerika.

Frühlingserwachen: Hannas Großvater ist gestorben, der einst in Prag westliche Bücher verteilt hatte und in Österreich unzufrieden mit der karriereversessenen jungen Generation war. Hanna wird an einer Demo gegen die Abschiebung einer tschetschenischen Familie teilnehmen und auf mögliche Nachteile für ihre gerade beginnende Karriere pfeifen.

Emily: Die kleine Emily wird zu den Großeltern verfrachtet, die Eltern brauchen Zeit für sich. Emily will fliehen, um mit dem Kindergarten ins „Haus des Meeres“ zu gehen. 

Dunkelgrün: Hier hat weibliche Aktivität paradoxe Folgen: Eine Green-Life-Aktivistin wird zu Schadenersatz und gemeinnütziger Arbeit in der Müllsammelbrigade verurteilt, weil sie den Restmüll der Nachbarn säuberlich getrennt und den stinkenden Haufen angezündet hat.

Unser großer Dichter: Die ehrenamtliche Leiterin eines Heimatmuseums will dessen Schließung verhindern. Sie sichert der Gemeinde gegen Bezahlung die Tagebücher des aus dem Ort stammenden Schriftstellers Gustav Leithner. Aus einem zu spät gelesenen Brief Leithners geht hervor, dass er nie über ein, zwei Einträge hinausgekommen ist.

Was man tun muss: Aktiv werden kann man auch auf kriminelle Art. Anna betreut ihre kranke Mutter und möchte lieber ihre Freizeit als Pensionärin genießen. Kein Ende ist abzusehen, es sei denn, es kommt zu einer Verwechslung bei den Tabletten.

Belanglose Fingerübungen gibt es auch. Zum Wohl: eine politische Ansprache mit hässlichem Binnen-Sternchen und noch hässlicheren Ideen für die Zwangsbeglückung des Volkes. Einsparung: Die Sommerzeit fragt sich, ob sie bei der nächsten Zeitumstellung noch an ihrem Platz sein wird.

Titelbild

Sascha Wittmann: Alles Alltag. Erzählungen.
Septime Verlag, Wien 2020.
216 Seiten , 19,40 EUR.
ISBN-13: 9783902711175

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