Biographie: Kein Spiel

Natascha Wodin erzählt in ihrem neuen Roman „Nastjas Tränen“ voller Empathie vom Schicksal einer Ukrainerin

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1992 lernt die gerade nach Berlin gezogene Natascha Wodin die Ukrainerin Nastja kennen. Schnell entwickelt sich aus dem Interesse für die Frau, die aus dem Land ihrer Mutter stammt und für Wodin wie für andere putzt, eine Freundschaft. Eigentlich Tiefbauingenieurin, haben die Wirren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Nastja in den Westen geführt, wo sie das Schicksal vieler osteuropäischer Frauen teilt. Um ihr eigenes und das Leben ihrer in der Ukraine zurückgebliebenen Familie, vor allem das des bei ihrem inzwischen wiederverheirateten Ex-Mann Roman zurückgebliebenen Enkels Slawa, zu sichern, arbeitet sie bei deutschen Familien als Haushaltshilfe. Die Nächte verbringt sie auf dem Sofa bei ihrer Schwester Tanja, die als Frau eines jüdischen Kontingentflüchtlings mit ihrer Familie vor Jahren bereits aus der Sowjetunion ausreisen durfte.

Auch Nastjas Ex-Mann ist Jude, hat aber, um in der Ukraine Karriere machen zu können, frühzeitig dafür gesorgt, dass diese allgemein als Makel empfundene Zugehörigkeit zu einem Volk, das sich immer wieder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sah, aus seinem Pass verschwand. Damit freilich nahm er sich und den Seinen auch die Möglichkeit, ihre Heimat jemals regulär Richtung Westen verlassen zu können. Auch Nastja selbst wird in Deutschland, als das Touristenvisum, das ihr für kurze Zeit den Aufenthalt erlaubte, unbemerkt von ihr abläuft, zur Illegalen. Sie benötigt jetzt umso dringender die Hilfe der Erzählerin, die diese ihr auch, von Nastjas Schicksal immer wieder an den tragischen Werdegang ihrer Mutter erinnert, bereitwillig zuteil werden lässt.

Nach den beiden die Biographien ihrer Eltern aufarbeitenden Romanen Sie kam aus Mariupol (2017) und Irgendwo in diesem Dunkel (2018) beschreibt Natascha Wodin in Nastjas Tränen erneut das Leben eines Menschen zwischen den Welten. Auch in Berlin gelingt es Nastja nie, zu einer anderen zu werden. Geprägt von ihrem früheren Leben in der Ukraine, verweigert sich ihr anfangs die deutsche Sprache und sie wird das Heimweh als alles dominierendes Grundgefühl nicht los. Ihr Alltag besteht aus Arbeit, Schlaf und wieder Arbeit. Nur manchmal kommt noch die Angst dazu – vor Behördengängen, Gesprächen, denen sie sich nicht gewachsen fühlt, der Ohnmacht des Ausgeliefertseins an ein fremdes Land, das sie nicht gut genug versteht. Allein in Literatur und Musik findet sie in den Nächten ein Schutz gebendes Zuhause.

Selbst die Hilfen, die ihr die Erzählerin gewährt, führen Nastja regelmäßig in Sackgassen. Der Betrug mit einer falschen Identität fliegt auf. Ein deutscher Ehemann ist zwar per Annonce schnell gefunden, erweist sich aber mit der Zeit mehr als Belastung denn als Hilfe. Und als sie schließlich dazu bereit ist, in die Ukraine zurückzukehren, um es noch einmal mit ihrem Ex-Mann, dessen zweite Frau inzwischen verstorben ist, zu versuchen, muss sie erfahren, dass sie mit dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft die ukrainische automatisch verloren hat und nun in Kiew vor genau demselben Problem steht wie bei ihrer Ankunft in Deutschland: Auch in der Heimat hat sie plötzlich nurmehr das Recht auf den Erwerb eines zeitlich befristeten Touristenvisums.

Rund um ihre zentrale Figur hat Natascha Wodin eine Reihe von Personen arrangiert, mit deren Lebensläufen sie zu illustrieren versucht, was der unbewältigte Konflikt zwischen Heimat und Fremde, Vertrautem und Unvertrautem, Heimweh und der Unmöglichkeit einer Rückkehr aus Menschen, die getrennt vom Land ihrer Herkunft leben müssen, bewirken kann. 

Dazu zählen Nastjas illegal in Holland lebende Tochter Vika, für die die Ukraine „ein verhasstes, ihr zutiefst fremdes und feinseliges Land“ war, dem man nur den Rücken kehren konnte, der einstige Kiewer Freund Andrej, dem das Unglück auch in der Fremde, in die er einst voller Hoffnungen gekommen war, nicht verschont, und ihre ältere Schwester Tanja, die als 16-Jährige zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde und nach ihrer Rückkehr als Nazi-Kollaborateurin geächtet wurde. Im Gegensatz zu deren berührenden Geschichten nimmt die absurde Episode um die Heirat Nastjas mit dem 58-jährigen Achim, der alles, was aus dem Osten kommt, hasst und Nastja in der Zeit ihrer Beziehung nur ausnutzt, vielleicht einen etwas zu großen Raum innerhalb des Buches ein.

Der eigentliche Grund jedenfalls, sich in Nastjas Geschichte verwickeln zu lassen  – und damit auch der Auslöser für Wodin, dem Leben dieser Zufallsbekanntschaft ein eigenes Buch, ihren achten Roman seit dem Beginn ihrer Karriere als Schriftstellerin mit der Erzählung Die gläserne Stadt (1983), zu widmen –, ist die Erinnerung an ihre „in Deutschland unwillkommen gewesene, immer von Abschiebung bedrohte Mutter“. Deren Schicksal als ukrainische Zwangsarbeiterin, die nach dem Kriegsende 1945 mit ihrem Mann und später zwei Töchtern als sogenannte „Displaced Person“ in verschiedenen Lagern untergebracht war und sich 1956, als die ältere der beiden Schwestern gerade einmal elf Jahre alt war, das Leben nahm, hat Wodin in ihrem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017 ausgezeichneten Roman Sie kam aus Mariupol beschrieben.

Dass das Kind der „arme[n], kleine[n], verrückt gewordene[n] Mutter“, wie es in diesem beeindruckenden Buch heißt, nicht aus deren Unglück herauszuhelfen vermochte, legte sich ein Leben lang als Schuldgefühl auf ihre Seele, ein Schuldgefühl, das nun, Anfang der 1990er Jahre, dazu führte, sich für die Ukrainerin Nastja zu engagieren: „Für sie [gemeint ist die Mutter – D.J.] hatte ich nichts tun können, ich war damals noch ein Kind, aber für Nastja konnte ich etwas tun, konnte es zumindest versuchen.“

Nastjas Tränen ist ein Roman mit vielen Facetten. Er beschreibt ein Emigrantenschicksal, wie es viele im heutigen Deutschland lebten und leben – immer an der Grenze zur Illegalität, voller Hoffnungen in die Fremde aufgebrochen und schnell enttäuscht angesichts der Realitäten des Lebens, die so gar nicht mit den Träumen übereinstimmen wollen, die sie aus der Heimat, die sie zunehmend vermissen, weggeführt haben.

Es ist aber auch ein Roman über ein sich nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus transformierendes Land und dessen zukünftige Hauptstadt Berlin. Gerade da sich alles eben erst neu ordnet, wird es Nastja und ihresgleichen ermöglicht, hier nahezu unbemerkt und kaum belästigt von den Behörden zu leben und für sich und die zuhause Zurückgebliebenen zu sorgen. Denn die haben es, nach mehr als einem halben Jahrhundert eines staatlich verordneten ‚Paradieses‘, das sie nie als solches empfanden, nicht so leicht wie die Ostdeutschen: „Man hatte sie alle einer Idee geopfert, der Idee vom neuen Menschen, zu dessen Erschaffung Millionen anderer aus dem Weg geräumt, in den Gulag verschleppt und ermordet werden mussten.“ Vor allem aber ist Nastjas Tränen – wie immer eigentlich bei dieser Autorin – auch ein Stück Autobiographie, literarisch ins Exemplarische gehoben.

Titelbild

Natascha Wodin: Nastjas Tränen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498002602

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