In Bayern lief manches anders

Literaturgeschichte – mit viel Tassilo und wenig Polt

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bayerische Literaturgeschichte von Klaus Wolf wird derzeit gut verkauft. Das scheint von Publikumsseite her zu bestätigen, was der Verfasser in seinem Vorwort, hier wohl eher mit Blick auf die Wissenschaft, so formuliert: „Eine bayerische Literaturgeschichte auf wissenschaftlichem Niveau, die sich gleichwohl auch an ein gebildetes Laienpublikum wendet, stellt ein Desiderat dar“. Von vornherein ist Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern an der Universität Augsburg, vollkommen bewusst, dass jegliches Unterfangen, die Literaturgeschichte einer Region „stilistisch und methodisch einheitlich“ darzustellen, ein per se nicht unproblematisches ist. Genau dies wird im Vorwort erörtert. Mit dem „Argument der Übersichtlichkeit“, wie immer man das verstehen darf, wird auf den „Einführungscharakter“ des Buches hingewiesen – folglich kann es nicht enzyklopädisch sein, sondern muss exemplarisch vorgehen. Mit dem bis heute maßgeblichen, 1987 von Albrecht Weber herausgegebenen Handbuch der Literatur in Bayern kann und will sich diese ihre Kapitel nach Jahrhunderten ordnende Einführung nicht messen.

Nicht ohne Absicht wurde die genaue Bezeichnung des Lehrstuhls von Klaus Wolf genannt. Denn in den damit angesprochenen Jahrhunderten kennt sich der Verfasser bestens aus; dass er zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gründlich geforscht und vielfach publiziert hat, merkt man seiner Literaturgeschichte an. Wobei Literaturgeschichte richtiger- und unvermeidlicherweise immer als Geistes- und Kulturgeschichte präsentiert wird, meist auch als Sozialgeschichte. 21 Seiten zur Literaturpolitik der Agilolfinger, nebst Würdigungen des Hildebrandslieds und des Kudrun-Epos! Danach elf Seiten zur althochdeutschen Literatur des 9. Jahrhunderts, wobei der Hinweis wertvoll ist, dass die auf karolingische Initiative entstandenen althochdeutschen Texte „primär dem besseren Verständnis der dogmatisch unanfechtbaren lateinischen Theologie dienen“. Im für Oberdeutschland katastrophalen Säkulum der Ungarneinfälle kommt die volkssprachliche Literatur kaum noch vor, auch das 11. Jahrhundert gibt nicht allzu viel her. Dann aber! Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, geistliche Dichtung aus Windberg, Tegernsee und Freising, die wegen ihres Leben Jesu „wohl als erste deutsche Dichterin“ hervorzuhebende Frau Ava, und vor allem: der Minnesang!  Hier muss eine auf Bayern konzentrierte Literaturgeschichte festhalten, „dass die frühesten Vertreter mittelhochdeutscher Minnelyrik ganz eindeutig als (sprachlich) bairische Dichter zu betrachten sind“. Weil hier, was bei Einführungen nicht unbedingt üblich ist, zahlreiche interessante Details erörtert werden, zum Beispiel die Bezüge zwischen donauländischem Minnesang und dem in und um Passau herum entstandenen Nibelungenlied, braucht das 12. Jahrhundert wiederum 21 Seiten. Dem großartigen Wolfram von Eschenbach mit Recht zur Seite gestellt wird der im Umkreis der frühen Wittelsbacher dichtende Neidhart von Reuental. Ausführlich gewürdigt wird natürlich das Nibelungenlied, und da das 13. Jahrhundert noch andere bedeutende Sprachkunstwerke hervorbrachte, zum Beispiel den mehr als 10.000 Verse umfassenden Artusroman Wigalois des Wirnt von Grafenberg oder die im Innviertel zu situierende Verserzählung Meier Helmbrecht, da fränkische Dichter wie Konrad von Würzburg oder Süßkind von Trimberg, auch schwäbische wie Ulrich von Thürheim nicht unerwähnt bleiben dürfen und die Gesänge der Carmina Burana erklärungsbedürftig sind, wird auch dieses Kapitel lang und immer länger. Natürlich ist es für das hochkulturell unterfütterte Selbstbewusstsein der Region nicht unerheblich, dass die Kanzlei Ludwigs des Bayern im 14. Jahrhundert „keinen kleineren Beitrag zur Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache“ geleistet haben soll als die Prager Kanzlei Karls IV., und natürlich sollen die wenig bekannten mystischen Prosawerke von Christina Ebner oder Adelheid Langmann nicht unter den Tisch fallen. Hans von Schiltberg mit seinen ethnologischen Studien und seinen Aussagen über den Islam gehört wie Johannes von Indersdorf oder Johannes Hartlieb ins 15. Jahrhundert, der Historiker, Maler und Hofdichter Ulrich Fuetrer ebenfalls und die frühen Nürnberger Fastnachtspiele auch, und so sind wir zu Beginn des Reformationszeitalters bereits in der Mitte des Buches.

Wie zögerlich sich der Humanismus im Bayernland und an der Universität Ingolstadt durchgesetzt hat, wie sich der Kampf der Konfessionen seit 1517 auch in Oberdeutschland literarisch niederschlug, was die Bayerische Chronik des Aventinus und der 1509 in Augsburg gedruckte Prosaroman Fortunatus auch für spätere Zeiten bedeutet hat, was es mit Nürnberg und Hans Sachs auf sich hat – Klaus Wolf ist zu Hause in der Frühen Neuzeit, und deshalb muss er auch steile Thesen nicht scheuen. Zum Beispiel bezeichnet er die immer noch sehr verbreitete Vorstellung, die Lutherbibel habe die Weiterentwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache bewirkt, ganz schlicht als „Mär“ – den „literaturgeschichtlichen Ertrag von Reformation und Gegenreformation“ solle man auch für Bayern „weitaus nüchterner als bislang betrachten“. Die leider kaum noch gelesenen Nürnberger Barockpoeten – Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj, Sigmund von Birken und andere – kommen zu ihrem Recht, wobei immer zu bedenken sei: „Die Schäferidylle an der Pegnitz ist nur vor dem Hintergrund der Kriegsgräuel wirklich verständlich“. Ihnen gegenübergestellt wird die prunkvolle kulturelle Begleitung der Gegenreformation: das Werk von Jacob Balde, das Wirken des Abraham a Sancta Clara oder die Passionsspiele des 17. Jahrhunderts. Die literarische  Aufklärung sei, vor allem in Altbayern, „nicht unwesentlich als geistlich-klerikale Initiative zu verstehen“, heißt es im Kapitel über das 18. Jahrhundert – in der jüngeren Forschung zum Werk von Lorenz Westenrieder oder dem des „schwäbischen Cicero“ Sebastian Sailer ist genau das im Detail herausgearbeitet worden. In Franken gab es aber auch eine durchgehend protestantisch geprägte Aufklärung, es gab den Ansbacher Rokokolyriker Johann Peter Uz und den Roman Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich, den der Coburger Moritz August von Thümmel geschrieben hat und von dessen Verkaufszahlen Goethe und Schiller nur träumen konnten.

Zum literarisch ertragreichen 18. Jahrhundert hätte man sich noch mehr und noch Genaueres gewünscht – hier jedoch, und auch in den noch folgenden Kapiteln, macht es sich Klaus Wolf ein bisschen zu leicht. Kann man die Vielfalt bayerischer Literatur im 19. Jahrhundert wirklich von den Regenten des Landes her sortieren? Hier Ludwig I. und Ludwig II. und ihre sehr unterschiedlich akzentuierte „romantische Kunstauffassung“, dort Maximilian II. mit seiner Sympathie für die „fortschrittsoffenen Künstler“? Immerhin werden der zu Unrecht vergessene Reiseschriftsteller Ludwig Steub, Johann Andreas Schmeller und sein unverzichtbares Bayerischen Wörterbuch sowie die fränkischen Ausnahmepoeten Jean Paul und Friedrich Rückert gebührend gewürdigt, und dass das 19. Jahrhundert auch eine „Hochzeit der Mundartdichtung“ war, kommt ebenfalls nicht zu kurz. Zu kurz jedoch kommen, um nur einige Beispiele zu nennen, der Lyriker August von Platen, Michael Georg Conrad und sein einer Neuentdeckung harrendes Opus Was die Isar rauscht, Deutschlands erster Literaturnobelpreisträger Paul Heyse und die der Krokodil-Gruppe angehörigen Poeten, der aus Bad Kissingen stammende Oskar Panizza oder der so gesellschaftskritisch wie elegant schreibende Ur-Münchner Josef Ruederer. Das 20. Jahrhundert wird zwar ausführlich dargestellt, mehr als klug arrangiertes Namedropping findet man aber selten. Wer wissen will, worin eigentlich die Bedeutung des Werks von Frank Wedekind oder Thomas Mann besteht, was Rainer Maria Rilke und Stefan George – abgesehen von zeitweiligen Aufenthalten dort – überhaupt mit Bayern zu tun haben, warum Revolution und Räterepublik so intensiv von Literaten geprägt waren oder weshalb der Schwabing-Mythos munter weiterlebt, der muss zu anderen Büchern greifen.

Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, Oskar Maria Graf, Ödön von Horváth und viele andere – sie alle kommen vor, aber oft zu kurz und zu oberflächlich. Dafür erfährt man literarhistorisch weitaus weniger Wichtiges, wohl aus früheren Arbeiten des Verfassers Hervorgegangenes – etwa zum „Renouveau Catholique als europäische Bewegung in Schwaben“ oder zu den „Münchner Turmschreibern“. Die sozial und politisch kritische neue Mundartliteratur der 1970er-Jahre wird knapp gewürdigt, dem im Untertitel genannten Gerhard Polt sind nur ein paar nichtssagende Zeilen gewidmet. Jenseits des Diskutablen ist die knappe Seite über die sogenannte interkulturelle Literatur in Bayern, auf der der aus Teheran stammende, seit 1965 in München lebende großartige SAID ebensowenig vorkommt wie der Ausnahmepoet Cyrus Atabay oder der Eichstätter Schriftsteller und Übersetzer Akos Doma. Die moderne Lyrik aus Bayern wird eher namenreich abgearbeitet – dass es zwischen den bedeutenden Werken von Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger oder Reiner Kunze einerseits und den Versen von Godehard Schramm oder Anton G. Leitner andererseits gravierende Qualitätsunterschiede gibt, geht aus Klaus Wolfs Überblick nicht unbedingt hervor. Nichts gegen Anna Wimschneider, Manfred Böckl oder Tanja Kinkel, nichts gegen den Schwäbischen Jedermann von Hermann Pfeifer oder den Bayerischen Jedermann von Oskar Weber, und auch nichts gegen Erweiterungen des genuin Literarischen in Richtung Musik oder Film! Aber angesichts von Literaten wie Wolfgang Koeppen, Tankred Dorst oder Carl Amery wird man festhalten müssen: Im 20. Jahrhundert stimmen die Proportionen und Gewichtungen nicht mehr so ganz, und damit verliert das im Großen und Ganzen durchaus imposante Buch dann doch einiges an Relevanz.

Aus den zweieinhalb das Opus abschließenden Seiten – ihnen folgen noch etwas spärliche Literaturhinweise und ein Register – spricht der Stolz des Autors. Klaus Wolf meint nachgewiesen zu haben, „dass sich Bayern literaturgeschichtlich auf Augenhöhe mindestens mit Österreich oder der Schweiz befindet“. So what? Was das wohl bedeutet? Kann und soll man mit Literaturgeschichten Länderspiele bestreiten? Klaus Wolf ist sich auch ganz sicher, dass man seinem Werk Berechtigung und Notwendigkeit, ja Unausweichlichkeit nicht wirklich absprechen könne. Sein resümierender Schlusssatz lautet: „Bayern kann und konnte es auch allein, wobei das andere Bayern als gesellschaftskritische literarische Potenz immer schon präsent war“. Nichts gegen ein gesundes Selbstbewusstsein – aber ein bisschen klingt’s am Ende dann doch wie das zur Genüge bekannte, immer auch etwas protzige „mia san mia“.

Titelbild

Klaus Wolf: Bayerische Literaturgeschichte. Von Tassilo bis Gerhard Polt.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
368 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406721144

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