Eine literarische Stimme, die fehlt

Vor zehn Jahren starb die Autorin Christa Wolf – nun erscheinen „Sämtliche Essays und Reden“ aus fünfzig Jahren

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sie die Nachricht, dass sie den Thomas-Mann-Preis bekommen würde, erhielt, bescherte es ihr einen „Thomas-Mann-Sommer“, d. h. „ausschweifende“ Thomas-Mann-Lektüre und Erinnerungen an frühere Leseerlebnisse, von der kleinen Erzählung Schwere Stunde bis hin zu Doktor Faustus. In Marseille versuchte sie herauszufinden, welches der inzwischen umbenannten Restaurants das Café war, das in Anna Seghersʼ Roman Transit als „Mont Vertoux“ eine bedeutende Rolle für den Ich-Erzähler spielt. Und das kleine blaue Buch mit Goethes Gedichten, das sie 1946 von einer Lehrerin geschenkt bekommen hatte, begleitete sie ihr ganzes Leben.

Keine Frage: Die Autorin Christa Wolf war eine passionierte Leserin, die Literatur ernst nahm, ihr existenzielle Bedeutung zusprach, weil Literatur „das Subjektwerden des Menschen unterstützt“ und für sie selbst pure Lebensnotwendigkeit darstellte. Dass Christa Wolf jedoch auch eine großartige Literaturvermittlerin war, zählt zu den schönsten Entdeckungen, die  Sämtliche Essays und Reden nun bieten. Die sensible und kenntnisreiche Annäherung an die Werke ihrer Kolleg:innen – von der (Wieder-)Entdeckung der Karoline von Günderrode über Georg Büchner, Max Frisch oder Anna Seghers bis hin zu Ulla Berkéwicz –, die feinen Beobachtungen, die empathische Lektüre, das jeweilige Werk umkreisend und für sich selbst sprechen lassend, wecken nicht nur das Interesse an den derart porträtierten Autor:innen, sondern lassen stets auch Christa Wolf als Schriftstellerin deutlich werden, die im inneren Dialog mit ihren Kolleg:innen ihre eigenen Themen reflektiert. Der Ursprung der Beiträge ist dabei denkbar verschieden: Auftragsarbeiten, Preisreden, Laudationes oder auch in den späteren Jahren immer mehr Nachrufe. Doch stets nutzt Christa Wolf die Gelegenheit, wie die Herausgeberin der dreibändigen Ausgabe Sonja Hilzinger in ihrem Nachwort in Hinblick auf die Preisreden betont, „sich neugierig und nach Berührungspunkten suchend auf den Menschen und sein Werk einzulassen oder es neu zu entdecken, lesend und schreibend“.

Wolfs Essays und Reden aus fast fünfzig Jahren – 1961 bis 2010 – hat die Germanistin, eine ausgewiesene Christa-Wolf-Kennerin (zuletzt erschien von ihr hierzu das Buch Christa und Gerhard Wolf: Gemeinsam gelebte Zeit), in chronologischer Reihenfolge zusammengetragen. Textbasis sind die entsprechenden Bände der von Hilzinger ebenfalls herausgegebenen 12-bändigen Werkausgabe, die zu Wolfs 70. Geburtstag erschienen ist; mit enthalten sind Wolfs spätere Texte aus den beiden Büchern Der Worte Adernetz (2006) und Rede, daß ich dich sehe (2012). Das Ergebnis ist eine Sammlung von Texten, die nicht nur die Autorin Christa Wolf und ihre Poetik bzw. deren Entwicklung und Veränderung sichtbar machen, sondern auch die Zeitgenossin Wolf und ihr politisches und gesellschaftliches Engagement zunächst in der DDR und später der Bundesrepublik.

Besonders die Beiträge im zweiten Essay-Band Wider den Schlaf der Vernunft, die auch die Zeit von Wende und Wiedervereinigung umfassen, sind nicht zuletzt von historischer Bedeutung, allen voran der Aufruf Für unser Land, in dem Wolf Ende November 1989 noch mit anderen Intellektuellen für einen eigenständigen zweiten deutschen Staat neben der Bundesrepublik eingetreten ist, oder ihre Rede Sprache der Wende bei einer Großdemonstration in Berlin kurz vor dem Mauerfall. Und wer weiß noch, dass 1991 eine Gruppe von Ost- und Westdeutschen begann, an einem Entwurf für eine Verfassung des vereinten Deutschlands zu schreiben (ein Projekt, das sich 1993 selbst auflöste), oder für eine sehr kurze Zeit eine andere Nationalhymne – nämlich Brechts Kinderhymne aus dem Jahr 1950 – im Gespräch war? Christa Wolf erinnert sich in ihrer Rede Abschied von Phantomen. Zur Sache: Deutschland 1994 an dieses kleine Zeitfenster der Möglichkeiten und verschenkten Chancen und sieht sich zugleich bei ihrem Aufenthalt in Los Angeles angesichts der Meldungen von brennenden Asylbewerber:innenheimen in Deutschland vor einer neuen Herausforderung:

Noch nie zuvor hatte ich Rede und Antwort stehen müssen für Verbrechen, die in dem neuen, großen, vereinigten Deutschland geschahen, das mich samt dem ganzen ärmeren deutschen Staat zu sich hereingeholt hatte und für das ich mich nicht verantwortlich fühlte. Von einer Sekunde zur anderen hatte ich jetzt die Verantwortung zu übernehmen für die Untaten in Rostock und für die in Mölln […] und hatte dafür einzustehen, dass ihre Brutalität nicht in einem neuen deutschen Chauvinismus münden würde. […] Sie jedenfalls, sagte eine junge Jüdin nach der Veranstaltung: Sie würde jetzt nicht nach Deutschland fahren.

Es gehört zu den nachdenklichen Teilen der Lektüre, dass viele gerade der zeit- und zivilisationskritischen Aussagen Wolfs kaum etwas an Aktualität eingebüßt haben. Bis hin zu den großen Fragen des Überlebenswillens der Menschheit, wenn die Autorin bereits 1968 in ihrem programmatischen Essay Lesen und Schreiben zu folgendem Fazit kommt:

Um einen innersten Verdacht auszusprechen: Vielleicht liegt den Menschen, die heute da sind, nicht wirklich – oder nicht genug – daran, als Gattung zu überleben; vielleicht genügt ihnen die Aussicht auf ein relativ ungestörtes Dasein für die eigene Lebensdauer?

Wer würde diesem Verdacht heute, angesichts der zahllosen, letztlich im Ergebnis fast folgenlosen Klima-Gipfel widersprechen wollen? Oder wer könnte nicht die Liste nahtlos fortsetzen, die sie in ihrer Rede Nachdenken über den blinden Fleck 2007 auf dem Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Berlin nennt:

Unsere blinden Flecke, davon bin ich überzeugt, sind direkt verantwortlich für die wüsten Flecken auf unserem Planeten. Auschwitz. Der Archipel Gulag. Coventry/Dresden. Tschernobyl. Der Mauerstreifen zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Die entlaubten Wälder Vietnams. Die zerstörten Türme des World Trade Centers in New York. […] Wir doktern an einzelnen Symptomen herum, indem wir Gelder hin und her schieben, hauptsächlich aber, indem wir Machtinstrumente verstärken, um der Gewalt mit Gewalt zu begegnen.

Christa Wolf wurde dennoch nie müde, sich schreibend einzumischen und zu engagieren, wie nicht nur ihr Werk bezeugt, von den Anfängen mit dem DDR-kritischen Nachdenken über Christa T. über das trojanische Untergangsepos Kassandra bis hin zur Sündenbock-Thematik in Medea. Stimmen. Auch ihre Essays und Reden zeigen eine couragierte Schriftstellerin und ihre Entwicklung von der DDR-loyalen Debütantin hin zur selbstbewussten aufklärerischen Autorin, die die jeweiligen Gesellschaften kritisch hinterfragt. Kaum eine Autorin hat sich in die zeitgenössischen Debatten so stark eingemischt – und selbst Debatten ausgelöst, man denke nur an den „deutsch-deutschen Literaturstreit“ nach der Publikation ihrer Erzählung Was bleibt 1990. Und dies, obwohl Christa Wolf selbst eine ihrer größten Kritiker:innen war, wie zum Beispiel ihr Text Über Sinn und Unsinn von Naivität beweist, in dem sie sich nach der Wiederlektüre ihres Erstlingswerks Moskauer Novelle bestürzt fragt: „Wie kann man mit fast dreißig Jahren, neun Jahre nach der Mitte dieses Jahrhunderts […], etwas derart Traktathaftes schreiben?“ Und sie fragt dies nicht nur, sondern spürt konsequent den eigenen Schreib-Mechanismen nach wie auch einer von ihr konstatierten „Spät-Reife“ ihrer Generation – ein für die Autorin charakteristischer „Selbstverständigungsversuch“.

Jeder Band der Essay-Ausgabe enthält neben kurzen, aber hilfreichen editorischen Notizen zu den einzelnen Beiträgen Wolfs auch jeweils ein Nachwort der Herausgeberin, die ihre Ausführungen nach Themen-Schwerpunkten bündelt, von den poetologischen Reflexionen über die kritische Zeitgenossin bis hin zum „Dialog“ und der Auseinandersetzung mit Kolleg:innen (und auch gestaltenden Künstler:innen). Allein die kenntnisreichen Ausführungen Hilzingers machen die Essays und Reden zu einem „Must have“ für alle Leser:innen, die sich mit Christa Wolf näher beschäftigen möchten. Schade ist allein, dass die Gespräche, die in den früheren Essay-Bänden (u. a. der zweibändigen Luchterhand-Ausgabe Die Dimension des Autors) auch enthalten waren, hier fehlen, zumal Hilzinger selbst auf deren Bedeutung hinweist, wenn sie Wolfs Aussage aus dem Gespräch mit Hans Kaufmann 1973 hervorhebt, dass für Wolf kein grundsätzlicher Unterschied bestehe zwischen ihrer Prosa und ihrer Essayistik, denn deren gemeinsame Wurzel sei „Erfahrung, die zu bewältigen ist […]“.

Die Texte Wolfs selbst – unter anderem sind auch die Frankfurter Poetikvorlesungen inklusive der fünften Vorlesung, der Arbeitsfassung der Erzählung Kassandra, abgedruckt (in Band 2: Wider den Schlaf der Vernunft) – zeigen einmal mehr eindrucksvoll, was von Christa Wolf auch zehn Jahre nach ihrem Tod am 1. Dezember 2011 bleibt – und was schmerzlich fehlt.

Titelbild

Christa Wolf: Sämtliche Essays und Reden. 3 Bde.
Hg. von Sonja Hilzinger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
1800 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783518471609

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