Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben

Iris Wolff erkundet in „Die Unschärfe der Welt“ mit poetischer Leichtigkeit die Grenzen des Versteh- und Erkennbaren

Von Pascal MathéusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pascal Mathéus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie wird man einem Menschen, einem Leben gerecht? Wie bekommt man eine Persönlichkeit, eine Psyche, ein Bewusstsein mit den Mitteln der Sprache in den Griff? Vollständig ist das, wie jeder leicht einsehen kann, überhaupt nicht möglich. Und dennoch liegt darin eines der tiefsten Anliegen von Literatur: den Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln verstehbar zu machen.

Iris Wolff hat aus der Not eine Tugend gemacht. Statt sich die Perspektive ihrer Hauptfigur anzuverwandeln, statt sie in den Mittelpunkt der Erzählung zu stellen oder etwa gar gleich aus ihrer Ich-Perspektive zu schreiben, lässt sie Samuel von anderen umkreisen. Durch die Augen seiner Mutter, seines Vaters, seiner Großmutter, seiner ersten Liebe, zweier Freunde und seiner Tochter bekommt ihn der Leser in den Blick, präsentiert sich sein Leben gleichzeitig umfassend und fragmentarisch und am Ende steht er einem dennoch ganz klar vor Augen.

Wie in den meisten ihrer bisherigen erzählerischen Veröffentlichungen, spielt auch der neue Roman von Iris Wolff überwiegend im Banat. Samuel wird einige Jahre vor dem Zusammenbruch des Ostblocks geboren, flieht noch davor mit einem Freund in den Westen und lebt am Ende des Romans mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter in Deutschland. Er erscheint dabei als einer, der durch die Raster der gesellschaftlichen Vorstellungen fällt, der nie einen richtigen Beruf ausübt, jedermann aber als ein „guter Gesprächspartner“ zur Verfügung steht, weil er sein Sprechen und Denken an der Wirklichkeit orientiert, statt sich opportunistisch zu verbiegen. Loyal steht er seinem Freund bei der Flucht vor der Securitate bei, genauso wie er sich nach dem Fall des Ceaușescu-Regimes zu seiner Tochter bekennt, von der er einige Jahre nichts wusste.

Obwohl Samuel deutlich erkennbar als Hauptfigur konzipiert ist, erhält auch jede der anderen Figuren, aus deren Sicht Wolff die Kapitel geschrieben hat, einen unverwechselbaren Charakter. Jede ringt auf ihre Weise mit der Unschärfe der Welt. Die eine bringt sie zum Schweigen, den anderen treibt sie zur Flucht, die dritte beschließt, sie als Zauberkünstlerin zu bändigen und zu verwandeln. Sie hadern mit der Differenz zwischen den Worten und der Welt, zweifeln diejenigen sprachlichen und symbolischen Wirklichkeiten an, die nur dazu da sind, Menschen zu drangsalieren, und üben sich im Widerstand durch einen eigensinnigen Sprachgebrauch. Samuel tritt etwa als Spitznamengeber in Erscheinung, der den so Benannten neue Deutungsmöglichkeiten ihrer selbst und damit ein Stück Befreiung ermöglicht. Andere stürzen sich in die tröstliche Ordnung der Bücher, die in der sprachlichen Bewältigung der Welt liegt. Doch zeigt das traurige Schicksal des Büchermenschen Oz, dass man sich nicht allein darauf verlassen sollte. Dass einen Realitätsflucht meistens irgendwann einholt.

„Sprache konnte nicht mehr sein als ein Anlauf zum Sprung“, heißt es an einer Stelle. Die Differenz bleibt bestehen, kann nur überwunden werden von dem, der sich den Absprung traut. Es liegt eine herrliche poetische Paradoxie in der Anlage dieses Buchs, das die Grenzen der Sprache präzise beschreibt, aber dennoch nichts anderes bieten kann, als immer wieder neue Versuche, die Welt zu versprachlichen. 

Zusätzlichen Charme und Glaubwürdigkeit erhält der Roman durch die detailreichen Beschreibungen der donauschwäbischen Lebenswelten, in denen sich ein Großteil der Handlung abspielt. Indem Wolff Einblicke in die Köpfe und Häuser von Angehörigen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gewährt, setzt sich das vielfarbige Bild dieser besonderen gesellschaftlichen Konstellation zusammen. Der Gedanken- und Bildreichtum, der sich aus der einzigartigen rumänisch-deutsch-slowakischen Sprachmischung ergibt, lässt sich erahnen, wenn Wolff von Zeit zu Zeit eine lokalkolorierte Wendung einstreut, wie etwa in Großmutter Karlines Kommentar zum Wohnort von Samuels Eltern: „Dass ihr in die letzte Ecke der Welt ziehen musstet, hierher, wo der Teufel seinen Hut verloren hat.“

Die Unschärfe der Welt ist ein eminent poetischer Roman, der die ganze Klaviatur der sinnlichen und gedanklichen Erfahrungen ausspielt und gleichzeitig von politischer und historischer Wirklichkeit durchdrungen ist. Nimmt man noch die überaus originelle Erzählweise hinzu, kann man kaum glauben, wie leicht sich das trotzdem alles liest, wie vollkommen dieser kurze Roman gelungen ist.

Titelbild

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020.
216 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783608983265

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